Bauwelt

Die künstliche Ruine im Prospekt der Villa Imperiale

Forschen mit Jan Pieper

Text: Pieper, Jan, Berlin

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Die künstliche Ruine im Prospekt der Villa Imperiale

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Text: Pieper, Jan, Berlin

Von der Nahsicht der historischen Bauforschung zum ganzheitlichen Blick der architektonischen Bedeutungsforschung am Beispiel einer Villa in der Nähe von Pesaro an der italienischen Adria
Die Villa Suburbana der Herzöge von Urbino ist das Meisterwerk des Raffael-Schülers Girolamo Genga (1476–1551). Sie wurde auf dem Colle San Bartolo oberhalb von Pesaro erbaut und gilt als das wichtigste Bauwerk der römisch geprägten Hochrenaissance außerhalb der Hauptstadt selbst, deren klassische Formen hier zugleich den wohlberechneten Brechungen eines äußerst subtilen Manierismus unterworfen sind. Nirgends sonst ist so Weniges in so monumentaler Größe gebaut worden, schreibt Jakob Burckhardt 1878.
Die Villa besteht aus einem sichtbaren und einem unsichtbaren Teil, die beide räumlich und konzeptionell eng aufeinander bezogen sind. Sie bilden eine Abfolge von architektonischen Themen, die sich nach und nach im Weg durch die Architektur, die Gärten und schließlich den dichten Wald bis hin zur Steilküste der Adria erschließen. Dort erhob sich als letztes Element der Baugruppe von Monte Imperiale ein Aussichtsturm auf dem Colle San Bartolo, auch er von unten aus unsichtbar, wie der größte Teil des Bauvolumens.
Der sichtbare Teil des Bauwerks präsentiert sich auf ei­nem weiten, ebenen Platz unterhalb des Waldes am Berghang. Dort stehen drei nach Bauform, Stil und architektonischer Gestik grundverschiedene Bautypen nebeneinander, die einen städtisch anmutenden Architekturplatz bilden. Vorn erhebt sich eine frei stehende Kastellvilla (Sforza-Villa genannt) in den Formen der Florentiner Palastarchitektur des 15. Jahrhunderts, ein Wehrbau mit hoch aufragendem Wachturm und zinnenbewehrten Ecken. Dahinter sieht man, gewissermaßen als Fond des Ensembles, eine monumentale mehrgeschossige Schaufassade, pilaster- und nischengegliedert, wie dies für die römische Architektur der Hochrenaissance charakteristisch ist, dabei aber ganz ohne Eingänge und nahezu ohne Fenster. Das Ganze ist von einer mächtigen Attika bekrönt, die auf einem weit ausladenden Gesims auflagert. Vor dieser Fassade steht links im Vordergrund ein weit vorspringender Annex, der heute komplettiert und mit Innenräumen ausgestattet ist, ursprünglich aber als künstliche Ruine ohne Dach, mit offenem Hof, scheinbar verfallener Attika und leeren Fensterhöhlen dastand.
Die mächtige Fassadenwand, die befremdlich isoliert in der weiten Landschaft steht, gehört eindeutig in den städtischen Zusammenhang, allerdings mit der Besonderheit, dass sie sich ausschließlich als eine monumentale Schaufassade präsentiert, als eine geschlossene, reich gegliederte Ansichtsfläche. Der Sockel ist in einer tiefen, fünfachsigen Arkadenstellung aufgelöst, hinter der sich ein kassettierter Kryptoportikus mit rückwärtigen halbrunden Nischen erstreckt; auch sie sind überwölbt und reich kassettiert. Mindestens zwei von ihnen enthielten ehemals Brunnen oder Wasserbecken, die noch im Boden vorhandenen Wasserleitungen belegen dies, und auch an den Enden des Portikus müssen sich ursprünglich Brunnen befunden haben.
Die Inschrift
In den halbrunden Nischen der Fassade des Hauptgeschosses waren rechts und links Statuen des Herzogs Francesco und der Herzogin aufgestellt, eingerahmt von eingetieften, pilastergerahmten Wandspiegeln. Im Gebälk liest man unter dem weit ausladenden Hauptgesims die lateinische Stiftungsinschrift in einfachen, klaren, auf Fernsicht berechneten Versalien: FR. MARIAE DUCI METAURENSIUM A BELLIS REDEUNTI LEONORA UXOR ANIMI EIUS CAUSA VILLAM EXAEDIFICAVIT. – „Für Francesco Maria, den vom Krieg heimgekehrten Herzog der Metaurer, hat Leonora, seine Ehefrau, diese Villa zu seinem Vergnügen erbaut.“ Die Inschrift benennt also die Herzogin als die Stifterin des Bauwerks und besagt, dass sie die Villa ihrem heimgekehrten Gatten „zu seinem Vergnügen“ oder „zu seinem privaten Zeitvertreib“ hat errichten lassen.
Die hoch aufragende Inschriftenwand ist nicht nur eine quasi städtische Platzfassade, sie ist auch ausgesprochen monumental gedacht und bis in die Einzelheiten herrschaftlich und repräsentativ. Jedes Detail, von der Profilierung der Wandfelder über die Kolossalordnung der Pilaster bis hin zur Kassettierung des Portikus und seiner Exedrenwand, bemüht das Repertoire der monumentalen Herrschaftsarchitektur. Und es verweist unübersehbar auf das antike Vorbild: Eine ähnliche architektonische Gestik kennt man von den römischen Foren und Triumphstraßen mit ihren riesenhaften Ehrenbögen, Inschriftenwänden und Schaufassaden, und es ist offensichtlich, dass eben diese Vorbilder hier zitiert werden sollten.
Aus dieser gewaltigen Schaufassade löst sich links der schon erwähnte Annex, der heute ganz unmotiviert als eine imposante Herrschaftsarchitektur mit Triumphbogenfassade aus der Inschriftenwand herausragt, ursprünglich jedoch als künstliche Ruine angelegt war, die mahnend vor der Staatsarchitektur des Hintergrunds stand. Die architektonische Gliederung mit Nischen und Pilastern entspricht in Stil und Formensprache der benachbarten Inschriftenfassade, jedoch ragte sie nur bis zur Höhe der Pilasterkapitelle empor. Der obere Abschluss war unregelmäßig abgetreppt, wie im natürlichen Verfall. Rechts überspannt ein Triumphbogen den Durchgang zwischen Kastellvilla und Fassadenwand, der im Obergeschoss einen Hochkorridor verbirgt. Dieser Übergang verbindet den Bau des 15. Jahrhunderts mit der Schaufassade der Hochrenaissance und dem davon verdeckten, unsichtbaren Gartenpalast des neuen Teils der Villa, der Imperiale Nuova.
Baugruppe
Die einzelnen Elemente der Baugruppe sind unregelmäßig gegeneinander verschoben. Man hat den Eindruck, Fragmente einer einst viel größeren, historisch gewachsenen Baugruppe vor sich zu haben, an der eine lange Geschichte ihre Spuren hinterlassen hat.
Der unsichtbare Teil der Villa – die Imperiale Nuova oder Rovere-Bau genannt –, der einen weitaus größeren Raum besetzt als der sichtbare, besteht aus einer Folge von Höfen und terrassierten Gärten, die sich in mehreren Stufen den steilen Hang hinaufziehen. Dieser Teil ist ganz von hohen Mauern umschlossen und als ein rechteckiger Block oder ein viereckiger Kasten mit abgetrepptem Boden in den Bergwald hineingeschoben. Von außen und von unten sieht man davon absolut nichts, denn die hohen Bäume des sich rechts und links weithin erstreckenden Waldes verbergen die Mauern, der Bewuchs reicht bis direkt an die Architektur heran, überragt sie haushoch und versteckt alles im undurchdringlichen Grün. Konsequenterweise hat dieser Teil der Villa auch keine Außenfassaden, vielmehr sind die Mauern so roh belassen, wie sie kunstlos aus groben Steinen und Ziegelbruch aufgemauert wurden. Man konnte und sollte davon gar nichts sehen, denn der dichte Wald, der diese Mauern versteckt, war immer schon da, er ist ein notwendiger Teil des Entwurfskonzepts.
Die Bauidee von Monte Imperiale erschließt sich erst im Durchschreiten der heterogenen Baugruppe, auf einem Weg, der nach Art eines Sacro Monte als Stationsweg angelegt ist, der nach und nach die verschiedenen Themen und Topoi der architektonischen Gesamtkonzeption miteinander verknüpft.
Man erreicht die Villa Imperiale von Westen kommend über die Strada Bocca del Lupo, die hinter Roncaglia von der Via Flaminia abzweigt. Von Osten, von Pesaro oder Urbino her, ist es die Strada di San Bartolo, die zum Monte Imperiale emporführt. Beide Wege münden oben auf dem Plateau, auf dem sich die Baugruppe erhebt, in eine etwa 500 Meter lange, schnurgerade Achse, die, parallel zur Via Flaminia verlaufend, mitten durch den Hof der Sforza-Villa hindurchführt. Von Osten geht es axial auf das stadtseitige Tor der Villa zu, doch sieht man rechts schon den Triumphbogen des Übergangs und dahinter die hoch aufragende Kulisse der fünfachsigen Schaufassade. Aus der entgegengesetzten Richtung geht man ebenfalls axial auf die Villa zu und sieht dann im Näherkommen linker Hand im Hintergrund die imposante Brunnenwand mit ihrem ruinösen Eckrisalit.
Gleichgültig also, von welcher Seite man sich dem Villenkomplex nähert, man sieht immer zuerst die städtisch anmutende Baugruppe der Sforza-Villa vor dem hoch aufragenden Prospekt der Inschriftenfassade, die als geschlossene Wand vor dem Bergwald steht, in den die terrassierten Höfe und Gärten der Imperiale Nuova von außen unsichtbar hineingehoben sind.
Werk der menschlichen Vergeblichkeit
Die Architektur dieser weithin sichtbaren, talseitigen Baugruppe ist monumental gedacht, sowohl die der altertümlichen Sforza-Villa wie auch die der pilastergegliederten Hochrenaissance-Fassade vor den unsichtbaren Gärten. Heute ist dies der einzige Eindruck, den der Prospekt der Villa hinterlässt, ursprünglich jedoch wurde er schon beim Betreten des stattlichen Platzes zurückgenommen, er wurde sogar als hinfällig und der Vergänglichkeit anheimfallend charakterisiert, denn die imposante Schaufassade endete in der Ruine: Der Annexbau, der als mächtiger Risalit auf der Westseite die Fassade begrenzt, ist in der gleichen Weise mit Pilastern und kassettierten Nischen gegliedert wie die Schaufront, die gleiche Ordnung beherrscht den Rhythmus der Achsen, und vor Kopf wird die große Gestik dieser Architektur gar noch zu einem Erscheinungsbalkon gesteigert, gerahmt von einem dreibogigen Triumphbogenmotiv, dies alles gleichsam ruinös. Doch dies verdankte sich nicht quasi schicksalhaft dem immerfort nagenden Zahn der Zeit, denn diese Ruine war nicht das Zeugnis eines langen Verfallprozesses – der Bau war von Anfang an als Ruine geplant (Zeichnung Seite 23). An prominenter Stelle des Ensembles erhob sich also eine künstliche Ruine als ein kolossales Vanitassymbol, das die Imposanz der gesamten talseitigen Baugruppe zum Werk der menschlichen Vergeblichkeit erklärte, die gewaltige Schaufassade mit ihren Inschriften und Statuen ebenso wie das Siegeszeichen des Triumphbogens und die martialische Kastellvilla.
Diese Bedeutung der künstlichen Ruine ist in der nachherrschaftlichen Nutzungsphase der Villa ab Ende des 18. Jahrhunderts in Vergessenheit geraten. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Ruine, die man für das Ergebnis eines jahrhundertelangen Verfalls hielt, restauriert und „komplettiert“. 1903 war alles fertiggestellt, die ehemalige Ruine war mit repräsentativen Innenräumen ausgestattet und damit zu einem Teil der Herrschaftsarchitektur geworden, die sie eigentlich mahnend konterkarieren sollte. Die ursprüngliche Bauidee war damit gründlich verfälscht. Der Rest des Ensembles von Monte Imperiale ist jedoch weitgehend unverändert erhalten.
Vom städtischen Vorplatz der talseitigen Baugruppe geht es weiter durch eines der beiden in der Achse liegenden Tore ins Innere der Sforza-Villa. Zunächst gelangt man in den Innenhof und glaubt sich augenblicklich in eine andere, längst vergangene Zeit versetzt. Die Säulen des Peristyls geben sich schon auf den ersten Blick als Kunstformen der Frührenaissance zu erkennen, wie auch außen die Zinnen und Maschikulis auf den vier Ecken der Villa oder der mächtige Wehrturm über dem östlichen Portal ein Bild früherer Kriegskunst vorstellen wollen. Überhaupt präsentiert sich die Sforza-Villa insgesamt als ein Bau aus der untergegangenen Epoche eines heldenhaften Rittertums.
Die Fresken
Aus dem völlig introvertierten Hof dieses altertümlichen Bauwerks, der einen Ausblick in die Landschaft nur zuließ, wenn man durch zwei Schlupftüren in der Außenwand der Hofhalle auf winzige Balkone hinaustrat, ging es dann ins Obergeschoss. Eine flache zweiläufige Treppe geleitet ins Piano Nobile, wo auf der Westseite die privaten Gemächer des herzoglichen Paares lagen. Die drei anderen Flügel, also das gesamte restliche Piano Nobile, sind mit Fresken ausgemalt. Das Thema dieses Zyklus ist die dem Bau der Villa unmittelbar vorangegangene Leidensgeschichte des Herzogs, der von seinem Lehnsherrn, Papst Leo X., aus dem eigenen Staat vertrieben worden war, da dieser seinen Neffen Lorenzo de’ Medici zum Herzog von Urbino machen wollte. Das Vorhaben scheiterte jedoch an dem unbeugsamen Gerechtigkeitssinn und den kriegerischen Tugenden Francesco Maria della Roveres, der in einem militärischen Bravourstück sondergleichen seinen Staat zurückeroberte. Diese Geschichte, die den Herzog schon zu Lebzeiten zu einer ritterlichen Legende werden ließ, wird in den Fresken des Piano Nobile erzählt. Die Kastellvilla der Sforza war damit zu einer Memorialanlage umgewidmet worden, die in dem Freskenzyklus der acht Säle und Kabinette die Vertreibung des Herzogs darstellt, das durch den Lehnsherrn – den Papst – erlittene Unrecht und die glückliche Wiedergewinnung der Herrschaft im heroischen Kampf gegen den übermächtigen Gegner. Dazu waren die Wohnbereiche der alten Villa, die sich zuvor dort befunden hatten, ihrer Funktion beraubt worden, die Kamine hatte man ausnahmslos beseitigt, um Malflächen zu gewinnen, auch die Türen und Fenster waren zu diesem Zweck verkleinert worden, und schließlich hatte man die gesamte Raumfolge nach einer umfassenden malerischen und thematischen Konzeption mit Ganzraumfresken ausgemalt (Foto Seite 17). Das Schema der Ausmalung ist immer das gleiche, die Wände sind ringsum in allseitig umlaufende Scheinausblicke aufgelöst, man blickt hinaus in fiktive Landschaften, sodass man in jedem Raum glaubt, sich in einem offenen Pavillon hoch über der Landschaft zu befinden. Auch die Decken sind großflächig in Scheinöffnungen aufgetan, und dorthinein sind gemalte Vela gehängt, die in akribischer Historienmalerei das dem Herzog angetane Unrecht darstellen und seine heldenhaften Taten, durch die er Staat und Herrschaft zurückgewann.
Die Sforza-Villa war damit von einem Wohnbau zu einer Memorialanlage umgewandelt worden. Zugleich wurde sie zu einem gemalten Vestibül des Gesamtkomplexes von Monte Imperiale umgestaltet, zu einer malerischen Einstimmung vor dem Aufstieg in den unsichtbaren Teil der Gartenhöfe, denn diese freskierte Raumfolge musste jeder durchschreiten, der in die hochgelegene Imperiale Nuova gelangen wollte.
Der Übergang
Über den Hochkorridor im Obergeschoss des Triumphbogens erreicht man den verborgenen Teil des Villenkomplexes und gelangt auf diesem Wege in die Abfolge von versunkenen Höfen, hängenden und umschlossenen Gärten und schließlich ganz oben auf die Dachterrasse, wo sich ein überwältigender Fernblick über das weite Land bis auf die Hügel von Urbino und die hohen Berge des Apennin auftut.
Mit dem Hochkorridor hat man den repräsentativen und institutionellen Teil der Villa hinter sich gelassen und befindet sich nunmehr im privaten Raum der Höfe und Gärten: in einer kastenartig geschlossenen, nach oben hin sich immer weiter öffnenden Gartenarchitektur, die sich in drei Stufen am steilen Hang des Bergs aufbaut. Obwohl die Baumassen der Substruktionen, Terrassen und Umfassungsmauern, die eine Grundfläche von etwa 40 x 80 Meter bedecken, wahrhaft gewaltig sind, enthält dieser Gartenpalast doch kaum nutzbare Innenräume. Hinter der talseitigen Fassade liegt nur ein schmaler Riegel mit zwei sehr kleinen Appartements und einer Folge von Kabinetten, die zudem nahezu ausnahmslos zum Hof und Garten hin orientiert sind, sodass es nach außen nur zwei Fenster gibt.
Die Appartements haben jeweils drei winzige Zimmer, noch kleiner sind die Kabinette im Geschoss darüber, und außer den Grotten und den Treppen an den Schmalseiten des Hofes sind dies die einzigen nutzbaren Innenräume in der gesamten Baumasse. Zudem ist die Imperiale Nuova auf den Ebenen ihrer Wohngeschosse völlig introvertiert, aus den Appartements en miniature blickt man nur in den Hof, nicht aber in das weite Landschaftspanorama, das sich unterhalb auftun würde. Die Landschaft wird förmlich ausgeblendet, und dies bei einer Villa, dem Architekturtypus also, der sich eigentlich die Hinwendung zur Natur und Topographie angelegentlich sein lässt.
Ebenso ungewöhnlich wie diese offensichtlich funktionslose Architektur ist auch die Konzeption der Gärten mit den umliegenden Wäldern, die das formale Parterre direkt umschließen, ja geradezu bedrängen. Alle klassischen Begriffe der Gartenkunst der Renaissance versagen hier, denn der rückwärtige, im Wald verborgene Teil des Komplexes ist schwerlich als ein Villengarten im klassischen Wortsinn zu bezeichnen. Er dient nicht als Ergänzung der Wohnungen, nicht als gärtnerischer Schmuck vor den Fenstern oder als bepflanzte Erweiterung des Innenraums, zu Spaziergang und Aufenthalt im Freien einladend, er ist überhaupt nicht auf die Wohn- oder Aufenthaltsräume hin ausgerichtet, sondern als architektonisch selbständige, abseits gelegene und nur auf sich selbst bezogene Anlage konzipiert. Der gesamte rückwärtige Teil der Villa ist von den Innenräumen – vom „Haus“ aus – überhaupt nicht einzusehen, er ist bewusst abgekoppelt, liegt erheblich höher und ist, über verborgene Treppen, wie ein Berg zu erklimmen.
Autonome Gärten
Die Gärten der Imperiale Nuova haben also mit den üblichen Gartenfunktionen der Zeit nicht das Geringste gemein. Sie sind keine gärtnerische Ergänzung der Architektur, sondern stehen vollkommen autonom für sich. Und dies in voller Absicht, denn die Gärten sollen als architektonische Inszenierungen der Natur in ihren elementaren Erscheinungsformen begriffen werden, die nicht der bewohnten Architektur zugeordnet sind; sie stehen für sich als selbständige Darstellungen der Natur in architektonischer Fassung. Deshalb erschließen sie sich auch nicht beiläufig als Prospekt vom Fenster aus oder als Spazierweg vor der Gartentür, man muss sie bewusst aufsuchen wollen und über Geheimtreppen zu ihnen emporsteigen, um sie dann absichtsvoll zu betrachten. So kann man wohl sagen: Der gesamte rückwärtige, im Wald verborgene Teil der Anlage aus Grotten, Gärten und Waldkulisse ist ein architektonisches Konstrukt zur verdeutlichenden Fassung und Rahmung der Natur, er dient der nahsichtigen Kontemplation der drei Naturreiche: des Reichs der Minerale in den Grotten, der Pflanzen in den von Mauern umschlossenen hängenden und versunkenen Gärten, schließlich der Tiere, die dort gehalten wurden oder auch wild in dem dichten Bergwald lebten, der in das letzte, hochgelegene Gartenparterre von allen Seiten hineindrängt.
Colle San Bartolo
Auf der Rückseite des obersten Gartens führt eine Tür hinaus in den Wald, der Weg geht durch dichtes Unterholz und einen stattlichen Hochwald weiter den Berg hinauf. Oben auf der Kuppe, nahe dem höchsten Punkt des Colle San Bartolo, lichtet sich die Wildnis, eine weite Wiesenfläche öffnet sich auf die Steilküste, die hier unvermittelt zum Meer hin abbricht. Man blickt auf den weiten Horizont, scheint über dem Meer zu schweben und sieht ringsum das erhabene Schauspiel von Wind und Wetter, erlebt den Wechsel der Jahreszeiten, den Aufgang und den Untergang der Sonne, und des Nachts sieht man in einer durch nichts gestörten Rundumsicht die Bewegungen der Sterne über sich. An dieser Stelle stand die Vedetta, ein Aussichtspavillon mit umlaufenden Dachterrassen und ei­nem Beobachtungszimmer im höchsten Geschoss. Die Vedetta, die Anfang des 18. Jahrhunderts abgebrochen wurde, war die letzte Station des Weges durch die Gesamtanlage und in gewisser Weise das eigentliche Ziel. Sie war gebaut wie ein Observatorium, nicht unbedingt für naturwissenschaftliche Beobachtungen, wohl aber zum Betrachten von Naturerscheinungen wie dem Lauf der Gestirne am Firmament, vor allem aber auch der heftigen, jahreszeitlich bedingten Stürme und Unwetter. Damit sind die grundlegenden Baugedanken der Villa Imperiale in aller Kürze beschrieben.
Architektonischer Stationsweg
Der Bau ist somit als ein architektonischer Stationsweg angelegt, der aus der hochartifiziellen Memorial- und Repräsentationsarchitektur des sichtbaren Teils des Ensembles durch die von unten unsichtbaren Gärten hinaus in die Weite der Natur führt. Aus der Enge der Höfe mit ihren Grotten geht es hinauf zu den Terrassen und in die hochliegenden Gärten mit ihrer nahsichtigen Fassung der Natur, die hier in einzelnen, architektonisch gerahmten Pflanzen quasi lexikalisch vorgeführt wird. Am Ende steht man vor dem Panorama über dem weiten Horizont des Meeres, vor dem Schauspiel der Naturgewalten und im Anblick der gesetzmäßigen Bewegungen der Gestirne. Der Weg durch die Villa führt also aus der Architektur der Herrschaft und ihrer Institutionen in die gottgegebene Naturordnung. Die Ruine am Anfang des Wegs erklärt den sichtbaren Teil der Villa mit ihrer ponderanten Herrschaftsarchitektur zum Inbegriff menschlicher Vergeblichkeit, ebenso wie das darin in den Fresken des Memoriale inszenierte historische Drama des herzoglichen Kampfs um Staat und Herrschaft. Aus dieser Vergangenheit führt der Weg in die zeitlose Gegenwart der Natur, so wie sie sich in den hochgelegenen Gärten vor der Waldkulisse präsentiert. Und nicht einen Augenblick zweifelt man, dass dieser Aufstieg auch als ein wahrer Ascensus im übertragenen Sinne begriffen werden soll, der aus der Nichtigkeit der menschlichen Konstruktionen von Amt und Würden, wie sie die Architektur repräsentiert, in die wahre Größe der göttlichen Schöpfung führt.
Rekonstruktion der Ruine
Die Ruine vor der repräsentativen Schauwand der Imperiale Nuova ist ein Schlüsselelement für diese Lesart von Programm und Konzept der Villa insgesamt – sie gehört also zu dem Weg, der aus der historischen Vergangenheit der Kastellvilla und der Inschriftenwand in die zeitlose Gegenwart der Natur in Wald und Gärten führt, aus der eng umschlossenen quasi städtischen Architektur am Anfang dieses Wegs hinauf zu dem weit offenen Panorama von Meer und Landschaft.
Der ruinöse Vorbau der Fassade ist heute repariert und komplettiert, keine Ruine mehr, sondern ein weiterer herrschaftlicher Flügel, sodass die eigentliche Botschaft des Ensembles verlorengegangen ist. Mit den Methoden der Bauforschung lässt sich jedoch das ursprüngliche Aussehen der Ruine zuverlässig rekonstruieren, und in der Rekonstruktion lässt sich zugleich die Bedeutung wiedergewinnen, die diese ganz ungewöhnliche, tentakelartig in den Raum ausgreifende Flügelarchitektur für das Programm der Villa insgesamt besessen hatte. Sie ist in gewisser Weise der Schlüssel zur Ikonologie des Ganzen, und die historische Bauforschung wird damit zum Instrument der architektonischen Bedeutungsforschung.
Der frei stehende Seitenflügel mit der vorgeblendeten Triumphbogenfassade war bis in die 1880er Jahre ruinös. Die Umfassungsmauern ragten als Fragment bis ungefähr zum Ansatz des Gebälks über den Pilasterkapitellen hinauf, und sie umschlossen einen leeren, nach oben offenen Hohlraum, eine Karkasse, durch deren fensterlose Öffnungen man auf die rückwärtigen, im Verfall begriffenen Mauern blickte.
Dann wurde der Annex restauriert und mit einer Dachterrasse ausgestattet, die es auf dieser Seite jedoch niemals gegeben hatte. Denn die Restaurierungsarbeiten der 1880er Jahre vollendeten etwas, was nie vollendet werden sollte: Die Ruine, die alle historischen Quellen zeigen, ist Konzept. Der westliche Seitenflügel ist von Anfang an eine künstliche Ruine gewesen, so wurde er entworfen und gebaut.
Der Beweis
Dass dies alles so und nicht anders gewesen ist, legt die historische Bauforschung mit ihren verschiedenen Methoden Schritt für Schritt offen. Zunächst einmal belegen dies die erhaltenen Bilddokumente, denn dieser Flügel der Imperiale ist nie anders dargestellt worden denn als Ruine. Schon die älteste, Tizian zugeschriebene und auf 1538 datierte Zeichnung „eines Venezianers“ zeigt den Westflügel ruinös – nicht unvollendet, denn dazu fehlen die am Bau benötigten Gerüste –, mit Umfassungsmauern, die nur bis zur Höhe des Gebälks reichen. Die oberen Schichten sind unregelmäßig abgetreppt, denn hier sollte ja ein Bild des Verfalls suggeriert werden, einer durch Witterungseinflüsse allmählich abgetragenen Wand.
Die übrigen erhaltenen Bilddokumente, kaum mehr als ein Dutzend bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, bestätigen diesen ursprünglichen Ruinenzustand des Annexbauwerks. Aber wichtige Informationen über den originalen Charakter des Seitenflügels als künstliche Ruine enthalten auch die Fotos, die von der Villa noch vor der Restaurierung gemacht worden sind. Neben den Fotografien von Theobald Hofmann, die den Artikel von Fritz Seitz in der Deutschen Bauzeitung (75–77, 1905) illustrieren, ist dies vor allem eine Frontalansicht von Süden, kurz vor der Restaurierung aufgenommen, die so gestochen scharf ist, dass man selbst kleinste Einzelheiten erkennen kann. Dort sieht man, als ersten deutlichen Hinweis auf die eigentlichen Planungsabsichten, dass hinter der Ruine in der Wandebene der Hauptfassade ein Streifen Stockmauerwerk in Höhe des Hauptgesimses durchläuft.
Es handelt sich um die gleichen, 49 Zentimeter hohen und 13 bis 16 Zentimeter tiefen, horizontalen Aussparungen, die überall dort im aufgehenden Mauerwerk freigehalten wurden, wo später ein Werksteingesims eingesetzt werden sollte. Um bis dahin die Stabilität zu gewährleisten, mauerte man unter den Stößen der auskragenden Schicht provisorisch schmale, halbsteinige Ziegelpfeiler auf, fünf oder sieben Schichten hoch, die nicht in den rückwärtigen Verband eingebunden waren und die man beim Einsetzen des Werksteins leicht wegschlagen konnte. Neun solcher Stützpfeiler sind im Stockmauerwerk zu erkennen.
An dieser Stelle sollte also das Hauptgesims der Inschriftenfassade durchlaufen. Dies bedeutet, dass die Umfassungsmauern der Ruine tiefer ansetzten und nicht in das Gesims eingriffen. So zeigen es auch die historischen Ansichten und so bestätigt es ein Inventar von 1757/60, das für die Ostfassade der Ruine festhält, dass hier die Pilaster keine Kapitelle besitzen, eben weil das Mauerwerk nur bis auf diese Höhe hinauf reichte und rund zwei Meter unter dem Gebälk endete.
Es war also geplant, die Architekturgliederung des Hauptgesimses hinter der Ruine ganz oder teilweise durchlaufen zu lassen, um es dann um die Ecke bis zum Ende der Belvederepavillons zu führen. Denn an beiden Seitenwänden der Imperiale Nuova sieht man das gleiche Stockmauerwerk zur Aufnahme der Werksteingesimse wie hinter der Ruine. Der gesamte Block des Corps de Logis sollte also von einem weit ausladenden Gesims umfasst werden, das dann allerdings nur in dem Abschnitt zur Ausführung gekommen ist, in dem die Inschrift angebracht wurde.
Das Foto zeigt noch ein weiteres wichtiges Detail. Durch den verfallenen Mittelbogen der Blendfassade der Ruine sieht man in der Achse der Belvedereöffnung unterhalb ein Rundfenster, das genau auf der Höhe der Verdachungen der Ädikulafenster und der Bögen über den Rundnischen der Hauptfassade liegt. Auch im Durchmesser entspricht es exakt der Giebelhöhe der Verdachungen, sodass also die architektonische Ordnung der Fassade bis in den Hintergrund der Ruine fortgeführt wird. Das Rundfenster gehört zu einer ehemaligen Kapelle im Piano Nobile der Imperiale Nuova, wo es hoch in der Südwand über dem Altar angebracht war. Ein Fenster ist an dieser Stelle nur dann sinnvoll, wenn es in einer Außenwand liegt, wenn es also ins Freie führte, um Licht in die Kapelle zu bringen. Hätte dort ein geschlossener Raum gelegen und nicht der Außenraum der nach oben offenen Ruine, der den Lichteinfall nicht behinderte, wäre das Rundfenster blind und nutzlos gewesen.
Teil der Natur
Die Ruine war aus der Villa selbst gar nicht zu betreten, sondern nur durch eine Tür in der Außenwand, die heute zugesetzt ist, deren Segmentbogen aber sich noch deutlich im Mauerwerk abzeichnet. Der Seitenflügel stand also in keinerlei Verbindung mit den Innenräumen der Imperiale Nuova, er war als Außenraum Wind und Wetter ausgesetzt und damit eigentlich nicht mehr Teil der Architektur. Er gehörte schon zum Wald, war bereits Teil der Natur – eine Ruine eben, die zeigen will, wie sich die Natur das Werk von Menschenhand wieder angeeignet hat.
Aus den historischen Darstellungen, den Befunden am Bau und den Maßen und Festpunkten, die die Bauaufnahme liefert, lässt sich sehr genau rekonstruieren, wie diese Ruine ursprünglich ausgesehen hat. Im Äußeren stellen sich eigentlich keine Fragen, da es Ansichten aus ganz unterschiedlichen Perspektiven gibt, die das Erscheinungsbild der Ruine präzis festhalten. Die Fassaden waren genau so gegliedert wie heute, nur eben ruinös, die Fensterhöhlen leer, der Triumphbogen ohne Balustraden, die Mauerkronen wie weggebrochen, das Ganze wie im Verfall begriffen.
Ockrige Schlämme
Wenn die Fassade der Imperiale als Außenwand durchlief, muss sie auch die gleiche Fassung und Oberflächenstruktur besessen haben wie die übrigen Außenwände. Die Südfassade der Villa, die sich hinter der Ruine fortsetzte, ist ziegelsichtig gemauert, aber die Fugen sind im gleichen Arbeitsgang beigestrichen und das fertige Mauerwerk wurde abschließend mit einer ockrigen Schlämme überzogen, die jedoch so dünn ist, dass das Fugenbild noch sichtbar blieb. Genau diese Fassung, wie sie für alle Fassaden der Imperiale als bauzeitlich nachgewiesen ist, findet sich auch hinter dem teilweise aufgebrochenen Putz des 19. Jahrhunderts in den Räumen, die bei der Restaurierung in der ehemaligen Ruine eingebaut worden sind. Dies beweist, dass an der Stelle der heutigen Innenräume im Annex ein offener Außenraum lag, der Wind und Wetter ausgesetzt war, ohne Dach und nur von den durchbrochenen Wandfragmenten der Ruine umschlossen. Hätte sich hier im­mer schon ein Interieur befunden, würde man unter dem Putz der Restauratoren die typischen hochwertigen und glatten Kalkputze der Bauzeit finden, wie sie in allen herrschaftlichen Wohnräumen des Piano Nobile aufgebracht wurden, nicht aber die dünne Fassadenschlämme, wie man sie auf allen äußeren Ansichtsflächen vorfindet.
Eine letzte Beobachtung am Bau selbst: Auch die Ruine war mit der gleichen dünnen Putzschlämme überzogen wie die Inschriftenfassade, sie hatte die gleiche hell-gelbliche, zum Ocker hin changierende Fassung und sollte damit offensichtlich als integraler Teil der monumentalen Baugruppe wahrgenommen werden. Diese auch farblich genau auf die Inschriftenwand abgestimmte Schlämmputzfassung ist ein letztes Indiz dafür, dass auch dieser Bauteil der Imperiale fertig geworden ist und nicht unvollendet liegen blieb. Denn auf einer Ruine bringt man nur dann eine abschließende Farbfassung auf, wenn sie Ruine bleiben soll. Die gleiche Fassung, und damit wäre dann alles gesagt, findet sich eben auch unter dem Putz des 19. Jahrhunderts auf der Innenwand zwischen Kapelle und dem heutigen Archivraum im Annex – auf der Wand also, die die Restauratoren bei der „Fertigstellung“ des Bauwerks zur Innenwand gemacht haben, die aber ehemals die Außenwand des Corps de Logis im Hintergrund der Ruine gewesen ist.
Fakten
Architekten Genga, Girolamo (1476-1551)
aus Bauwelt 45.2013
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