Bauwelt

Geschwisterstädte – eine imaginäre Athengeografie in Zeiten der documenta

Die documenta 14 hat Athen und Kassel für einen Sommer zu Geschwistern gemacht, zu ziemlich ungleichen, möchte man ergänzen. Doch überhaupt scheint es, als ließe sich mit kulturellen Paarbildungen besonders anschaulich beschreiben, was Athen ausmacht. Eine solche Erzählung beginnt vielleicht mit mythischen Zwillingen, streift die Bedeutung der Familie für die Stadt in der Krise und führt über Leo von Klenze und Otto von Griechenland zur heutigen Rolle einer politisch engagierten Kunst

Text: Dona, Sofia, Athen/München

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    Der Tourkovounia-Hügel im Nordosten von Athen diente lange Jahre als Steinbruch. Handwerker von der Insel Lesbos, die in den 1940er Jahren in die griechische Hauptstadt kamen, bauten sich am Fuße des Hügels ihre bis heute bestehende informelle Wohnsiedlung. Die Aufnahmen sind Stills aus einem Film des Fotografen über den Tourkovounia
    Foto: Yannis Papayannakis

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    Der Tourkovounia-Hügel im Nordosten von Athen diente lange Jahre als Steinbruch. Handwerker von der Insel Lesbos, die in den 1940er Jahren in die griechische Hauptstadt kamen, bauten sich am Fuße des Hügels ihre bis heute bestehende informelle Wohnsiedlung. Die Aufnahmen sind Stills aus einem Film des Fotografen über den Tourkovounia

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    Athen und das attische Becken von Osten. Ganz links am Meer sind die Kräne des Hafens von Piräus zu sehen. Etwas unterhalb der Mittellinie des Bildes liegen in ­einer Reihe (v.l.n.r.) der Akropolis-Felsen, der grüne Stadtberg Lykabettos und der Tourkovounia-Hügel
    Foto: Yannis Papayannakis

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    Athen und das attische Becken von Osten. Ganz links am Meer sind die Kräne des Hafens von Piräus zu sehen. Etwas unterhalb der Mittellinie des Bildes liegen in ­einer Reihe (v.l.n.r.) der Akropolis-Felsen, der grüne Stadtberg Lykabettos und der Tourkovounia-Hügel

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    Könnte fast überall in Athen sein – die dichte Struktur aus Apartmenthäusern (Polykatoikia) hat sich über die ganze Stadt ausgebreitet
    Foto: Yannis Papayannakis

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    Könnte fast überall in Athen sein – die dichte Struktur aus Apartmenthäusern (Polykatoikia) hat sich über die ganze Stadt ausgebreitet

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    Die „Polykatoika“ ist die griechische Umsetzung von Le Corbusiers „Dom-ino“: ein Stalhbetonskelett mit Treppenhaus und Aufzugsschacht, ...
    Foto: Yannis Papayannakis

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    Die „Polykatoika“ ist die griechische Umsetzung von Le Corbusiers „Dom-ino“: ein Stalhbetonskelett mit Treppenhaus und Aufzugsschacht, ...

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    ... das sich flexibel aus- und umbauen ...
    Foto: Yannis Papayannakis

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    ... das sich flexibel aus- und umbauen ...

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    ... und scheinbar endlos in die ­Höhe erweitern lässt.
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    ... und scheinbar endlos in die ­Höhe erweitern lässt.

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    Kaum ein Haus in der Innenstadt, auf dem es nicht eine (manchmal öffentliche oder wenigstens halböffentliche) Dachterrasse geben würde
    Foto: Yannis Papayannakis

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    Blick aus der Fix-Brauerei – heute das Museum für Zeitgenössische Kunst (EMST) – in Richtung der abgerissenen Gebäudehälfte
    Foto: Yannis Papayannakis

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    Blick aus der Fix-Brauerei – heute das Museum für Zeitgenössische Kunst (EMST) – in Richtung der abgerissenen Gebäudehälfte

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    Das Konservatorium wurde nie ganz fertiggestellt. Das Sockelgeschoss ist als documenta-Standort erstmals öffentlich zugänglich
    Foto: Yannis Papayannakis

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    Das Konservatorium wurde nie ganz fertiggestellt. Das Sockelgeschoss ist als documenta-Standort erstmals öffentlich zugänglich

    Foto: Yannis Papayannakis

Geschwisterstädte – eine imaginäre Athengeografie in Zeiten der documenta

Die documenta 14 hat Athen und Kassel für einen Sommer zu Geschwistern gemacht, zu ziemlich ungleichen, möchte man ergänzen. Doch überhaupt scheint es, als ließe sich mit kulturellen Paarbildungen besonders anschaulich beschreiben, was Athen ausmacht. Eine solche Erzählung beginnt vielleicht mit mythischen Zwillingen, streift die Bedeutung der Familie für die Stadt in der Krise und führt über Leo von Klenze und Otto von Griechenland zur heutigen Rolle einer politisch engagierten Kunst

Text: Dona, Sofia, Athen/München

Nach der griechischen Mythologie flieht Helle gemeinsam mit ihrem Zwillingsbruder Phrixos auf dem Rücken eines goldenen Widders aus Böotien, dem Königreich ihres Vaters. Ihr Ziel ist Kolchis, das heutige Georgien. Während ihrer metaphora, ihrer Flucht von einem Ort zum anderen, stürzt Helle in ein Gewässer im Nordwesten der Türkei: den Hellespont, das „Meer der Helle“. Diese Meerenge mit dem alten Namen ist Teil einer Grenze, die die Kontinente Europa und Asien trennt. Die geografische Bezeichnung als Hellespont aber nimmt diese Trennung in gewisser Weise zurück, stellt eine symbolische Verbindung von West und Ost her und verschwistert die Länder Böotien und Kolchis.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Konzept der Städtepartnerschaft entwickelt, um Brücken über die Gräben des Krieges zu schlagen, um kulturelle und wirtschaftliche Bande zwischen geografisch und politisch unterschiedlichen Gegenden wieder oder neu zu knüpfen – nicht ­allein zwischen Städten, auch zwischen Landkreisen, Oblasten, Bezirken, Provinzen, Regionen und Ländern. Partner- oder Schwesterstädte entstanden als Ausdruck einer rechtlichen oder gesellschaftlichen Übereinkunft, aber auch um Beziehungen zu stärken und ein gegenseitiges Verständnis zwischen Städten mit ähnlicher Vergangenheit aufzubauen: Coventry und Stalingrad als Opfer von Kriegsereignissen, Leipzig und Hannover als Standorte wichtiger Messen; zwischen Städten gleichen Namens: Toledo/Ohio und Toledo/Spanien; oder zwischen Städten, die eine gemeinsame Grenze besaßen: San Diego und Tijuana. 1973, mitten im Kalten Krieg, kam es zu der ersten Verschwisterung einer sowjetischen mit einer amerikanischen Stadt: Taschkent und Seattle. Noch kurz vor dem Fall der Berliner Mauer wurden einige westdeutsche Städte mit ihren ostdeutschen Pendants verschwistert, so etwa Aachen mit Naumburg (1988).
Diese Verpartnerungen sind zunächst formelle Angelegenheiten, sie ­erlauben dann aber interessante geografische Vergleiche und die Vor­stellung von einer Verlagerung von Land und Leuten. Im Fall von Mitilini auf Lesbos und Berlin wurde eine Insel zur Schwester einer Metropole (griechisch für „Mutterstadt“) – eine ganz besondere Art von Verwandtschaft und morphologischer Gegenüberstellung. Aber schließlich wurde West-Berlin selbst ja auch als eine Insel inmitten der DDR wahrgenommen.
Informelle Verbindungen, die vergleichende Geografien entstehen lassen, werden allerorten und in allen Ländern geknüpft: Im „Klein-Paris“ oder im „Venedig des ...“ wird eine Stadt zum Paradigma, werden symbolische und ästhetische Wertvorstellungen weitergetragen – und damit natürlich auch Stereotypen. Nicht nur durch die Verlagerung von Orten, sondern auch durch die Vertreibung von Menschen lassen sich Verbindungen zwischen unterschiedlichen Städten herstellen: Die deutschen Exilanten und die „Pazifische Presse“ in Los Angeles machen dann aus der zweitgrößten Stadt der USA einen Zufluchtsort der Kultur, eine Reproduktion von „Weimar am Pazifik“.
In Athen sind es zwei Erhebungen in der Stadt, die die imaginäre Verlagerung von Land und Menschen am besten verkörpern: der Akropolis-Hügel und der Tourkovounia-Hügel. Sie repräsentieren die Inseln Anafi und Lesbos und erzählen Geschichten vom Bau der Stadt. Die besten Handwerker beider Inseln ließen sich auf diesen beiden Hügeln der Hauptstadt nieder: die Handwerker aus Anafi, um das neoklassische Athen des 19. Jahrhunderts zu bauen, jene aus Lesbos, um das moderne Athen mit seinen mehrgeschossigen Wohnungsbauten der 1940er Jahre zu errichten. Nebenher bauten beide Gruppen ihre eigenen illegalen Siedlungen auf den Hügeln – quasi ein paralleler Städtebau. So ist Anafiotika eine gewachsene informelle Siedlung kykladischer Architektur, wie man sie auf Inseln wie Anafi findet, am Fuße der Akropolis in den Nächten von den eingewanderten anafiotischen Handwerkern erbaut. Im Ergebnis dieses doppelten Prozesses sind gleichzeitig zwei Typologien in der Stadt entstanden: neoklassische und kykladische Architektur, im Wechsel von Tag und Nacht.
Die zweite Siedlung, die die Handwerker aus Lesbos auf dem Tourkovounia-Hügel gegenüber der Akropolis bauten, ist informeller. Dieser Hügel war Teil der gigantischen „Baumaschine“ von Athen, was sowohl die Arbeitskraft wie den Felsen selbst betrifft, der der Stadt über lange Jahre als Steinbruch diente und damit beständig auch seine eigene Morphologie veränderte. Die beiden Siedlungen auf den „Hügelinseln“ Athens sind noch heute Teil der Architektur der Stadt und bereit, sich gegen ihre drohende Zerstörung zur Wehr zu setzen. Bedenkt man den besonderen rechtlichen Status der Siedlungen – irgendwo zwischen „zum Abriss freigegeben“ und „denkmalgeschützt“ –, können diese Hügel als extraterritoriale Inseln in der Stadt gesehen werden. Es gibt ein Gesetz, das den Tourkovounia-Hügel schützt, indem es ihn zu einer geologischen Fortsetzung des Pindosgebirges im Norden Griechenlands erklärt. Auf diese Weise erschafft es ein doppeltes Bild dieses Stadtbergs von Athen: als Insel im Ägäischen Meer und als Teil des gebirgigen Festlands.
Die Stadt Athen hatte zu keiner Zeit eine deutsche Schwester. Partnerschaften zwischen griechischen und deutschen Städten indessen hat es viele gegeben, mehr als ein Drittel davon in Bayern – was nicht überrascht, wenn wir an Otto von Bayern denken, den ersten König des modernen Griechenlands, und an seine Ankunft in Nafplio, der Schwesterstadt von Ottobrunn. Auch wenn der erste neuzeitliche städtebauliche Plan der Stadt Athen aus der Hand bayerischer Architekten stammte – dieses berühmte unvollendete Dreieck – so war selbst die begleitende Debatte um den Standort von Ottos Palast in seiner Stellung zum Parthenon letztlich nicht ausreichend, eine Verschwisterung von München und Athen zustande zu bringen. Auch die strenge neoklassizistische Architektur mit ihren schmalen Balkonen, die damals antrat, das alte athenische Haus mit seinem belebten Innenhof zu verdrängen, vermochte das nicht. Gleichwohl sind die neoklassizistischen Häuser bis heute in der Vorstellung der Athener die traditionelle Architektur der Stadt; der Verlust dieser bedeutenden Typologie ist verbunden mit dem späteren Aufkommen des dann vorherrschenden mehrgeschossigen Wohngebäudes (polykatoikia).
Auch wenn die griechische Hauptstadt keine offizielle deutsche Schwester hat: Athen und Kassel wurden von Adam Szymczyk, dem künstlerischen Leider der documenta 14, kulturell verschwistert. In seiner Begründung führt Szymczyk unter anderem an, dass beide Städte sich an Kreuzungen zwischen Ost und West befänden: Kassel an der Grenze zwischen dem früheren Ost- und Westdeutschland, Athen geografisch wie historisch Ost und West zugleich verbindend und voneinander abgrenzend. Diese kulturelle Paarbildung erzeugt eine besondere Art von Übereinkunft zwischen den beiden Städten, die weniger mit einer rechtlichen Bindung zu tun hat, sondern schon eher an eine Blutsbrüderschaft denken lässt. Diese Brüderschaft aktiviert Athen und Kassel durch eine Reihe von Kunstprojekten, ortsbezogene Interventionen, die nicht nur die jeweiligen Besonderheiten bedenken, sondern auch die Verbindungen zwischen ihnen reflektieren müssen. Diese große Ausstellung formt beide Städte, natürlich verschieden im Ausmaß, und wird von beiden wieder selbst geformt. Seit 1955 transformiert sich in einem 5-Jahres-Rhythmus die Stadt Kassel mit ihren 200.000 Einwohnern in einen Ort, der von der Kunst überwältigt wird. Auf der anderen Seite hat die griechische Metropole – und mit ihr die vier Millionen Einwohner – jetzt ein einziges Mal die Gelegenheit, sich diese ganze Breite an künstlerischen Interventionen in ihre Räume und Geschichten einzuverleiben, sie gegebenenfalls zu verstecken, sich mit ihnen zu messen.
Im Auftrag der documenta 14 sind die verschiedensten Kunstprojekte, Events, Aktionen und Installationen nach Athen gekommen – in öffentliche Institutionen und private Einrichtungen, in bekannte Häuser und Institutionen und in anonyme Architektur – um dort mit den lokalen Interventionen, Besetzungen und Initiativen zu interagieren, die in den vergangenen zehn Jahren eine widerständige und kämpferische Stadt geschaffen haben.
Der 6. Stadtbezirk, in dem der Viktoria-Platz liegt, war einst ein typisches Quartier der Athener Mittelklasse und Oberschicht, das sich in den letzten Jahren aber rapide verändert hat. Zahlreiche leerstehende Gebäude, Wohnungen und Läden prägen heute das Bild des Viertels. Eine dieser Ladenfronten, in der Elpidos-Straße 13, beherbergt nun den documenta-Künstler Rick Lowe und sein „Viktoria-Platz-Projekt”. Lowe lud mehr als 20 Organisationen, die in der Nachbarschaft tätig sind, ein, mit ihm gemeinsam an der Revitalisierung des Quartiers zu arbeiten. Der Viktoria-Platz, heute ein lebendiger, multikultureller Platz, war 2015 Standort einer im­provisierten Notunterkunft für Flüchtlinge. Einige Häuserblocks entfernt, wurde das „City Plaza Hotel“ zu einer Flüchtlingsunterkunft und einem ­Gemeinschaftszentrum umgewandelt. Das besetzte Haus ist weithin bekannt als Ort, an dem Menschen in Not Unterstützung finden. Immer montags versammeln sich die Bewohner, wobei die Dinge, die zu besprechen und entscheiden sind, in drei oder mehr Sprachen übersetzt werden. Auf der anderen Seite des Viktoria-Platzes hatte die Besetzung des „Green Park“ im Juni 2015 ein altes Café mit einer Reihe künstlerischer und poli­tischer Interventionen wieder zum Leben erweckt.
Ein Stück weiter nördlich, nahe dem Amerikis-Platz, hat die Künstlerin Maria Eichhorn mit ihrem documenta-Beitrag „Building as unowned property“ die Umwandlung des neoklassizistischen Gebäudes Stavropoulou 15 aus seinem legalen Besitzstatus in den Status der Eigentumslosigkeit betrieben. Anhand dieser künstlerischen Arbeit lässt sich die Struktur der Stadt Athen ziemlich gut begreifen – ist sie doch wesentlich stärker das Produkt bestimmter Eigentumsregeln, Verordnungen und Vereinbarungen als das Ergebnis von typischen Werkzeugen des Städtebaus.
Das rechtlich-ökonomische Modell, das die Stadt prägt, heißt antiparochi. Es basiert auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit, einem Tauschmodell, das eine unmittelbare Zusammenarbeit von Land- oder Hausbesitzern mit Bauunternehmern erlaubt, ohne dass zwischen den beiden Parteien Geld fließt oder ein Kreditgeber hinzugezogen wird. Der Eigentümer überlässt einem Bauunternehmer sein (untergenutztes oder unbebautes) Grundstück, dieser bebaut es mit einem mehrgeschossigen Wohngebäude, und der Alteigentümer erhält als Gegenleistung für den überlassenen Boden zwei oder drei Wohnungen des Neubaus zur Eigennutzung oder zur Vermietung. Dieses System brachte das die Stadt prägende ubiquitäre Phänomen der polykatoikia hervor. Zwei rechtliche Bestimmungen kommen hier zusammen, die die Beziehungen zwischen Eigentümer und Raum ­definieren: das Gesetz der „unteilbaren Anteile“ oder der „gemeinschaftlichen Pacht“ und das Gesetz des „individuellen horizontalen Eigentums“.
Zu diesen juristischen Rahmenbedingen gesellen sich die starken Familienbande hinzu, was auf noch wesentlich komplexere Wohnverhältnisse hinausläuft, wie etwa Gebäude im Eigentum von mehr als 40 Verwandten oder vertikale Spielarten des Landhauses. In psychologischen Studien wird der Begriff „Syndrom der griechischen Familien-Polykatoikia“ verwendet, der Familien-Beziehungen mittels der Architektur eines Hauses beschreibt, in dem alle Stockwerke ausschließlich von Familienmitgliedern bewohnt werden.
In der gegenwärtigen Krise erweist sich diese komplexe Situation ­fragmentierten Individual-Eigentums in der Stadt als widerstandsfähiges Gewebe – widerstandsfähig gegenüber großen Investoren und der Spekulation. Interessant ist: Genau dieses Komplexitätsmodell, das eigentlich aus der Kombination von vielen Eigentümer und Verständigungsschwierigkeiten zwischen ihnen entstanden ist, wird auch in Deutschland und der Schweiz bei Wohnprojekten genutzt, die sich dem Kampf gegen die Gentrifizierung verschrieben haben. In diesem Sinne kann man die Dysfunk­tionalität des griechischen Vorbilds als ein allgemeingültiges Modell des Widerstands sehen, das es unmöglich macht, auf einen Schlag ganze Häuserblocks zu verkaufen – würde das doch die Zustimmung jedes ­einzelnen der zahlreichen Eigentümer voraussetzen.
Als Antwort auf den Neoliberalismus und als Fortsetzung des Leitbilds der „Funktionalen Stadt“ von 1933 könnte womöglich die „Dysfunktionale Stadt“ von Städten wie Athen ein neues Modell der Komplexität bieten, das zusammen mit einem taktischen Verhalten der Einwohner zu dem werden kann, was Michel de Certeau „kreativen Widerstand“ nennt. Zwei Projekte in Athen, „Akinito-Immobile“ und „Co-Hab Athens“, die von einheimischen Architekten, Künstlern, Anwälten, Stadtplanern und Wirtschaftsfachleuten initiiert wurden, haben schon in diese Richtung gearbeitet – nämlich Multi-Ownership als Shared Power zu verstehen – und neue Modelle von kollektiver Eigentümerschaft für die Stadt vorgeschlagen.
Außerhalb der eher kleinen, privaten Räume von Läden und Schaufenstern, Wohnungen und Häusern nutzt die documenta 14 für ihre Ausstellungen auch zwei bemerkenswerte Gebäude in öffentlicher Trägerschaft, in denen sich eine andere Geschichte von Architektur und Kunst in der Stadt verdichtet. An derselben Straßenachse und entlang der Spuren des alten Flusses Ilissos – der in der griechischen Mythologie von den neun Musen bewohnt wird, denen noch Sokrates und seine Schüler nachstellten – l­iegen das Konservatorium (Odeion) und das Nationale Museum für Zeit­genössische Kunst (EMST). Beide Gebäude stammen aus der Hand renommierter Architekten, und ihnen ist gemeinsam, dass sie in gewisser Weise architektonisch mehrdeutig sind.
Die alte Fix-Brauerei, die in das Museum für Zeitgenössische Kunst umgewandelt worden ist, war im Jahre 1893 von Johann Fix aus München gegründet und in den 1950er Jahren von Takis Zenetos neu gebaut worden. Zenetos hat damit eines der radikalsten Gebäude des International Style in Athen realisiert. Als 1994 das U-Bahn-Unternehmen Attika Metro plante, das Gebäude abzubrechen, demonstrierten Architekten unter der Parole „Fix the Fix“ gegen den Abriss. Der gefundene Kompromiss, nur 108 Meter des ursprünglich 198 Meter langen Gebäudes abzubrechen, hinterließ ein unproportioniertes Volumen mit einem emblematischen Schnitt an einer Seite des übriggebliebenen Hauses, der einfach offen blieb. Dieser Schnitt hielt die Erinnerung an die Verstümmelung des Gebäudes wach – und an den Umstand, dass es hier offenbar weniger um die Bewahrung eines Stücks bedeutender Architektur gegangen war, als vielmehr um die Rettung eines Verhandlungsergebnisses. Unglücklicherweise verlangte der Wettbewerb im Jahr 2002 zum Umbau des Hauses für das EMST nicht den Erhalt des offenen Gebäudeschnitts. Und so wurde er nun geschlossen.
Das Athener Konservatorium, entworfen 1959 von Jan Despo (loannis Despotopoulos), Bauhausschüler und Mitarbeiter von Walter Gropius, ist Teil eines nicht ausgeführten größeren Plans für ein Kulturzentrum. Es liegt neben dem Lykeion des Aristoteles, dem Ort, an dem die philosophische Schule der Peripatetiker gegründet wurde, die nach der Methode des Lehrens im Gehen („peripatoi“) benannt ist. Das Gebäude des Konservatoriums selbst blieb stellenweise unvollendet, so fehlen zum Beispiel große Teile der ursprünglich vorgesehenen Marmorverkleidung. Andererseits ­erlaubt gerade dieses Unvollendetsein den Besuchern der documenta nun die starke Erfahrung des nackten Betonraums des Amphitheaters, das für die eindrucksvolle Sound-und-Licht-Installation von Emeka Ogboh „The Way Earthly Things Are Going“ zum ersten Mal dem Publikum geöffnet wurde.
Das Konservatorium und die Konzerthalle „Megaron“, in der das Musik-Programm der documenta aufgeführt wird, liegen an derselben Straßenachse. Und beide beherbergten früher in ihren Räumen das Museum für Zeitgenössische Kunst (EMST), ehe es vor drei Jahren seine endgültige Bleibe in der ehemaligen Fix-Brauerei fand. Für das EMST wäre es vielleicht interessanter gewesen, das Konzept des nomadisierenden Museums weiter zu verfolgen, sich von verschiedenen Institutionen beherbergen zu lassen, von einem in das nächste Gebäude zu ziehen, dabei zwischen öffentlichen und privaten Räumen alternierend seine Stellung zur Stadt immer wieder neu verhandeln zu können und einen institutionell ­interdisziplinären Charakter zu etablieren. Auf diese Weise wäre es das wahre „Peripatetische Museum“ geworden – oder die Realisierung einer der roboterartigen Konstruktionen aus Ron Herrons Walking City, von der ihr Verfasser weiß, dass sie in der Lage wäre, „in der Stadt herumzuwandern und sich dort niederzulassen, wo ihre Ressourcen oder produktiven Fähigkeiten gerade gebraucht werden“.
In der zweiten Gastgeber-Stadt der documenta 14, in Kassel, präsentiert das griechische Museum für Zeitgenössische Kunst im Fridericianum einen Ausschnitt aus seiner Sammlung, im Gegenzug stellt es sein Stammhaus zur Verfügung, den Großteil der documenta-Ausstellung in Athen aufzunehmen. Vor dem größten Veranstaltungsort am Friedrichsplatz in Kassel ist eine Replik des Haupttempels auf der Akropolis, Marta Minujins Arbeit „The Parthenon of Books“, aufgebaut worden. Dieser Parthenon ist die Rekonstruktion des „El Partenón de libros“, den die Künstlerin 1983 in Argentinien unter Verwendung von Büchern realisierte, die unter der Militärjunta verboten waren. Der neue Parthenon, aus Anlass der kulturellen Verschwisterung von Athen und Kassel errichtet, erinnert an die Walhalla, das neoklassizistische Gebäude, das seinerseits nach dem Vorbild des Parthenon auf einem 98 Meter hohen Hügel über der Donau in der Nähe von Regensburg errichtet wurde. Der Architekt Leo von Klenze, von König Ludwig I. von Bayern beauftragt, die Walhalla auszuführen, hat übrigens auch die Zeremonie organisiert, die den Beginn der offiziellen Ausgrabungen und Restaurierungen auf der Akropolis in Athen markierte – im Beisein von Ludwigs Sohn, dem König von Griechenland, Otto von Bayern.
Aus dem Englischen: Michael Goj

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