Bauwelt

Die Wiederbelebung des urbanen Traums


Affordable Housing in New York


Text: Shane, David Grahame, New York


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    614 Marcy Avenue, Brooklyn
    Foto: Paul Warchol

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    2330 Bronx Park, Bronx
    Foto: Rodrigo Pereda

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    1401 Teller Avenue, Bronx
    Foto: Pedro Pulido

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    1401 Teller Avenue, Bronx

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    2950 Grand Concourse, Bronx
    Foto: Pedro Pulido

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    2950 Grand Concourse, Bronx

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    1974 Hughes Avenue, Bronx
    Foto: Jason Gibbs

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    1974 Hughes Avenue, Bronx

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    1501 St. Marks Avenue, Brooklyn
    Foto: Philippe Baumann

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    1501 St. Marks Avenue, Brooklyn

    Foto: Philippe Baumann

Mit einem Konzept formal strenger punktueller Eingriffe schaffen Jonathan Kirschenfeld Architects würdigen Wohnraum für sozial Benachteiligte – eine Methode, mit der sich auch der Stadtraum stimulieren lässt?
Aldo Rossi unterschied in seiner L’architettura della città (1966) zwischen den großen kollektiven Monumenten der Gemeinschaft und den Alltagsräumen der Stadtbewohner, dem städtischen Gewebe. Beide städtischen Systeme repräsentieren ein kollektives Gedächtnis, wenn auch in unterschiedlichem Maßstab. Beide Systeme bestehen in Rossis Sichtweise aus morphologischen Codes, die der Stadt ihre Individualität verleihen. Durch die Industrialisierung und die Entwicklung der Wissenschaften sind viele handwerkliche Traditionen in Vergessenheit geraten, die traditionellen Formen jedoch wurden zu kollektiven Archetypen, Erinnerungen und Symbolen für den Ort und seine Kultur. In den Arbeiten des New Yorker Büros Jonathan Kirschenfeld Architects kehren diese Archetypen als Inspiration für eine mutige Wiedererschaffung der verloren gegangenen Urbanität wieder, indem sie lokale Baugesetze und Besonderheiten in einem Höchstmaß ausreizen.
Kirschenfelds Entwürfe spielen mit der Gebäudetypologie New Yorks und den Codes, die diese Archetypen hervorgebracht haben (Anm.: Im Englischen bedeutet code zugleich „Gesetzbuch“). Er überspringt die Phase der tenement blocks, der Mietskasernen, und bezieht sich stattdessen auf Häuser mit Innenhof, auf U-förmige und andere Blockrandtypologien, wie sie in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts errichtet wurden und häufig in den Formen der Moderne oder des Art déco in weniger teuren Bezirken wie Brooklyn oder der Bronx entstanden. Das Büro bebaut außergewöhnliche, „irreguläre“ Bauplätze, Restgrundstücke im gerasterten Stadt­grund­riss, die durch ihre komplizierten Geometrien schlecht zu bebauen und zu vermarkten waren. Die Bauherren sind gemeinnützige Organisationen, die pflegerische Dienstleistungen und Wohnraum für Menschen mit besonderen Bedürfnissen, wie psychisch Kranke, ehemalige Obdachlose oder Menschen mit HIV-Erkrankung, anbieten. Bauen für supportive housing (betreutes Wohnen) wird weitgehend durch staatliche, bundesstaatliche oder lokale Stellen finanziert. New Yorks zoning code (Bauplanungsrecht) führt diese Gebäude nicht unter der Nutzungsart Use Group 2/Residential, die für die meisten Formen des Wohnens gilt, sondern unter Use Group 3/Community Facility. Darunter fallen nicht nur Bauten für betreutes Wohnen, sondern auch Wohngebäude, die von gemeinnützigen oder öffentlichen Organisationen unterhalten werden, zum Beispiel Studenten-, Senioren- oder Personalwohnheime.
Die Regularien der beiden Nutzungsgruppen unterscheiden sich wesentlich: In der Nutzungsklasse 3 gibt es keine Mindestgröße für Wohnungen (abgesehen von gesetzlichen Bestimmungen für barrierefreies Bauen), es gibt keine Begrenzung der Anzahl von Wohneinheiten pro Gebäude, es werden keine Stellplätze verlangt, und die Mindesttiefe des Hofes beträgt lediglich 20 feet (6,60 Meter) statt der 30 feet (9,10 Meter), die bei einer „normalen“ Wohnbebauung vorgeschrieben sind. Nur weil die Vorschriften für betreutes Wohnen in diesen Aspekten großzügiger sind als jene für allgemeines Wohnen, kann Kirschenfeld Archetypen wieder aufgreifen und Gebäude auf Grundstücken realisieren, die bei Immobilienentwicklern für eine Bebauung mit Mehrfamilienhäuser ausscheiden.
Stadt im Haus
Kirschenfeld schafft bemerkenswert großzügige öffentliche Räume innerhalb der Gebäude, was seine Vorstellung von Stadt durch komplexe Schnitte und Massenverteilung innerhalb vermeintlich simpler Grundrisse ins Innere überträgt. Am Hauseingang, dem Tor zur Stadt, sind aus Sicherheitsgründen Pförtner oder Concierges ein Muss, ein dahinter liegender Wartebereich leitet zu den Fahrstühlen und Treppenhäusern, Briefkästen, Waschküchen und Abfallräume gruppieren sich um die Aufzugskerne. An kleine Stadtplätze erinnernde Gemeinschaftsräume sind in der Regel im Erdgeschoss angeordnet und grenzen an den begrünten Innenhof, wie beispielsweise in der Marcy Avenue und der Hughes Avenue. In einigen Bauten sind im ersten Obergeschoss die Räume für die medizinische Betreuung angelegt oder aber die Reihung öffentlicher Räume führt bis in das oberste Geschoss und mündet in einen Gemeinschaftsraum von doppelter Höhe und ei­ner Dachterrasse wie beim Bronx Park East (mit einem prächtigen Loos’schen Fenster zum Park). Besondere Aufmerksamkeit wird auf Details gelegt: Bodenfliesen und Decken mit Hohlkehlen gliedern die Eingangssequenz, schmale Nischen mit Bänken vor den Aufzügen schaffen Ruhezonen. Auf den oberen Fluren markieren Auskehlungen in der Decke und Fußbodenmuster den Zugang zu jeder Wohnung.
Kirschenfelds strenge urbane Ordnung, die in seinen Lückenschließungen und Kleinstgrundstücken hierarchisch vom öffentlichen über den halböffentlichen in den privaten Bereich führt, ist extrem flexibel. An den ein- und zweihüftigen Fluren auf den Wohngeschossen reihen sich Einzimmerwohnungen auf, jede mit vollausgestatteter Küche und eigenem Bad. Zweihüftige Flure erhalten, wo es möglich ist, an den Enden Fenster, während die Mitte durch kleine Bewohner-Lounges hervorgehoben wird – ein weiterer urban marker. Einhüftige Flure wie bei den Gebäuden in der Teller Avenue und der St. Marks Avenue erhalten Tageslicht, hier durch eine Außenwand aus transluzenten Kalwall-Fiberglas-Paneelen, dort durch festverglaste Fenster mit darüber montierten Sprinklerköpfen – brandschutztechnisch die einzige Möglichkeit, auf der Grundstücksgrenze Öffnungen zu platzieren. Sogar innerhalb jedes Apartments versucht Kirschenfeld, den Raum mithilfe der Deckengestaltung zu zentrieren, jedem Ort eine stille Würde zu geben, und durch clevere Spielzüge in der Grund­rissarbeit exzellente Eckräume zu bilden, mit Fenstern nach zwei Seiten, wo die Lage es hergibt.
Die Arbeit von Jonathan Kirschenfeld bekräftigt das alte Diktum Albertis, dass ein Haus eine kleine Stadt und eine Stadt ein großes Haus sei. In diesem Fall ist das Haus elegant und wirtschaftlich eingebettet in die schützende Matrix von Codes und Regeln, die das Beste der urbanen Morphologie der Stadt reflektiert, und wird den Verletzlichsten und Gefährdetsten der Stadt zur Verfügung gestellt. Eine großartige Leistung, ein Netzwerk kleiner, erlesener „Monumente“, ein soziales Sicherheitsnetz, das größtenteils unsichtbar und kaum bekannt sei, aber das Leben der Stadt bereichere, wie es die New York Times formulierte. Das Blatt ordnete die Arbeiten Kirschenfelds in den größeren Rahmen der Initiative „Making Room“ ein, deren Ziel es ist, die Bauvorschriften New Yorks zu überarbeiten, um den Wohnungsbau an die heutigen Erfordernisse anzupassen (Bauwelt 4.2012). Dort lieferte das „Team R8“, dem Kirschenfeld angehört, Argumente dafür, die Logik seiner Bauten für betreutes Wohnen und die ihnen zugrunde liegenden Vorschriften auf den allgemeinen Wohnungsbau auszudehnen. Team R8 skizzierte dazu vier Neubauten für eine sozial gemischte Bewohnerschaft mit unterschiedlichen Einkommen am Grand Concourse in der Bronx und gestaltete den Boulevard in einen baumgesäumten öffentlichen Raum um.
Existenzminimum für die „creative class“
In dieser Rossi’schen Stadtphantasie einer Bottom-up-Lücken­schließung kehren die netizens, die neuen Netzbürger, aus der digitalen Kälte zurück, erobern die Bürgersteige und Mittelstreifen und erschaffen den mutigen und flexiblen Urbanismus der Zukunft. In einer surrealen Wendung rückt diese Lückenschließung mit Wohnbauten für Unterprivilegierte plötzlich den Grand Concourse in den Mittelpunkt, um einer neuen, unaufhaltsamen Aufsteigerbourgeoisie, der Generation fluider Netzwerker, zu dienen, die aus dem New Yorker Wohnungsmarkt herauskatapultiert worden ist. Solche Mikro-Eingriffe könnten die Stadt von unten her stärken, indem der momentan gefährdeten „kreativen Klasse“, auf deren Mitwirkung die Stadt auch in Zukunft nicht verzichten kann, eine vernetzte und hyperflexible Wohnung für das Existenzminimum angeboten wird. Aus dem kollektiven morphologischen Unbewussten New Yorks skizzieren Kirschenfeld und das Team R8 wie in einem Zaubertrick einen neuen Urbanismus jenseits von Rossis wildesten Träumen. 



Fakten
Architekten Jonathan Kirschenfeld Architects, New York
aus Bauwelt 10.2012
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