Nach der Flut
Text: Kammerbauer, Mark, München
Nach der Flut
Text: Kammerbauer, Mark, München
Vor einem Jahr traten in Mitteleuropa die Flüsse über die Ufer. Auch in dem 115.000 Einwohner zählenden Landkreis Deggendorf in Niederbayern hinterließ das Hochwasser seine Spuren. Mark Kammerbauer untersucht den Wiederaufbau der Region – und die Rolle der Politik
Juni 2013: In Europa ist Land unter. Es regnet seit Tagen, die Pegel der Flüsse steigen und steigen. Im bayrischen Deggendorf, zwischen Passau und Regensburg gelegen, kann ein Deich dem Druck des Hochwassers nicht mehr standhalten – und bricht. Die braungrüne Masse schwemmt in kürzester Zeit über Felder, Straßen und Wohnhäuser. Besonders schwer trifft es die Stadtteile Fischerdorf und Natternberg. Hier erreicht die Flut eine Höhe von zwei Metern über Straßenniveau. Menschen müssen evakuiert, Autobahnen gesperrt werden. Heizöl läuft aus geborstenen oder losgerissenen Tanks und zieht sich als zäher Teppich über das Wasser. Es dauerte elf Tage, bis das Wasser wieder abgepumpt ist. Ausreichend Zeit für den giftigen Wasser-Öl-Mix, um tief in die Bausubstanz der Wohnbauten einzudringen. Die traditionellen Wohnhäuser der Region bestehen aus verputzten Ziegelwänden mit hölzerner Dachkonstruktion. Vor allem in der Nachkriegszeit fanden Beton- und Schlackebausteine als billiges Baumaterial Verwendung, die nun, während des Hochwassers, das ausgelaufene Heizöl wie Schwämme aufsaugten. Selbst wer alternative Energieträger nutzte, konnte von der Tank-Havarie der Nachbarn betroffen sein: Wasser und Öl kannten keine Grundstücksgrenzen.
Unmittelbar nach dem Hochwasser begannen einige Eigentümer, ihre Häuser zu sanieren, den Putz bis zum ersten Obergeschoss abzuklopfen und neuen aufzutragen – ein fataler Fehler. Schon bald erscheinen auf den frisch aufgetragenen Schichten braune Flecken. Das eingedrungene Öl hatte sich aus den Mauern an die neue Gebäudeoberfläche hervorgearbeitet. Neben dem penetranten Geruch entstand eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Gesundheit der Bewohner. In vielen Fällen konnten Sachverständige in ihren Gutachten den Grad der jeweiligen Kontamination belegen. Bei schwerer Belastung erschien ein Abriss und Neubau kostengünstiger als eine Sanierung.
Aus der Katastrophe lernen
Die Bundesregierung richtete einen Hilfsfonds für die Betroffenen ein, der auch finanzielle Hilfe für unversicherte Hauseigentümer ermöglichte. Seitdem werden Förderanträge für den individuellen Wiederaufbau vom Landratsamt und einem dort eingerichteten Krisenstab bearbeitet und in Zusammenarbeit mit den Ämtern der Stadt Deggendorf begleitet. Das Bild, das sich Bewohnern und Besuchern ein Jahr nach dem Hochwasser bietet, ist dadurch sehr heterogen: Grundstücke stehen leer, einige Gebäude wurden abgerissen, andere saniert. Neubauten wurden zum Teil direkt neben dem noch nicht abgerissenen, kontaminierten Altbauten errichtet. Andere Häuser sind seit der Flut unbewohnt. Manche Bewohner hatten ihre Öl-Tanks oberirdisch installiert und damit auf dem Trockenen gesichert. Nach der Katastrophe wechselten sie trotzdem zu Erdgas, um auf zukünftige Hochwasser vorbereitet zu sein. Dieses Umdenken nach der Katastrophe ist der entscheidende Punkt: Wenn unversicherte Hauseigentümer mit Fördergeldern einen Neubau finanzieren wollen, dann achten die Ämter auf eine „Gleichwertigkeit“. Statt einer identischen Rekonstruktion des Gebäudes ist dabei eine Anpassung zum Schutz vor der nächsten Flut möglich. Dazu gehört zum Beispiel auch, in einem neuen Haus auf den Bau eines Kellers zu verzichten, den Energieträger zu wechseln oder die Haustechnik oberirdisch unterzubringen.
Am Wiederaufbau in Deggendorf zeigt sich aber auch, dass es wesentlich für die Betroffenen ist, wie schnell die Fördergelder fließen – und ob die sogenannte „soziale Verwundbarkeit“ der Bewohner berücksichtigt wird: Was machen Mieter, bis sich ihr Vermieter für oder gegen den Wiederaufbau entschieden hat? Wie kann Einwohnern mit Migrationshintergrund beim Umgang mit staatlichen Institutionen geholfen werden? Was tun, wenn sich der Gesundheitszustand der Menschen infolge der Katastrophe verschlechtert? Und wie bewältigen ältere Menschen die Katastrophe? Ein älterer Eigentümer berichtet, dass die Mieteinnahme seines Hauses seine Altersvorsorge bildete. Der Mann sieht sich wegen seines Alters nach dem Hochwasser jedoch nicht mehr in der Lage, den Wiederaufbau des beschädigten Gebäudes zu managen. Solchen Problemen – und auch das kann man in Deggendorf beobachten – kann oft mit einer Zusammenarbeit gemeinnütziger Helfer und loka-ler Ämtern begegnet werden, etwa indem Freiwillige Senio-ren bei der Antragsstellung auf Förderung begleiten und beraten. In der Realität ist das keine Seltenheit. Dennoch tauchen weder in den Unterlagen zum Hochwasserrisikomanagement in Bayern noch in der Hochwasserfibel des Bundes die Begriffe „soziale Verwundbarkeit oder Vulnerabilität“ auf.
In Deggendorf offenbart sich aber bereits jetzt, wie eng räumlich-bauliche und sozial-institutionelle Aspekte zusammenhängen. Da Umweltkatastrophen in Zukunft häufiger und heftiger zu erwarten sind, ist es besonders wichtig, wie anpassungsfähig die Politik und die Bewohner beim Wiederaufbau reagieren können. Architekten und Stadtplanern stehen dabei vor der Aufgabe, aber auch vor der Chance, schon vor der nächsten Flut resiliente Siedlungsräume zu schaffen.
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