Bauwelt

Forschungszentrum


Platten und Pop


Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin


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    Foto: Markus Bredt

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Freude am Experimentieren, ohne die konzeptionelle Bindung und Sorgfalt im Detail aufzugeben: Behles & Jochimsen haben es geschafft, ihren siegreichen Wettbewerbsentwurf von 2003 für das Biomedizinische Forschungszentrum der Justus-Liebig-Universität Gießen über acht Jahre und mehrfaches Umplanen hinweg reifen zu lassen.
Den Text zu einem Neubau in einer aus Sicht des Autors abgelegenen Stadt mit dem Taxifahrer beginnen zu lassen, der den Kritiker zum Objekt der Anschauung gefahren hat, ist ein so beliebter wie abgenutzter Auftakt. Das letzte Mal habe ich vor zwölf Jahren zu einem solchen Zitat gegriffen, nach einem Besuch im westfälischen Soest, wo es ein Gebäude von Nicholas Grimshaw unter die Lupe zu nehmen galt (Bauwelt 16.1999). So, wie sich jener Fahrer seinerzeit auf die Zielangabe „schwebende Blechbüchse“ hin sogleich orientiert zeigte, so wusste auch dieser gleich Bescheid, als zur Adresse die Beschreibung „bunt gekurvter Neubau“ fiel. Den Gießener Taxifahrern ist das neue Biomedizinische Forschungszentrum (BMFZ) der Justus-Liebig-Universität also schon ein Begriff, obwohl sie noch nicht viele Fahrten hierher haben verbuchen können, ist doch erst ein kleiner Teil des Gebäudes in Gebrauch genommen. Aber nicht nur in einer Umgebung wie dieser, die mit ambitionierter zeitgenössischer Architektur nicht eben gesegnet ist, dürfte der Bau der Berliner Architekten Behles & Jochimsen Aufsehen erregen. Das Projekt zeigt von der schwingenden Gestalt über die kräftige Farbgebung seines Äußeren bis hin zu Grundriss und Schnitt einige Abweichungen von den Geläufigkeiten der Institutsarchitektur – Abweichungen, die sich vielleicht am ehesten ein so junges Büro zutraut, wie es Behles & Jochimsen im Jahr des Wettbewerbs waren.
Seit den ersten Skizzen für den Neubau im Südwesten der Stadt sind über acht Jahre vergangen. In der ersten Phase des europaweit offenen Wettbewerbs waren 254 Entwürfen eingereicht worden; für 31 Teilnehmer folgte Phase zwei, und die fünf von der Jury unter Vorsitz von Matthias Sauerbruch bestplatzierten Büros durften sich dann noch in eine als VOF-Verfahren deklarierte Überarbeitung stürzen, die dem Sieger immerhin die Beauftragung sicherte. Und dennoch: Selbst als Behles & Jochimsen den Zuschlag erhalten hatten, sollte noch längst nicht feststehen, dass ihr Entwurf auch realisiert werden würde – die Privatisierung und Fusion der Universitätskliniken von Gießen und Marburg stellte zwischenzeitlich den Bedarf für den Neubau in Frage. 
Umgedeutet: die städtebauliche Situation
Das nach vier Jahren Bauzeit einschließlich zwischenzeitlichem Baustopp in diesem Sommer fertiggestellte, 92,5 Millionen Euro teure Projekt ist eine Maßnahme des Investitionsprogramms für die Hochschulen des Landes Hessen („Heureka“) und der erste größere Neubau der Universität seit rund zehn Jahren. Die letzte bedeutende Wachstumsphase datiert bereits vier Jahrzehnte zurück und wird in der Nachbarschaft anschaulich: Roh wirkende Geschossbauten stehen da, mit Bandfassaden aus hellbraunem Waschbeton und dunkelbraunem Aluminium. Bereits der Umgang mit dieser Situation ließ den Entwurf von Behles & Jochimsen aus der Konkurrenz hervorstechen. Das dreieckige Areal, für dessen Neuordnung der Wettbewerb einen städtebaulichen Ideenteil enthielt, grenzt an eine heterogene Umgebung, ist selbst aber auch disparat bebaut. Die besagten Zweckbauten der letzten Universitätsbauwelle und barackenartige Behelfsbauten stehen beziehungslos verteilt; in der Mitte liegt der Hubschrauberlandeplatz des im Norden angrenzenden Uni-Klinikums. Im Osten und Westen blickt man auf Einfamilienhäuser und weitere Universitätsgebäude, im Süden auf ein Luftwaffenlazarett aus den 1930er Jahren, in dem heute ein  Finanzamt untergebracht ist. Einziges Struktur gebendes Element ist die Paul-Meimberg-Straße, eine Campus-Achse samt unterirdischer Versorgungsstraße für Klinik und Universität.
Diese Achse hat Behles & Jochimsen – im Gegensatz zu anderen Teilnehmern des Wettbewerbs – wenig gekümmert. Anstatt auch den BMFZ-Neubau an die Erschließungsstraße zu rücken, orientierten sie den Neubau zur städtebaulich prominentesten Ecke des Geländes, zur Kreuzung von Aulweg und Schubertstraße. Auf diese Weise gewannen sie freien Raum in der Mitte des Geländes; Platz für einen landschaftlich zu gestaltenden Aufenthaltsort, wenn erst der Hubschrauberlandeplatz, wie damals bereits geplant war, auf das Dach der neuen Chirurgie umgezogen sein würde.
Aus dieser Disposition resultieren die wesentlichen Elemente des Entwurfs: vier der insgesamt fünf „Finger“, welche den Vorplatz im Westen und den Grünraum im Osten fassen; die langgestreckte, gebäudehohe Halle, die die beiden dort angeordneten Eingänge miteinander verbindet; schließlich auch der fünfte Finger, welcher die Gebäudefigur zum Aulweg hin komplettiert und der in Nord-Süd-Richtung die Halle querenden Wegeverbindung zwischen Klinik und Parkplatz Halt gibt. Mit dieser Form wird das Bauvolumen auf einen für die Umgebung verträglichen Maßstab gebracht, ohne eine Kleinteiligkeit vorzutäuschen, die dem Anspruch der Universität nicht gerecht würde. Was zunächst als „freie“ Form wirkt und an eine Amöbe denken lässt, also ikonographisch aus der Funktion heraus motiviert erscheint, erweist sich bei näherem Hinsehen als mindestens ebenso städtebaulich motiviert: als ein „autonomer Körper und zugleich sich einfügender Stadtbaustein“, wie die Architekten formulieren.
In diesem Punkt ist der in netzbasierten Architekturforen gelegentlich gezogene Vergleich des BMFZ mit Sauerbruch & Huttons Neubau für die Sparkasse Oberhausen (Wettbewerb 2004, Fertigstellung 2008), der das alte Stadtzentrum in eine „Parkstadt“ umdeuten will, aufschlussreich: Er zeigt, das sich mit einer auf den ersten Blick ähnlichen Grundrisskonzeption durchaus gegensätzliche Ziele verfolgen lassen.
Fünf bunte Finger
Die Farbigkeit des Äußeren legt es nahe – in jedem „Finger“ wird ein Institut untergebracht. Gemeinsam teilen diese sich die halböffentliche Halle als Erschließungs-, Veranstaltungs- und Begegnungsraum und die in ihren Erdgeschossen untergebrachten Bereiche: den großen und kleinen Hörsaal, Seminarräume und Praktikumslabore, CIP-Cluster und Cafeteria. Die Öffnung dieser Räume zur Halle soll das Leben an der Universität inszenieren, bedingt aber die Bereitschaft der Nutzer, sich beim Forschen und Lehren zuschauen zu lassen.
In den Obergeschossen können Institutsräume mit größerer Besucherfrequenz – Sekretariat, Besprechungsräume, aber auch bestimmte Büros – zur Halle hin angeordnet werden, während die Labore und Büros, die einer höheren Sicherheitsstufe unterliegen, in den „Fingerspitzen“ Platz finden. Dabei ermöglichen die Konstruktion des Gebäudes, sein dreibündiger Grundriss und das einheitliche Raummodul eine flexible Aufteilung: Die tragend ausgeführte Flurlängswand macht Stützen überflüssig, und da die Raumhöhe einheitlich ist und auch die Haustechnik durchläuft, können in dem „Raumband“ hinter der Fassade, mit überschaubarem Umbauaufwand, je nach Bedarf Labore wie Büros eingerichtet werden. Diese Offenheit hat sich bereits bewährt: Da sich die Belegung im Verlauf der langen Planungs- und Realisierungszeit geändert hat, konnte neuen Nutzerwünschen entsprochen werden.
Neben der funktionalen Elastizität überrascht das Innere aber auch mit einer Bandbreite von Raumstimmungen: Aus der großen Halle mit ihren Brüstungsblechen aus polierten Aluminiumwellen, die die technische Ästhetik des Streamline-Design der 1930er Jahre beschwören, gelangt man im Erdgeschoss in die räumlich auf die Geometrie der Außenkontur bezogenen Vorräume. Diese werden von unterschiedlichen Pastelltönen geprägt, mit denen sie im unteren Bereich gestrichen sind; oberhalb der zu Sternen arrangierten Leuchtstoffröhren, die ein dem wissenschaftlichen Arbeiten angemessen kaltes Licht spenden, verdüstert sich der Raum aber sogleich in die unüberschaubaren Verzweigungen der sichtbaren Haustechnik und in den nackten Beton dahinter.



Fakten
Architekten Behles & Jochimsen, Berlin
Adresse Ludwigstraße 23, 35390 Gießen


aus Bauwelt 37.2011
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