Bauwelt

Im Weg

Schuchows Radio­turm in Moskau droht der Abriss

Text: Schulz, Bernhard, Berlin

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Alexander Rodtschenko: Wache in der Nähe des Schuchow-Turms, 1929.
© VG Bild-Kunst, Bonn 2014

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Alexander Rodtschenko: Wache in der Nähe des Schuchow-Turms, 1929.

© VG Bild-Kunst, Bonn 2014


Im Weg

Schuchows Radio­turm in Moskau droht der Abriss

Text: Schulz, Bernhard, Berlin

Seit 92 Jahren tut der Stahlgitterturm nahe der Moskauer Metrostation Schabolowskaja seinen Dienst als Radiomast. Noch immer wird der nach seinem Schöpfer benannte Schuchow-Turm durch die nationale Rundfunk- und Fernsehanstalt RTRS verwaltet.
Die stellt seit einigen Jahren Überlegungen zur Zukunft des Turms an, der, 1922 nach dreijähriger Bauzeit fertiggestellt, zwar noch keine Anzeichen von Altersschwäche zeigt, womöglich steht dies aber in absehbarer Zeit zu befürchten. Die ursprüngliche Überlegung ging dahin, den Turm zu sanieren, inzwischen allerdings hegt man die Absicht, ihn nieder­zulegen. Beschwichtigend wird erklärt, den Turm an anderer Stelle wiederaufbauen zu wollen. Das angestammte Grundstück inmitten eines beliebten Wohnviertels aus der Spätphase der sowjetischen Architekturavantgarde, nicht weit vom Zentrum der ausufernden Metropole entfernt, möchte man für ein neues Geschäfts- oder Einkaufszentrum nutzen. Solche Pläne haben, wie man in Moskau aus leidvoller Erfahrung weiß, beste Aussicht auf Realisierung. Der Wiederaufbau eines einmal zerlegten Stahlturms eher nicht.
Warten auf Antwort von Putin
Doch jüngst hat sich weltweiter Protest gegen diesen kulturfrevlerischen Plan artikuliert. ICOMOS, das beratende Gremium für die Unesco-Welterbekon­vention, wandte sich Mitte März mit einem Offenen Brief an Wladimir Putin. Dringendes Anliegen des Briefes ist es, den russischen Staatspräsidenten von der Unterzeichnung einer Anfang März ergangenen Entschließung der Regierung abzuhalten, die eben dieses Vorhaben von Abriss und Wiederaufbau zum Inhalt hat. Von einer Antwort des Kremlherrn ist bislang nichts bekannt.
Es wäre auch ein Wunder. Das Erbe der russisch-sowjetischen Avantgarde, ob in Moskau oder erst recht in der Provinz, ist seit Jahrzehnten der Verwahrlosung und Zerstörung ausgesetzt. Unter dem Druck finanzstarker Investoren haben Tempo und Unverfrorenheit solcher Abrissaktionen nur noch zugenommen. Das ist hinlänglich bekannt, sowohl in westlichen Ländern als auch beim russischen National­komitee für Denkmalschutz. Entsprechende Resolu­tionen, insbesondere die der Moskauer Konferenz von 2006, „Erbe in Gefahr – Erhaltung von Bauten des 20. Jahrhunderts und des Welterbes“, verpufften bislang ohne Folge. Der immer weiter voranschreitende Verfall des im Westen geradezu als Ikone verehrten „Narkomfin“-Wohnkomplexes in Moskau legt davon Zeugnis ab. Dass unterdessen Iwan Nikolajews riesiges Studentenwohnheim von 1931 im Süden der Stadt mit seinen eintausend Zimmerchen zerlegt worden ist, hat kein Achtungszeichen gesetzt.
Das soll beim Schuchow-Turm nicht passieren. Der Gittermast entstand mitten in den Jahren des Bürgerkriegs nach der Oktoberrevolution von 1917, als dringend benötigte Funkverbindung in die entfernteren Gegenden des russischen Riesenreichs, aber auch als Symbol für die im März 1919 in Moskau gegründete Komintern, die Lenin als Vehikel der Welt­revolution sah. Der Entwurf stammt von dem Ingenieur Wladimir G. Schuchow (1853–1939), der hier sein revolutionäres Konzept eines Lattenwerks aus hyperbolisch gekrümmten, sich kreuzenden, dünnen Stahlstreben aus gelöteten Winkeleisen verwirklichen konnte. Freilich nicht in der ursprünglichen, auf 350 Meter Höhe gedachten Größe: Die dafür erforderlichen 2200 Tonnen hochwertigen Stahls waren in Sowjetrussland – die Sowjetunion wurde erst Ende 1922 gegründet – nicht aufzutreiben. So musste sich Schuchow auf Geheiß Lenins mit 160 Metern Höhe und einem Bruchteil des Materials begnügen. Materialersparnis war überhaupt ein Markenzeichen von Schuchows Arbeiten. Sechs nach innen gekrümmte, zugleich sich konisch verjüngende Elemente sind übereinander montiert und geben dem Gitterturm eine ungeahnte Standfestigkeit. Durch keinen Kern, keinen Aufzug oder Treppe – außer einer Leitertreppe am Rand – gestört, zeigt der Turm seine filigrane Struktur vor dem Hintergrund des wechselnden Wolkenspiels am Himmel.
Vorläufer eines Frei Otto
Schuchows Laufbahn reicht weit zurück in die Zarenzeit. Ende des 19. Jahrhunderts erwarb er Patente auf Stahlkonstruktionen. Er entwarf beispielsweise die tonnengewölbte Gleishalle des Brjansker – heute Kiewer – Bahnhofs, die noch den Konstruktivisten der 20er Jahre als Vorbild diente. Tonnengewölbt sind auch die Glasdächer der Passagen des Moskauer Kaufhauses GUM von 1894, für die Schuchow verantwortlich zeichnet. Für die Allrussische Gewerbeausstellung in Nischni Nowgorod konstruierte er zwei Jahre darauf vier Pavillons mit Hängedächern aus Gitterfaltwerk, die wie Vorläufer der „leichten Flächentragwerke“ eines Frei Otto wirken. Zahlreiche Wasserbehälter stellte er auf dünne Gittertürme, die der Last des viele hundert Tonnen schweren Wasserreservoirs Hohn sprechen. 417 Eisenbahnbrücken gehen auf sein Konto.
In Cherson am Schwarzen Meer errichtete Schuchow 1911 einen 68 Meter hohen Leuchtturm, der bis auf den massiven Laternenaufsatz dem Moskauer Radioturm verblüffend ähnelt. Im Zuge der Elektri­fizierung Russlands, des ehrgeizigsten Infrastrukturprojekts der frühen Sowjetunion, entwarf Schuchow Leitungsmasten von großer Höhe. Eine Fotoreihe der 1927 errichteten Doppelmasten am Fluss Oka südlich von Moskau zeigt den Aufbau ohne Krananlagen: Der jeweils nächsthöhere Ring wird im Inneren des Grundmoduls montiert, vorgespannt und mit schlichten Seilwinden durch die jeweils oberste Öffnung hochgezogen und dann nach Lösung der Vorspannung auf den obersten Ring montiert.
1929, zu Beginn der forcierten Industrialisierung des ersten Fünfjahrplans, erhielt Wladimir Schuchow den Leninpreis. Sein Moskauer Radioturm war da längst zur Ikone geworden. Eine Ikone, die auch heute noch Architekten bewegt: Die Petition zur Erhaltung des Baudenkmals haben unter anderem Tadao Ando, Eliza­beth Diller und Rem Koolhaas unterzeichnet. Ob das den Kreml beeindruckt? Zumindest derzeit scheint die Gefahr geringer geworden zu sein. Ein kürzlicher Besuch mit Blick auf den Turm – das eigentliche Grundstück ist nach wie vor strikt abgeriegelt – zeigte keinerlei Vorbereitung auf einen Abriss. Moskaus neuer Stadtarchitekt, der jugendlich-energische Sergej Kusnezow, will von den bisher gängigen Nacht-und-Nebel-Aktionen ohnehin nichts mehr wissen. Schuchows Geniestreich bekommt wieder Luft zum Leben.
Fakten
Architekten Schuchow, Wladimir Grigorjewitsch (1853-1939)
aus Bauwelt 26.2014
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