Bauwelt

Von Tokyo nach Venedig



Text: Geipel, Kaye, Berlin


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Kazuyo Sejima richtet die diesjährige Biennale aus. Fünfzehn Autoren machen sich im Vorfeld der Ausstellung auf die Reise, beleuchten die Hintergründe der Architekturkonzepte des Büros SANAA und fragen nach dem Erfolg der neuen japanischen Architektur.
Das Titelbild einer streng blickenden Kazuyo Sejima, aufgenommen in Tokyo von Sebastian Mayer, mussten wir retuschieren. Grund war unser Titelbalken. Ryue Nishizawa, langjähriger Partner mit eigenem Büro innerhalb der gemeinsamen Bürostruktur SANAA, wäre sonst hinter grellem Bauwelt-Gelb verschwunden. Das Bild oben zeigt sie alle beide ohne Retusche. Die Leitung der Biennale wurde im Herbst letzten Jahres allerdings allein der japanischen Architektin anvertraut und nicht dem Paar – so progressiv geht es bei Signore Baratta und dem „Board of Directors“ nicht zu. Immerhin: Erstmals in der Geschichte der venezianischen Architekturbiennale erhielt eine Frau den Auftrag, den phantastischen Langraum des Arsenale mit eigenem Programm und ausgesuchten Gästen zu bespielen.

Vages Leitmotiv?
Das Thema ihres Ausstellungskonzepts hatte Kazuyo Sejima bereits im letzten November ausgegeben: „People meet in ar­chitecture.“ Was aber steht hinter dem diesem Satz? Gehen wir für einen Moment weg von der klappernden Ausstellungsrhetorik. Sejima und Nishizawa haben 2010 das weltweit wohl aufsehenerregendste Bauwerk geschaffen, das Learning Center der Universität von Lausanne. In diesem Bau haben die Architekten das Biennale-Thema „people meet in architecture“ sichtbar gemacht in dem sie bis an die Grenzen des Machbaren Raumgrenzen eliminierten und in der Wellenlandschaft des Learnig Center die Besucher in eine Art von totalem Atrium zusammenführen: auf schrägen Flächen rutschen die Besucher beständig aufeinander zu.
Wie auf dem Präsentierteller sind hier die Ideen auszumachen, die die neue japanische Architektur seit einigen Jahren kennzeichnen: Ein Misstrauen gegen jede Art von Monumentalität und Hierarchie, ein Interesse für soziale Beziehungen, das zuerst in Programm und erst dann in Form übersetzt wird, eine Auflösung fester und vor allem abgrenzender Typologien und eine Neugier, wissenschaftliche Analogien für die Architektur nutzbar zu machen.

Die Aussicht, solche nonformalen Architekturkonzepte dort zu beobachten, wo sie erläutert und gezeigt werden müssen – nämlich im Kontext einer Ausstellung –, hat uns schon früh auf die Idee gebracht, ein ganzes Heft zu Sejimas Biennale zu machen. Gerade aus der Ferne schien es reizvoll, die Hintergründe der neuen japanischen Architektur im Umfeld von Sejima, Nishizawa und Co. genauer kennenlernen. Welche Netzwerke sind involviert? Welche neuen Bauten prägen in Japan die Diskussion, welche Theorien begleiten sie, und mit welchen Widerständen müssen sie rechnen? Noch eins hat uns interessiert. Mit der Wahl von Kazuyo Sejima versprach diese Biennale, endgültig aus einer von Europa geprägten Perspektive auszubrechen und gerade in der Gegenüberstellung andersartige Perspektiven und Denkweisen sichtbar zu machen. Wir fragten uns aber auch, ob eine solche Dialektik angesichts des globalen Wirkens von Büros wie SANAA und Toyo Ito überhaupt zeitgemäß sei? Ist der Erfolg der neuen japanischen Architektur nicht gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie sich abgekehrt von der splendid isolation, wie sie Altmeister Arato Isozaki 2006 noch in einem vielbeachteten Essay zur „Japan-ness in Architecture“ gelobt hatte?
Offene Recherche
Im Februar haben wir begonnen, das Konzept für dieses Heft vorzubereiten. Fast zufällig erhielten wir zur selben Zeit Anfragen von Autoren, die dabei waren, nach Japan zu reisen, um Recherchen zur dortigen Architektur zu machen, und uns nach Möglichkeiten der Veröffentlichung fragten. Die Architektin Marika Schmidt, die am Institut von Rolf Schuster der TU Braunschweig arbeitet, wollte mit Studenten nach Japan gehen. Wilhelm Klauser, ein ausgewiesener Japan-Kenner und Bauwelt-Autor, war im März zu einem einmonatigen Forschungsstipendium an der Y-GSA Universität von Yokohama eingeladen. Und aus Japan meldete sich eine kleine Gruppe von Kritikern und Filmemachern um die im Büro von Kazuhiro Kojima arbeitende Architektin Henrike Rabe. Wir vertrösteten alle. Priorität hatte das Heft über Kazuyo Sejima und die Vorbereitung der Biennale. Doch dann entstand die Idee, mit allen zusammen eine Art catalogue raisonné über Kazuyo Sejima, das Büro SANAA und das Umfeld zu machen. Die Texte sollten kurz sein, und jeder Text sollte eine eigene Geschichte erzählen; konzeptionelle Themen, die diesen Geschichten zugrunde liegen, sollten sich überschneiden dürfen und diese aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten. 19 Kapitel gruppieren sich so in vier Themenbereiche: Im ersten besuchen die Autoren eine Reihe von Bauten und fragen nach den Konsequenzen der offenen Entwurfskonzepte. Im zweiten werden Eigenarten eines japanischen Architekturbüros am Beispiel SANAA dargestellt. Im dritten zeigen Interviews das theoretische Umfeld auf, aber auch „Schüler“ von SANAA werden vorgestellt, die inzwischen selbständig sind. Schließlich verfolgen wir Kazuyo Sejima bei einigen „Zwischenstationen“ in Europa. Mit den ersten drei Themen wollten wir vor allem auch den japanischen Alltag sichtbar machen und untersuchen, wie sich die neuen Entwurfskonzepte in der Nutzung bewähren. Japan ist das Land der sorgfältig gepflegten Oberflächen, und der Blick hinter die Kulissen ist angesichts der üblichen Diskretion nicht immer willkommen. So finden sich in diesem Heft auch Details, von denen sonst geredet, aber kaum geschrieben wird. Dazu gehören die unerbittlichen Arbeitsbedingungen, die auch damit zusammenhängen, dass im Laufe eines Projektes oft Hunderte von Varianten ausprobiert werden, egal, ob bei Toyo Ito, Riken Yamamoto, SANAA oder anderen.

Die jungen Architekten, die aus dem Ausland kommen und für einige Jahre bleiben, unterwerfen sich allerdings auch freiwillig der Fazination kultureller Rahmenbedingungen (Kapitel 2). Tokyo erscheint ihnen als irritierendes städtebauliches Gefäß, weniger hipp als Berlin und extrem teuer in Be­zug auf jede Art von Raumverschwendung – aber gerade deswegen eben auch flexibel und begierig auf neue Nutzungen. In solchen Widerständen, so viel wird deutlich, steckt eine wichtige Herausforderung für die Architekten, die Programme wichtiger zu nehmen als die Form. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang das Interview mit Mutsuro Sasaki, einem der weltweit innovativsten Tragwerksplaner, der die unbe­stimmten Flächen, die Auflösung der Wände und die offenen Programme überhaupt erst möglich gemacht hat.

Globale Infiltration – aber wohin zeigt die Richtung?
Im vorletzten Kapitel skizziert Kazuaki Hattori den frühen Werdegang der Architektin. Ein antiregionaler Impetus gehörte von Anfang an dazu. Sejimas Credo: aus sich selbst heraus, quasi körperlich, die zeitgenössischen Lebensbedingun­gen zu untersuchen und so ihre Architektursprache zu ent­wickeln. Ihre Lektion liegt in einem Denken, das Architektur wieder als Hülle begreift, die den Körper unmittelbar und direkt umgibt. Sejimas Architektur verlangt aber auch nach „transparenten Lebensformen“, verlangt nach der Bereitschaft der Nutzer, im Glashaus zu sitzen und kommunizieren zu wollen. Nicht jeder fühlt sich da wohl. Wilhelm Klauser, der die­ses Konzept beim Museum in Kanazawa vorfindet, beschreibt in Kapitel 3 seine eigenen Konflikte beim Aufeinanderprallen verschiedener Formen von Öffentlichkeit.
Viele Beiträge mussten stark gekürzt werden, gerne hätten wir einige ausführlicher dargestellt. Das Haus A etwa, das mit seinen Interieurs besonders eindrucksvoll – weil in großem Maßstab – Entwurfsideen sichtbar macht, die auch in den Wohnräumen den Hierarchien zu Leibe rücken. Interesse vorausgesetzt, machen wir im nächsten Jahr ein Folgeheft über junge japanische Architekten, die solche antiformalistischen und antihierarchischen Prinzipien weiterentwickeln.



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