Bauwelt

Panische Räume



Text: Vassilis, Tsianos S., Hamburg; Ronneberger, Klaus


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    Albert-Heijn-Moschee, Amsterdam
    Tarik Sadouma & Bastiaan Franken

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Ghettos, Parallelgesellschaften, ethnische Enklaven: Mit den immer gleichen Zuschreibungen wird in Deutschland das Image migrantisch geprägter „Problemviertel“ reproduziert. Medien und Politiker können dabei auf Studien zurückgreifen, die mit Schlagworten wie „überforderte Nachbarschaften“ die Bedrohungsszenarien noch verstärken. Wie entstehen diese „urbane Paniken“, die nach 9/11 zunehmend in einen offenen Antiislamismus umschlagen?
Seit den neunziger Jahren wachsen in Deutschland Befürchtungen, es würden sich „Ausländer-Ghettos“ mit ethnisch homo­genen und armen Bewohnern herausbilden, die ein wachsendes Gefährdungspotenzial für die städtische Mehrheitsgesellschaft darstellen. In jüngerer Zeit verknüpfen sich solche Bedrohungsszenarien mit Verweisen auf städtische „Riots“, wie etwa in England im Sommer 2011. Thematisiert werden dabei vor allem die „Grenzen der Integrationsfähigkeit“ von Minderheiten und die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen mit Migrationshintergrund.
Rassistische Diskriminierungs- und Ausschlusspraktiken sind sicherlich ein „globales“ Phänomen. In Deutschland gibt es allerdings einige Besonderheiten zu beachten: Was die Frage der Migration betrifft, besteht hierzulande ein weitgehender Konsens darüber, dass sich die Eingewanderten den vorherrschenden Normen und Werten anzupassen hätten. Diese Erwartung wird mit einem Begriff von Integration verknüpft, den große Teile der deutschen Gesellschaft sowohl mit „Ausgleich“ als auch mit „sozialem Frieden“ assoziieren. Gegenüber Migranten funktioniert die Metapher der Integration als Ideologie der „Eingliederung“, in der sich Vorstellungen sozialer Inklusion und normative Forderungen nach kultureller Anpassung widersprüchlich überlagern.            
Die verschlungenen Pfade der Integration
Auf die normalisierende und normierende Funktion von Integration zu setzen, hat in Deutschland eine lange staatspolitische Tradition. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt sich mit der Ausbildung des Sozialversicherungssystems ein neues Konzept der sozialen Steuerung, das den Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit befrieden, die Folgen der Armut kompensieren und die Auswirkungen der Unterdrückung einschränken soll. An die Stelle der bis dahin dominanten Vorstellung einer Gesellschaft konkurrierender Individuen tritt die Idee einer Solidargemeinschaft, deren Mitgliedschaft vor allem auf völkisch-nationalen Kriterien basiert. Durch Metaphern wie „Volkskörper“ oder „Volksgemeinschaft“ wird die Einheitlichkeit dieser imaginären Gemeinschaft erzeugt. Dieses Modell des Sozialstaats weist von der Weimarer Republik bis zur Gegenwart eine erstaunliche Kontinuität auf. Zwar findet in der Nachkriegszeit eine Verwissenschaftlichung der politischen Diskurse statt, die völkische oder biologistische Argumentationsmuster zugunsten systemisch-funktionaler Gedankengebilde zurückdrängt. Gleichwohl macht sich die völkische Komponente in der Integrationspolitik weiterhin bemerkbar, man denke nur an Kategorien wie „Gastarbeiter“ und „Aussiedler“.
Als es in den späten fünfziger Jahren zur Anwerbung von „Gastarbeitern“ mit einer zeitlich begrenzten Aufenthaltsdauer kam, war die Vorstellung der Nichtintegration konstitutiv. Die damaligen Rückführungsbestimmungen gingen von der Annahme aus, die Anwerbung von Immigranten sei nur vorübergehend und bleibe für die Sozial- und Bevölkerungspolitik weitgehend folgenlos. Bereits 1973, als der erste Anwerbestopp in Kraft trat, wurde jedoch deutlich, dass ein Großteil der Migranten dauerhaft bleiben würde. Mit dem politisch nicht intendierten, aber verstärkt einsetzenden Familiennachzug kommt es in der deutschen Öffentlichkeit zu einer Wahrnehmungsverschiebung. Die sichtbare Präsenz einer migrantischen Wohnbevölkerung löst eine Reihe von kontroll- und sozialpolitischen Überlegungen aus. Der Migrationsdiskurs wird zum Problemdiskurs, und zwar in doppelter Hinsicht: Zum einen geht es um Maßnahmen, die sich dagegen richten, als Einwanderungsland zu gelten, zum anderen verstärken sich Forderungen nach einem Eingliederungsprogramm. Im Laufe der siebziger Jahre entwickelt die SPD das sozialtechnokratische Modell der partiellen Integration, das insbesondere die Kinder der „Gastarbeiter“ zu erfassen versucht. CDU und CSU denunzieren diesen Ansatz unter anderem als „Zwangsgermanisierung der Türkenkinder“ und sprechen sich für eine „rückkehrorientierte Integration“ aus.
In der Legitimationskrise des integrativen Sozialstaats zu Beginn der achtziger Jahre kommt es zu einer erneuten Verschiebung. Mit der Konjunktur postmoderner Ideologien wird der „Kulturbegriff“ aufgewertet, was sich auch in der Einwanderungsdebatte niederschlägt. Ausgehend von der Vorstellung einer ethnisch differenzierten Gesellschaft greifen die Befürworter eines „multikulturellen“ Modells die Integrationspolitik als intolerante, nivellierende Assimilation an. Aus ihrer Perspektive stellen die Herkunftskulturen der Einwanderer weniger eine Bedrohung als vielmehr eine Bereicherung dar. Der Versuch der Modernisierung der Migrationspolitik scheitert an dem Konsens, sich weiterhin als ein „Nicht-Einwanderungsland“ zu verstehen. Es erfolgt eine Politik der Abschottung, in erster Linie über eine Einschränkung des Asylrechts, das neben dem Familiennachzug oder temporären Arbeitsverträgen als einzige legale Möglichkeit bleibt, nach Deutschland zu kommen. Diese restriktive Politik findet 1993 mit der „Drittstaatenregelung“ ihren gesetzlichen Abschluss, die das Land für Asylbewerber fast vollständig abriegelt. Nach dem Fall der Mauer verhandelte die Öffentlichkeit das Phänomen der Migration vorwiegend als ein Problem der inneren Sicherheit. Bevorzugtes Thema ist „der Ausländer“ als Krimineller.
Die sozialdemokratisch-grüne Koalition tritt 1998 mit dem Versprechen an, die „Einwanderungsfrage“ zu modernisieren und den Status der hier lebenden Migranten durch ein neues Staatsbürgerschaftmodell zu verbessern – doch die angestrebte Reform endet 2005 mit einem Kompromiss, der nur wenig vom ursprünglichen Entwurf übrig lässt. Mit der Forderung nach einer „deutschen Leitkultur“ versuchen in der Folge die Konservativen, ihre Hegemonie auf dem politischen Feld der Migration zurückzugewinnen. Zur Integration, so heißt es, gehörte mehr als Gesetzestreue und Sprachkenntnisse. Führende Grüne nehmen die Debatte zum Anlass, sich von der „multikulturellen Gesellschaft“ zu distanzieren. So begründet die damalige Bundesvorsitzende Renate Künast ihr Abrücken damit, dass die Gestaltung der Einwanderungspolitik auf die Zustimmung der Mehrheitsbevölkerung angewiesen sei. Deshalb müsse man den Bedarf an Migranten ermitteln und Konzepte für die Regeln des Zusammenlebens entwickeln.
In der Zwischenzeit hat sich der Charme des kulturalistischen Differenzmodells weitgehend verflüchtigt. Das Abrücken von der „multikulturellen Gesellschaft“ geschieht unter der Vorgabe, dass es sich dabei um ein „Schönwettermodell“ der Postmoderne gehandelt habe, das den veränderten Bedingungen der Berliner Republik nicht mehr standhalte. Die Existenz einer migrantischen Alltagskultur macht es den politisch Verantwortlichen allerdings schwer, einfach an das Assimilationsmodell der Nachkriegsära anzuknüpfen. Die vollständige Anpassung an die Lebensformen des Aufnahmestaates, so heißt es, sei nicht mehr das Ziel.
Heute wird Migrationspolitik auch formal als Integrationspolitik definiert. Das „Ausländergesetz“ von 1965 heißt nun „Aufenthaltsgesetz“. Ausdruck dieser Neuorientierung sind der Integrationsgipfel von 2006, die „Islamkonferenz“ und 2011 die Feierlichkeiten um „50 Jahre Anwerbeabkommen“ zwischen der Bundesrepublik und der Türkei. Doch das Inte­grationskonzept zielt weniger auf die Erweiterung von Rechten, sondern versucht vor allem Homogenitätsvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft abzusichern. Ein solcher Machtanspruch wird jedoch in der öffentlichen Rede ausgeblendet oder geleugnet.
Die Segregation und der Ghetto-Diskurs
Die so genannte „ethnische Segregation“ gilt dabei als eine der entscheidenden Integrationsfragen. Begriffe wie „Parallelgesellschaft“ und „Ghetto“ werden in der Debatte als Synonyme verwendet. Doch wodurch zeichnet sich ein Ghetto aus? Folgt man dem Soziologen Loïc Wacquant, dann handelt es sich nicht nur um eine Verdichtung von Armut und physischem Verfall, sondern auch um ein Instrument der Kontrolle, das auf räumlicher Verbannung, Ausbeutung und rassistischer Stigmatisierung basiert. In der deutschen Öffentlichkeit werden für das Schreckensbild von der „Parallelgesellschaft“ oft die US-amerikanischen „Schwarzen-Ghettos“ bemüht. Doch dieser Raumtypus taugt kaum zur Kennzeichnung hiesiger Verhältnisse. Eine Angleichung der Lebensbedingungen durch zentralstaatliche Institutionen, wie sie der deutschen Raumordnungspolitik als gesetzliche Verpflichtung vorgegeben sind, gilt in den USA als unnötig, sogar als „unamerikanisch“. Während der intervenierende Sozialstaat in Westeuropa den Urbanisierungsprozess der letzten Jahrzehnte entscheidend geprägt hat, führte das US-amerikanische Modell zu einer scharfen Trennung zwischen verarmter Kernstadt und saturierter Vorstadt. In den letzten Jahrzehnten sind zudem aus den vormals sozial integrierten „Schwarzen-Ghettos“, in denen sich alle Gesellschaftsschichten abbildeten, „Hyper-Ghettos“ der Armen, Marginalisierten und Obdachlosen geworden. Peter Marcuse spricht in diesem Zusammenhang von einem „Ghetto der Ausgeschlossenen“, das an die Stelle des „Ghettos der Ausgebeuteten“ getreten ist.
Was die Entwicklung in deutschen Großstädten betrifft, kommen jüngere Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass es hierzulande bislang keine großflächigen Segregationsprozesse gibt. Von einer zunehmenden „ethnischen Segregation“ kann nicht die Rede sein. Die rasche Verdichtung sozialer Probleme in ganzen Stadtbezirken ist die Ausnahme, und selbst so genannte Brennpunkte sind in vieler Hinsicht nicht homogen. Die „sozial durchmischte Stadt“ stellt nach wie vor das Ideal dar. Dies hängt auch mit der Regulation des Wohnungsmarktes zusammen. In den meisten Kommunen existieren Vorgaben von lokalen Behörden und Wohnungsbaugesellschaften zur Herstellung „ausgewogener“ Bewohnerstrukturen in den Stadtteilen. Allerdings bleibt es im Ermessen der jeweiligen Akteure, wie sie soziale Durchmischung definieren: Das Ideal der Ausgewogenheit wird daher selektiv ausgelegt. So erregen die Territorialstrategien einkommensstärkerer Haushalte, das Wohnumfeld möglichst homogen zu halten, selten Anstoß. Dagegen ist man bemüht, eine räumliche Konzentration von migrantischer Bevölkerung und von Sozialtransferempfängern zu vermeiden. Die wohnungspolitisch Verantwortlichen sehen ihre Hauptaufgabe darin, subalterne Gruppen im städtischen Raum zu verteilen. Die Stadt Frankfurt am Main zum Beispiel wendete in den neunziger Jahren bei Neubausiedlungen folgenden Quotierungsschlüssel an: 30 Prozent Ausländer, 10 Prozent Aussiedler, 15 Prozent Sozialhilfeempfänger, 25 Prozent Quartiersbewohner, 20 Prozent andere Personen. Ähnliche Regularien kommen auch in anderen Großstädten zum Einsatz. Dieses Modell ist mit verantwortlich dafür, dass in der Bundesrepublik die soziale Segregation deutlich weniger ausgeprägt ist. Freilich sollen die Exklusionsprozesse nicht klein geredet werden. So kommt eine Zwischenevaluierung des Programms „Soziale Stadt“ zu einer ambivalenten Einschätzung: Die städtebauliche Situation habe sich verbessert, die Armutsprobleme konnten dagegen kaum entschärft werden. Dies bestätigen auch neue Studien. Die räumliche Konzentration von Armen und Prekären hat weiter zugenommen.
Obwohl in deutschen Städten der Raumtypus „Ghetto“ also nicht existiert, taucht der Ausdruck regelmäßig bei der Beschreibung von „Problemquartieren“ auf. Zentral ist in diesem Diskurs die Figur des explosiven Raums, in dem sich „Sprengstoff“ ansammelt, der sich irgendwann „entladen muss“. Solche Dramatisierungsszenarien mobilisieren zwar unter Umständen staatliche Ressourcen, tragen aber gleichzeitig dazu bei, die Stigmatisierung von Minderheiten zu verfestigen. Die Etikettierung von Quartieren als „gefährliche Räume“ bildet die Grundlage für eine restriktive Politik. So fordern viele Kommunalpolitiker, bestimmte Stadtteile vor einem „ungesteuerten Zuzug von Ausländern“ zu bewahren. Als „realistische Techniker der Sozialpsychologie“ warnen sie vor der Überschreitung von „Toleranzschwellen“ und „Belastungsgrenzen“.
Die Politik kann sich dabei auf sozialwissenschaftliche Expertisen stützen. Exemplarisch dafür stehen die Studien von Wilhelm Heitmeyer. Der Gewaltforscher setzt unbedacht die räumliche Segregationen von Migranten mit „Desintegration“ gleich: Konzentrierten sich Einwanderer in strukturell benachteiligten Bezirken, würden sich jene Quartiere zu einem „ethnisch-sozialräumlichen Schraubstock“ für die nachfolgenden migrantischen Generationen entwickeln. Unberücksichtigt bleibt in Heitmeyers Untersuchungen nicht nur die rassistische Dimension der Ausgrenzung; auch die im Alltag tatsächlich relevanten Räume werden ignoriert – ganz zu schweigen von den kompensatorischen Effekten ethnischer Enklaven und Ökonomien. Die Raumbezüge, die für die Bewohner eines Stadtteils im Alltag von Bedeutung sind (und von ihnen hervorgebracht werden), haben kaum etwas mit den administrativen Kategorien des Raumes gemein. So werden Gebiete aufgrund einer statistisch messbaren Abwanderung deutscher Familien bei gleichzeitiger Zuwanderung von „Ausländern“ als „Problemgebiete“ eingeschätzt, obwohl sie nach anderen Parametern Aufwertungstendenzen aufweisen.
Der Ghetto-Diskurs steht für eine Verräumlichung der „sozialen Frage“. Studien wie das politisch einflussreiche empirica-Gutachten „Überforderte Nachbarschaften“, erstellt im Auftrag des Bundesverbandes deutscher Wohnungsunternehmen (GdW), fordern eine Neuausrichtung der Sozialpolitik in „Problemquartieren“, die man als „Regieren durch Community“ umschreiben kann. In ihren Empfehlungen setzten die Autoren auf die „Motivierung“ und „Aktivierung“ der Bewohner. In der Alltagspraxis reduziert sich das Idealbild des „selbständigen Gemeinwesens“ auf ein Sparmodell, das die Rücknahme von staatlichen Interventionen ermöglichen soll. Darüber hinaus zeichnet sich das Gutachten durch rassistische Konnotationen aus. Hier ein Beispiel: „Vor allem den Einheimischen erscheinen die Sozialämter als Orte der Inquisition und der Erniedrigung. Robuster und unbekümmerter gehen viele Ausländer vor. Für sie sind die Leistungsträger offensichtlich ein großer Teppichhandel, den man mit Zähigkeit und Cleverness bis zur Erschöpfung der Schalterbeamten führt.“ Der Begriff der „überforderten Nachbarschaften“, der heute zum festen Bestandteil des „Sozialen-Stadt-Diskurses“ gehört, wurde nach dem Abschluss der Studie gewählt, um die Ergebnisse „besser vermarkten zu können“. „Überfordert“, so das Gutachten, „sind viele einheimische Bewohner, denen im Zusammenleben mit Ausländern und Aussiedlern zuviel an Integrationsarbeit und Konfliktbewältigung abverlangt wird. Überfordert sind die Wohnungsunternehmen, weil sie als Verwalter der ungelösten Sozialstaatsprobleme deren Ursachen nicht bekämpfen können. Überfordert sind aber auch die Kommunen, die durch ihre auf einen zu kleinen Bestand begrenzte Belegungspolitik zahlreiche Schwierigkeiten selber hervorrufen oder verschärfen.“ Mit dem französischen Soziologen Etienne Balibar kann man diese und ähnliche Studien als Belege für eine neoliberale Variante des „modernen institutionellen Rassismus“ bezeichnen, der zwei gegensätzliche Vorstellungen vereinigt: die Ethnisierung sozialer Verhältnisse – und die Propagierung eines Aktivierungsmodells, das „eine allgemeine individuelle Selektion institutionalisiert, deren untere Grenze die soziale Eliminierung der ‚Unfähigen‘ und ‚Unnützen‘ darstellt.“
Leerstelle Rassismus
Die deutschsprachige Stadtforschung zeichnet sich insgesamt durch eine weitgehende „Macht- und Staatsblindheit“ aus. Im Gegensatz zur angloamerikanischen Stadtsoziologie spielen bei der Analyse städtischer Räume Diskussionen über „Rassismus“ kaum eine Rolle. Dieser Begriff ist fast ausschließlich für die Kennzeichnung der NS-„Rassenpolitik“ reserviert und entsprechend tabuisiert. Bei der Mehrheit der „städtischen Spezialisten“, vom Stadtplaner bis zum Stadtentwicklungspolitiker, scheint es sich noch nicht herumgesprochen zu haben, dass der Verweis auf „andere Kulturen“ die Konstruktion des Fremden dominiert und als naturalisierende Kategorie fungiert, die den Begriff der „Rasse“ ersetzt hat. Es erweist sich deshalb als problematisch, Begriffe wie „Ethnie“ oder „ethnische Minderheiten“ rein beschreibend zu verwenden, da sie dazu tendieren, kulturelle Unterschiede zu verdinglichen und ihren Entstehungskontext auszublenden. Ebenso wenig wie es „Rassen“ gibt, ist eine den sozialen Verhältnissen vorgängige Existenz von „Ethnien“ zu unterstellen. Mit dem Erklärungsmuster „Ethnizität“ hat sich eine Sichtweise etabliert, die dazu tendiert, die Ursache des Rassismus bei seinen Opfern zu suchen.
Das Thema Einwanderung wird noch immer vorwiegend aus der Perspektive empiristischer Ansätze behandelt. Viele Analysen beschränken sich auf demografische Erhebungen, die Aufschluss geben sollen, in welchen Stadtteilen wie viele Ausländer welcher Nation wohnen und arbeiten. Dies ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass die Stadt- und Regionalforschung zu großen Teilen Auftragsforschung für staatliche Institutionen und Privatstiftungen betreibt: Untersucht werden die „Grenzen der Integrationsfähigkeit“ oder „ethnische Konflikte“, weniger jedoch die Ausschlusspraktiken. Die Studien bekräftigen so erwartungsgemäß die Evidenz der Spaltung des „Eigenen“ vom „Fremden“, statt ihre soziale Genese selbst zum Gegenstand zu machen. Insofern ist die urbanistische Wissensproduktion selten unabhängige Forschung, sondern Bestandteil der staatlichen Bevölkerungspolitik.
Schöner ohne Döner?: antimuslimischer Urbanis­mus
In den letzten Jahren ist eine soziale Gruppe in das Blickfeld der Stadt- und Migrationsforscher geraten, die bislang selten berücksichtigt wurde: die neuen städtischen Eliten. Im Hamburger Stadtteil St. Georg, einem innerstädtischen „multikulturellen“ Viertel, das durch Gentrifizierung zunehmend „entmischt“ wird, etabliert sich ein „New Metropolitan Mainstream“ (in Anlehnung an das Konzept der Schweizer Christian Schmid und Daniel Weiss). Dessen Rhetorik fordert natürlich nicht offen die Verdrängung „bildungsferner“ Anwohner, sondern artikuliert sich hauptsächlich über die Verteidigung der Gay-Community im Stadtteil. 2007 begann im lesbisch-schwulen Stadtmagazin hinnerk eine Debatte mit dem Titel „Schöner ohne Döner?“ über homophobe Ressentiments und Übergriffe im Stadtteil, die sehr schnell von der Lokalpresse aufgegriffen wurde und gezielt in die Inszenierung eines Konfliktes mit der örtlichen Centrum Moschee einmündete. Ein Sozialarbeiter aus St. Georg bringt es auf den Punkt: „Ich glaube, dass jeder Überfall in St. Georg in der Wahrnehmung potenziert wird. Wenn in Barmbek etwas passiert, sagt man: ‚Ja, ja, das passiert.‘ Oder: ‚Wie schlimm, auch hier!‘ Wenn in St. Georg was passiert, gibt es gleich eine Schlagzeile in der Morgenpost.“ Dieses Phänomen nennt Stanley Cohen „moralische Paniken“. In seiner grundlegenden Studie „Folk devils and moral panics“ (1972) versteht er Moralpaniken als elitäre Initiativen zur autoritären Bewältigung eines sozialen Wandels. Spielen sich diese im öffentlichen Raum der Stadt ab, können wir von „urbanen Paniken“ sprechen. Durch die Skandalisierung homophober Äußerungen der „muslimischen Anderen“ konstituieren sich also die neuen städtischen Eliten: Sie verkörpern die vermeintliche Toleranz der Mehrheitsgesellschaft und treiben zugleich urbane Paniken voran. Die Beschreibung der „überforderten Nachbarschaften“ erfolgt auf der Basis von Statistiken, Experten- und Bewohner-Interviews: eine Ansammlung von städtebaulichen und sozialen Pathologien mit den immer gleichen Bildern und Erzählungen („keine islamische Übermacht“), die das vorherrschende Image des Problemquartiers reproduzieren. Die Wirksamkeit solcher „Paniken“ besteht gerade in der affektgeladenen Intensität: Die neuen städtischen Eliten müssen einen „zivilisatorischen Auftrag“ durchsetzen, in dem sie abweichendes Verhalten disziplinieren. Es entsteht ein antimuslimischer Urbanismus, bei dem Sicherheits- und Stadtpolitik zusammengefügt werden. Bereits einige Jahre zuvor, auf dem Höhepunkt der Terrorismusbekämpfung nach 9/11, wurden die „ethnischen Parallelgesellschaften“ zu einem Laboratorium für eine neue Form des Regierens im Stadtteil, die in Moschee-Razzien und der Schließung der Taiba-Moschee gipfelte. Der antimuslimische Urbanismus ist ein Rassismus der „radikalisierten“ Mittelschicht, die ihre Hegemonie jenseits des Parteienspektrums sucht und organisiert. Ihre Markenzeichen sind autoritärer Sozialrevanchismus und der Tabubruch mittels antimuslimischer Rhetorik.



Fakten
Architekten Tarik Sadouma & Bastiaan Franken, Amsterdam; Buchhammer, Johannes, Stuttgart; Frei + Saarinen Architekten, Züich; Boran Burchhardt, Hamburg
aus Bauwelt 12.2012
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