Bauwelt

Die Siedlung Dessau-Törten

Rationalität als ästhetisches Programm

Text: Scheffler, Tanja, Dresden

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Die Siedlung Dessau-Törten

Rationalität als ästhetisches Programm

Text: Scheffler, Tanja, Dresden

Die Veröffentlichung von Andreas Schwarting liefert unbenommen wichtige Impulse für die seit Jahren geführte Diskussion über den weiteren Umgang mit der Siedlung.
Die Siedlung Dessau-Törten von Walter Gropius stand bereits während ihrer Entstehungsphase (1926–28) ständig im Rampenlicht. Mit der Filmreihe „Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich?“ wurde sie, stellvertretend für das Neue Bauen, als Alternative für den Wohnungsbau in den Großstädten propagiert. Spots warben für Wohneigentum durch Bausparen. Dessau-Törten gilt als Musterbeispiel für eine rationalisierte Baustellenorganisation mit „Fließbandfertigung“, doch schon kurz nach Fertigstellung wurden die zahlreichen konstruktiven Probleme deutlich, und damit wuchs die Kritik an dem Projekt.
Die ästhetischen Qualitäten hingegen waren bisher nicht Thema des fachlichen Diskurses. Andreas Schwarting zeigt, dass Gropius die Rationalisierung vor allem als umfassende künstlerische Herausforderung angesehen hatte. Dazu wurden viele Details der ursprünglichen Gestaltung durch Aufmaße und umfangreiche Untersuchungen der Bausubstanz im Rahmen eines Forschungsprojektes geklärt.
Gropius hat immer wieder betont, dass moderne Architektur damals nur akzeptiert worden sei, „wenn sie versprach, billiger zu sein“. Trotzdem wurden aus gestalterischen Gründen in Törten auch hochwertige Materialien verwendet, wie Stahl bei Fenstern, Türen und Treppen. Für einige Flure und Treppenhäuser wurden sogar Luxfer-Glasprismen gewählt. Privatfotos – vom Sonnenbaden auf der Dachterrasse und vom Feiern im Garten – sollten zeigen, dass sich das Leben in den nur zwischen 57 und 74 Quadratmeter großen, als „Hundehütten“ verspotteten Reihenhäusern nicht wesentlich unterschied vom vielfach publizierten Alltag in den Meisterhäusern.
Bei den Siedlungshäusern wurde die Materia­lität der Bauteile – roher Beton, unverputzte Schlackenbetonsteine und weißer Putz – optisch betont. Die Innenräume dagegen waren ähnlich farbig gestaltet wie in den Meisterhäusern. Dazu konnten die Bewohner mehrere, teilweise von Marcel Breuer entworfene Ausstattungsvarianten (beim zweiten Bauabschnitt aus Stahlrohrmöbeln) erwerben.
Einige der zeitgenössischen Fotos zeigen den Alptraum eines jeden bauleitenden Architekten. Noch vor der Fertigstellung klafften lange Risse in der gesamten Fassade. Törten war eine Versuchsbaustelle, auf der Konstruktionsmethoden und Baustoffe getestet werden sollten. Die Arbeiter stellten die Betonelemente im Akkord in Handarbeit (wie in einer Feldfabrik unter freiem Himmel) her und setzten diese dann als „Endmontage“ am Haus zusammen. Die Fördergelder der Reichsforschungsanstalt, die für Dessau-Törten flossen, waren an die massenhafte Herstellung von günstigem Wohnraum gekoppelt. So konnte es denn auch geschehen, dass die bautechnischen Fehler der „Prototypen“ gleich massenhaft wiederholt wurden.
Durch zahlreiche Veränderungen (wie zum Beispiel dem Anfügen einer zusätzlichen Mauerschale oder dem Umbau der Fenster) versuchten die Besitzer der insgesamt 341 Reihenhäuser von Anfang an die Mängel zu beheben. Aufgrund der sich ändernden Ansprüche an den Komfort und der mit der seit Wende 1989 schier unbegrenzten Verfügbarkeit von Baustoffen entstand daraus eine bis heute andauernde Umbautätigkeit. Keines  der Häuser befindet sich noch im bauzeitlichen Zustand, die ursprüng­liche Gestalt ist oft kaum noch zu erkennen.
Die Veröffentlichung von Andreas Schwarting liefert unbenommen wichtige Impulse für die seit Jahren geführte Diskussion über den weiteren Umgang mit der Siedlung. Gropius’ intensive Suche nach einer neuartigen Gestaltung lässt sich an der Entwicklung der verschiedenen Baureihen von einer traditionellen (aus der Gartenstadtbewegung stammenden) Konzeption in Verbindung mit der Idee des „Baukastens im Großen“ bis hin zum Split-Level mit klassisch moderner äußerer Form gut nachvollziehen. Der hochwertig ausgestattete Band bietet einen spannenden, äußerst informativen Text, einen umfangreichen Bauteilkatalog sowie Zeichnungen, Farbstudien und Fotos. Daher ist das Buch zum umfassenden Verständnis der Siedlung nahezu unentbehrlich.
Fakten
Autor / Herausgeber Andreas Schwarting
Verlag Thelem Verlag, Dresden 2010
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aus Bauwelt 15-16.2011
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