Bauwelt

Zwei Städte, eine Geschichte

Text: Kil, Wolfgang, Berlin

Zwei Städte, eine Geschichte

Text: Kil, Wolfgang, Berlin

Heimliche Hauptstadt, Venedig des Nordens, Fenster nach Europa – die Stadt an der Newa weckt viele Assoziationen. Seit seiner Gründung hat Sankt Petersburg eine turbu­lente Geschichte erlebt, die aus den wechselnden Namen so klar abzulesen ist wie im Stadtraum. Hier existiert die historische Zarenstadt, seit 1990 Weltkulturerbe, friedlich neben den Bauten ihres Alter Ego, dem sowjetischen Leningrad. Dazu drängen sich im heutigen Sankt Petersburg die Auswüchse eines kapitalistischen Städtebaus, der die sozialen und gesellschaftlichen Probleme der Stadt negiert.
Russische Städte begnügen sich nicht mit einfachen Ortsschildern. Sie beauftragen Bildhauer, Kunstschlosser und Architek­ten mit phantasievoll symbolischen Kreationen, und je größer eine Kommune, desto monumentaler gerät in der Regel ihre Begrüßungsskulptur. Wer sich Sankt Petersburg vom Flughafen Pulkowo her nähert, wird entlang der Zubringerchaussee sogar zweimal begrüßt. Zuerst winkt der seit 1992 wieder geltende Namenszug der Newa-Stadt und kurz darauf noch ein zweiter: „Leningrad, gorod geroj“. Die „Heldenstadt“ aus sowjetischer Zeit.

Noch bevor man den Boden Sankt Petersburgs wirklich betreten hat, ist man so bereits mit einem seiner entscheidenden Wesenszüge konfrontiert: Russlands „Hauptstadt des Nordens“ hat ein Jahrhundert der extremen Brüche, Tragödien und Verwerfungen hinter sich. Und diese Geschichte wird nicht verdrängt. Wer die Stadt in den Jahren 1924 bis 1990 meint, spricht von Leningrad. Mit diesem Namen sind die prägenden Erfahrungen mehrerer Generationen umschrieben, ihre Sozialisation in Familie, Schule und Wohnkomplex, die Erinnerung an Stalins Repressalien, das Zurechtkommen mit den Herrschaftsallüren der Parteibürokratie. Besonders eindringlich darin aufgehoben ist der Zweite Weltkrieg, der hier vor allem das Trauma von 1941 bis 1944 bedeutet, die 900 Tage der deutschen Blockade, die eine Million Menschenleben forderte, die meisten verhungert oder erfroren.

Dagegen Sankt Petersburg – das meint zum einen die malerisch geplante Stadt, aber mehr noch die heute gern verklärte Lebenswelt der absoluten Monarchie vor 1914 (mit Kriegseintritt russifizierte Russland seine Hauptstadt, bis 1924 hieß sie Petrograd). Und Sankt Petersburg meint natürlich die Stadt von heute, für deren Rückbenennung 1991 eine knappe Mehrheit (54%) der Bewohner stimmte. Besucher aus Deutschland, wo die politisch korrekte Nennung von Orten in ehemals schlesischen oder ostpreußischen Landschaften notorisch Pro­bleme bereitet, könnten hier souveränen Umgang mit historischen Realitäten lernen. Natürlich wurden in den neunziger Jahren auch in Sankt Petersburg Straßen und Plätze umbe­nannt, so viel ideologischen Klärungs- und Reinigungsbedarf gab es wohl. Aber es gibt auch Konstanten, die den Systemwechsel unbeschadet überstanden haben, so dass man sich zu ihnen weiter bekennt – nicht zuletzt etwa jene tief gefühlte Rivalität gegenüber Moskau. Zu dem hat man an der Newa schon immer Abstand gesucht, nicht nur aus Neid auf verlorene Hauptstadtwürden, nein, aus Prinzip!

Da hat sich das Leitmotiv des Gründers durchgesetzt als ehernes Erbe: Ein „Fenster nach Europa“ wollte Peter I. seinem Riesenreich aufstoßen, strategisch und ökonomisch, vor allem aber kulturell. Und die Petersburger aller folgenden Generationen haben an dieser Vision festgehalten, sich an sie geklammert, aus ihr Kraft geschöpft. Ihre Paläste maßen sich an Versailles, ihre Brücken an den Kanälen Venedigs. Zweihundert Jahre lang gab es auf Kirchen nur Kuppeln, Zwiebeltürme waren nirgends erlaubt. (Als die 1883–1907 erbaute Gedächtniskirche für den ermordeten Alexander II. erstmals davon abwich, geriet sie zu einer historistischen Travestie, politisch war es schlicht eine reaktionäre Demonstration.) Da bis 1861 noch Leibeigenschaft herrschte, kam der Kapitalismus etwas verspätet ins Russische Reich. Er brachte nicht nur Hochseedampfer, riesige Werften, qualmende Fabriken und finstere Mietskasernen, sondern auch Schweizer Banken, englische Hotels, Pariser Luxuskaufhäuser. Befremdlich düster stemmte Peter Behrens seine kaiserlich-deutsche Botschaft (1911) gegen die Ausschweifungen des Jugendstils am Newski-Prospekt.

In sowjetischer Zeit, als die Regierungsmacht zurück ins Landesinnere wechselte, um unter Berufung auf ältere, vormoderne Traditionen alle Hoffnung namens „Europa“ abzuschütteln, sorgten die Leningrader erst recht dafür, dass Unterschiede zum Rest des Landes spürbar blieben – nicht nur anhand des unvergleichlichen Stadtbildes, sondern durch ihr gewandtes, aufgeschlossenes Wesen. Und durch ein Beharren auf gewissen Formen, auf Etikette und Distinktion. Selbst als 1980 das ferne Moskau seine Olympiade ausrichtete, schwärmten Reisende vom Newski-Prospekt als dem einzig wirklich urbanen Boulevard der Sowjetunion. Wer den verkehrswilden Straßenzug heute an einem halbwegs sonnigen Frühlingstag erlebt, mag sich unter all den aufwendig zurechtgemachten Passan­ten eher in südliche Gefilde versetzt fühlen als in die nördlichste Millionenstadt der Erde. 

Doch wie Globetrotter wissen: Wer nur Boston, Philadelphia oder New York gesehen hat, weiß noch nichts über die USA. Und Erfahrungen, die einem Sankt Petersburg beschert, lassen sich nur sehr eingeschränkt auf das Riesenreich dahinter übertragen. Gemessen an den kontinentalen Modernisierungshoffnungen Peters I. ist sein ab 1703 in die Sümpfe der Newa-Mündung gepflanztes „Tor nach Europa“ eine Insel geblieben.

Scharmützel der Intelligenzija

Wer in den zurückliegenden Jahren die verbissenen geschichtspolitischen Debatten in deutschen Städten verfolgt hat, dem wird in Petersburger Gesprächskreisen vieles vertraut vorkommen. Dort wird argumentiert und gestritten, als hätten die Auflösung der Sowjetunion, die Beendigung des sozialistischen Experiments, die Wiedereinführung von Marktgesetz und Kapitalmacht, die Aufkündigung so gut wie aller Koordinaten der Sowjetgesellschaft unter Inkaufnahme grausiger sozialer Verwerfungen – als hätte diese ganze epochale Wende keinem höheren Ziel gedient als der endlichen Rehabilitierung der alten, vorrevolutionären Stadt. Dabei waren die, inzwischen von der UNESCO nobilitierten, Zentrumsbereiche auch unter Stalin und dessen technokratischen Nachfolgern weniger infrage gestellt als an irgendeinem anderen Ort der Sowjetunion (nur Adolf Hitler war „entschlossen, Petersburg vom Erdboden verschwinden zu lassen“, weil er „nach Niederwerfung Sowjetrusslands am Weiterbestehen dieser Großsiedlung kein Interesse“ mehr hatte). Die beinahe manische Reduzierung aller Stadtbetrachtung auf die Wertschätzung und Wahrung des Denkmalcharakters zeigt in ihrer Unbedingtheit und Enge schon Züge einer Ersatzhandlung, genau wie die Lagerkämpfe um den Neumarkt in Dresden, um das Berliner oder Potsdamer Schloss.

Was in den endlosen Scharmützeln unter Kulturträgern auf der Strecke bleibt, sind die „harten“ Probleme einer Stadt, die unter enormem Transformationsdruck ihre neue Rolle nicht nur im veränderten nationalen Rahmen, sondern im globalen Wirtschafts- und Beziehungsgeflecht finden muss. Bedeuten­des Industriezentrum, Werftenstandort und größter Hafen war die Stadt schon früher, aber jetzt ist, durch das Engagement einiger Weltkonzerne, der einst prägende Schwermaschinenbau von Automobilproduktionen abgelöst worden. Mit der Gazprom-Zentrale hat ein Global Player von mehr als europäischem Gewicht sich am Newa-Ufer niedergelassen (was wieder nur Debatten um das sakrosankte Denkmalspanorama anheizte). Investoren aus High-Tech-Branchen werden mit einer „Sonderwirtschaftszone für Innovative Technologien“ umwor­ben. Um die Chancen am Touristikmarkt auszubauen (fünf Millionen Besucher erwartet man in diesem Jahr), wurde 2009 ein neuer Terminal für Kreuzfahrtschiffe in Dienst gestellt. Bei der generellen Erweiterung des Hafens, für die bereits weite Uferzonen aufgeschüttet wurden, soll, wie man hört, chinesisches Kapital maßgeblich im Spiel sein.

Fluch der Bürgerlichkeit

Der Bauboom, den die wirtschaftliche Stabilisierung ab der Jahrtausendwende der Stadt beschert hat, tobt sich in allen nur denkbaren Varianten aus – mit einer Ausnahme: Wohnraum für Bedürftige entsteht keiner. Selbst am Stadtrand, wo ganze Wälder von Kränen unverdrossen bis zu 27-etagige Hochhauscluster auftürmen, werben Riesenplakate an den Rohbauskeletten nicht etwa für familienfreundliches Wohnen, sondern unverhohlen: „Teure Appartements!“. Wo es noch exklusiver zugeht, wie in den Villenquartieren auf der Krestowski- oder Kamennyj-Insel, trägt der neue Geldadel seinen Reichtum in einer Weise zur Schau, dass man zu zweifeln beginnt, ob hier vor zwei Jahrzehnten noch wirklich eine Gesellschaft der Gleichen existierte. Und schließlich die unvermeidliche Frage: Hat der große gesellschaftliche Wandel überhaupt so viele Gewinner, wie der ungeniert ausgebreitete Luxus überall suggeriert? Nur so viel steht fest – diese neue Stadt der von Security bewachten Millionärskaufhäuser und Gated Communities ist das getreue Abbild jener abgrundtief gespaltenen neu-russischen Gesellschaft, die der „Kalte Bürgerkrieg“ der wilden Privatisierungen in der Ära Jelzin hervorgebracht hat.

Und die Architektur als solche? Über den Baugeschmack neureicher Bauherren hat ein Streit noch zu keiner Zeit gelohnt. Und dass Architekten, die nach langen Jahren harter Plan- und Mangelwirtschaft endlich ungehindert auf alle nur denkbaren Konstruktionen und Materialien zugreifen können, womöglich Zeit brauchen, um ihren Überschuss an Formphantasien auch wieder zu bändigen, ist nachvollziehbar und womöglich zu verschmerzen. Doch die internationalen Diskurse über das Planen und Bauen kreisen ja längst nicht mehr vordringlich um Schönheit und Stil, sondern um Strategien zur Krisenbewältigung. Über mögliche Beiträge der bauenden Zunft zur Rettung der Welt herrscht unter russischen Planern ein bedauerliches Schweigen. 

Womöglich rächt sich nun, dass an den Ausbildungsstätten für Architekten – gerade in sowjetischer Zeit – oft ein recht elitä­res Künstlertum gepflegt wurde oder eine Attitüde von Bürger­lichkeit, die sich allen Anfechtungen schnöder Realität, dem ewigen Pochen auf Ökonomie und Egalität (zumindest innerlich) widersetzte. Wenn nun an die Stelle der überwundenen Gesellschaft kein neues, auf irgendeine Zukunft gerichtetes Projekt tritt, sondern nur panische Aufholjagd losbricht nach den Insignien eines längst fragwürdigen westlichen Wohlstands, dann haben es kritisch-innovative Ansätze schwer. Konzepte für energiesparendes oder ressourcenschonendes Bauen etwa werden bislang hauptsächlich als Konterbande westlicher Technologien importiert. Und während im Privatsektor mit ausreichend Geld natürlich aufwendigste Revitalisierungen von maroder Altbausubstanz möglich sind, fehlt es für die dringend anstehenden Sanierungen an Zehntausenden von Chruschtschowkas und späteren Plattenbauten weniger an experimentellem Vorlauf (an dem wird gearbeitet), sondern an Fördermodalitäten und – vor allem – an öffentli­chem Geld. Auf einen kommunalen Sektor zugunsten aktiver Wohnungspolitik hatte der blindlings auf Privatisierung setzende Staat ja generell verzichtet, als er Anfang der neunziger Jahre seinen gesamten Wohnungsbestand an die Mieter verschenkte. Wie sich dank dieses sozialpolitischen Super-GAUs der Wohnungsmarkt in ein unüberschaubares Schattenreich verwandelt hat, zeigt u.a. der Dokumentarfilm „pereSTROIKA“ (siehe Seite 52 ff.).

Stadt auf Tuchfühlung

Wer das lebendige Petersburg sucht, den nachhaltigen Wandel, der den Alltag der Menschen in einer Weise umgekrempelt hat, für die uns im moderaten Mitteleuropa jedes Vorstellungsvermögen fehlt, der sollte, nach der obligatorischen Tour durch die historischen Sehenswürdigkeiten, sich möglichst bald seitwärts in die weniger glanzvollen Viertel treiben lassen. Der sollte sich, besser noch bei Nacht als am Tage, der faszinierenden Geschäftigkeit des Sennaja Ploschtschad (Heumarkt) aussetzen; kein umwerfend schöner Ort, doch als Herzstück und atmosphärische Kraftzentrale dem Münchner Viktualienmarkt oder dem Alexanderplatz in Berlin ebenbürtig. Auch sollte man sich, etwa nach einem Besuch des sehr russischen Dostojewski-Museums in der Kusnetschyi Gasse, gemächlich in den vernachlässigten Quartieren zwischen Witebsker und Moskauer Bahnhof verlieren, wo sich das „Europäische“ an dieser Metropole von seiner proletarischen Seite her studieren lässt, zwischen Hinterhofschluchten voller Repa­raturklitschen, wuseligen Markthallen und der ganzen Kleine-Leute-Welt aus Cafeterien, Snackbars und Handyshops.

Wer hingegen den sichtbaren Aufschwung sucht, mag durch die „Linien“ schlendern, jene knapp dreißig, nur mit Nummern versehenen Parallelsträßchen am nördlichen Newa-Ufer. Die Wassiljewski-Insel, früher das Viertel der Seeleute, ist dank Zentrumsnähe heute zu einer bevorzugten Wohnlage aufgestiegen und steht als Folge flächendeckender Sanierung unter massivem Gentrifizierungsdruck. Und von dort aus, noch hinter dem weitläufigen, aber unzugänglichen Hafen, stößt man dann irgendwann auf Primorsko, den letzten urbanen Kraftakt des sowjetischen Leningrad. Weiße Hochhäuser mit Blick aufs Meer, irritierende, kalte Pracht der Stagnation. Ein Grande Finale ganz aus dem Geist des Ortes: Hier draußen im Ostseewind durfte die Moderne so theatralisch schwelgen wie drinnen, zwischen Newa und Fontanka, der Barock. Heroisches Plattenbau-Ballett am Kunstkanal. Ein Schwanengesang.

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