Bauwelt

Le Corbusier im Jesuitenkloster


Rue de Sèvres No. 33–35


Text: Oubrerie, Jose, Ohio (USA)


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    Foto: Sebastian Redecke

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Das Atelier, in dem Le Corbusier bis zu seinem Tod arbeitete, gibt es nicht mehr. Es gehörte zu den Häusern an der Rue de Sèvres, die 1970 verkauft und abgerissen wurden. In die Lücke wurde ein 12-geschossiges Wohn- und Geschäftshaus gesetzt. Ein Corbusier-Mitarbeiter, der heute in Columbus, Ohio, das Atelier Wylde-Oubrerie leitet, erinnert sich.
Hatte man in der Rue de Sèvres Nr. 35 das Vordach des großen, dunklen und eingewölbten Eingangs mit den polierten Bronzegriffen passiert, befand man sich in einem kleinen Hof, wo für gewöhnlich der Concierge stand, ein ehemaliger Seemann, der die ganze Welt gesehen hatte und der einem gerne, abseits der Loge, d.h. des Bereichs, den seine Frau von innen aus überblicken konnte, Geschichten von seinen Reisen erzählte, bei denen er bis nach Valparaíso gekommen war. Mit besonderer Vorliebe beschrieb er die berühmten Bordelle der Stadt, die Thema eines Dokumentarfilms von Chris Marker waren. War man an ihm vorbei, führte der Weg durch einen langen, braunen, steingepflasterten Korridor (Seite 20). Trotz der hohen und breiten Fenster zu einer Seite war es hier kalt und düster. Die andere Seite war fensterlos. Die durchgehende Wand, in die nur eine einzige, kleine, niedrige Tür eingelassen war, trennte den Korridor von der Kirche Saint-Ignace, einer dunklen Jesuitenkirche aus dem 19. Jahrhundert – nur mit großer Glaubensstärke konnte man sich bei einem Besuch des Gotteshauses dem überwältigenden Eindruck seiner Hässlichkeit entziehen.
Der Korridor war der Ort, wo immer wieder Studenten oder Besucher aus aller Herren Länder versuchten, Le Corbusier auf dem Weg in oder aus seinem Atelier zu begegnen, ohne vorherige Verabredung. Meistens wechselte Le Corbusier mit den Wartenden ein paar freundliche Worte, nur einmal fertigte er einen bekannten französischen Architekten, der ihn, als er schon auf der Straße stand, mit den Worten „Bonjour Maître“ begrüßte, mit der Antwort ab: „Kenne keinen Maître. Ich kenne nur den ‚mètre treize‘ des Modulor!“
Am Ende dieses Couloir befand sich eine alte Treppe, deren Stufen Generationen von Mönchen ausgetreten hatten. Die Treppe führte hoch zum Atelier, eingerichtet in einem damals ungenutzten Korridor, der direkt über dem im Erdgeschoss lag. Von der Tür aus konnte man den gesamten Raum, dessen eine Seite ebenfalls durch eine geschlossene Wand von der Kirche getrennt war, der Länge nach erfassen und auch einen Blick auf Le Corbusiers farbiges Wandgemälde am Ende des Ateliers erhaschen. Hohe Fenster, die über die Bäume des Gartenhofs blickten, sorgten für eine gute Belichtung des Raums. Unsere Reißbretter standen an der Längswand des langen Raums, dessen Proportionen Le Corbusier als Anregung für die Appartements in Marseille gedient hatten.
Den Eingang kontrollierten eine Art Theke, die den Bereich von Henri Bruaux, dem „Mann des Vertrauens für alle Fälle“, abgrenzte, sowie zwei kleine Büros. In dem einen schaltete Jeannette Gabillard als Telefonistin und Schreibkraft, das zweite, etwas größere, war Jeanne Helbuth vorbehalten, die wir „Madame Jeanne“ nannten, während Le Corbusier sie einfach „Jeanne“ rief. Als Sekretärin, Sphinx und Cerberus wachte sie über den Meister und hütete seine Geheimnisse. Dahinter ging es durch eine kleine, niedrige Schwungtür, die als virtuelle Grenze zwischen dem kreativen und dem Verwaltungsbereich fungierte. Nun hatte man das berühmte Büro Le Corbusiers betreten, die Box mit den Abmessungen 2,26 x 2,59 x 2,26 Meter, die später vergrößert wurde, um ihm Licht und Luft zu verschaffen, was er nach Aussage seines Arztes so dringend benötigte. Und schließlich folgte dann das eigentliche Atelier, unser Reich. Da war zunächst der Sitzungsraum, den ein runder Tisch von 1,83 Meter Durchmesser dominierte. Die fensterlose Seite nahm eine große Schiefertafel ein, die es ermöglichte, maßstäbliche Elemente zu untersuchen. In diesen Räumen verbrachten wir unsere Tage: Morgens erschien Le Corbusier, am Nachmittag arbeiteten wir für uns allein.
Den ersten Platz im Atelier hatte Roggio Andreini, der Rechnungsprüfer, der zuweilen mit uns an Modellen arbeitete und sich in seiner freien Zeit als Maler betätigte. Dann folgte Guillermo Jullian de la Fuente, ein begabter junger chilenischer Architekt, der in der renommierten Schule von Alberto Cruz ausgebildet worden war. Den nächsten Platz hatte Alain Taves, ein formstrenger, seriöser Vertreter der französischen Architekturschule, der eine Zeit lang mit Pierre Facheux an den Unités d’Habitation mitgearbeitet hatte. Und schließlich folgte ich, der aus einem Maler zu einem Architekten geworden war. Mein Platz befand sich am Ende des Raums in der Nähe des großen, quadratischen Wandgemäldes. Jeder von uns hatte drei Reißbretter. An den Fenstern zog sich ein langer Beistelltisch hin, auf dem Modelle standen und Pläne abgelegt wurden.
Das Atelier in der 35 Rue de Sèvres besteht nicht mehr. Bis zu Le Corbusiers Tod im Jahr 1965 war es geschützt, weil sich der Architekt den wiederholten Forderungen der Jesuiten, er möge ausziehen, widersetzt hatte. Eine große Schar Männer und Frauen, die sich für Le Corbusiers Architektur begeisterten, hatten hier mehr als dreißig Jahre mit Leidenschaft teilgenommen an jenen unglaublichen Projekten, phantastischen Zeichnungen und Modellen. Heute ist das Atelier tot; es wurde von den weltlich gesinnten Mönchen, die an einem saftigen Immobiliengeschäft interessiert waren, einem banalen Neubau geopfert.
Die Rue de Sèvres an der „Rive Gauche“ unweit von Montparnasse liegt am Ende des Square Boucicaut, der nach der Frau des ersten Inhabers des Warenhauses „Le Bon Marché“ benannt ist, deren Statue immer noch dort steht. Gegenüber der Rue de Sèvres liegt die Rue de Babylone, während die beiden anderen Seite des Platzes vom „Bon Marché“ bzw. vom Hotel Lutetia eingenommen werden, auf dessen Terrasse wir, sobald es Frühling war, mittags unseren Salat aßen und uns die bezaubernden jungen Pariserinnen anschauten, die in ihren luftigen Kleidern flanierten. Am Morgen tranken wir unseren Kaffee in dem kleinen „Café des Oiseaux“, gleich gegenüber „Bon Marché“ an der Ecke der Rue de Sèvres. Wir nannten dieses Café mit Tabakladen den „Annex“; manchmal suchten wir es auch nachmittags um fünf Uhr zum Tee auf. Die Fassade des „Bon Marché“ in der Rue de Sèvres hatte übrigens die ersten großen Glasfenster; Le Corbusier verwies auf sie einmal in einer Publikation als Beispiel einer möglichen modernen Ästhetik. Wir schlenderten mittags gern im Kaufhaus herum, auch wenn unser schmales Gehalt es nicht zuließ, viel einzukaufen. Zu jener Zeit lag die Stahlkonstruktion des Bon Marché noch weitgehend offen; eine spezielle Lösung wie um Säulen herumgeführte Treppen diente als Inspiration für die Lösung, die man im ersten Geschoss des Schweizer Pavillons in Paris sehen kann.
Aber der für uns spannendste Ort befand sich etwas weiter, 45 Rue de Babylone, hinter der Rue Vaneau. Es handelte sich um „Le Pied de Fouet“, seinerzeit ein sehr kleines, billiges Restaurant. Mit seinem verdoppelten Raum inspirierte es in komprimierter Form die Disposition in den Wohnungen der Cité in Marseille. Tatsächlich vermaß Alain Taves das Restaurant und fertigte Pläne, die später publiziert wurden. Das Restaurant bezeichnete den fernsten Punkt, den wir unter Tage bei unseren „Exkursionen“ von unserem Zentrum, dem Platz der Madame Boucicault, erreichten. Es war eine kleine Welt, aber uns reichte sie aus, schließlich beschäftigte uns eine weit größere an unseren Zeichentischen in der langen Atelierbox. Frankreich lag gewissermaßen fern, denn hier genoss Le Corbusier wenig Anerkennung. Dafür stand uns die ganze Welt offen: von Brasília bis Milano, von Chandigarh bis Boston, von Fort-Lamy (N’Djamena) bis Venedig. Und sie wuchs mit der gewaltigen Aufgabe und der Stimulanz, Le Corbusier tagtäglich bei der Verwirklichung seiner Projekte zu unterstützen.



Fakten
Architekten Le Corbusier (1887–1965)
Adresse 33 Rue de Sèvres, 75006 Paris, Frankreich


aus Bauwelt 17.2011
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