Made in Bombay
Anupama Kundoo über die Stadt, in der sie aufgewachsen ist, die sie wahlweise Mumbai, Bombay oder Bam-bay nennt, über Wohnen, das zur Ware geworden ist und über ihre Hoffnungen.
Text: Heinich, Nadin, München
Made in Bombay
Anupama Kundoo über die Stadt, in der sie aufgewachsen ist, die sie wahlweise Mumbai, Bombay oder Bam-bay nennt, über Wohnen, das zur Ware geworden ist und über ihre Hoffnungen.
Text: Heinich, Nadin, München
Sagst Du Mumbai oder Bombay?
Bombay.
Immer?
Wenn ich Marathi spreche, sage ich Mumbai, in Hindi sage ich Bambay, im Englischen Bombay.
Was ist die Sprache deiner Kindheit?
Bengali. Das ist meine emotionale und kulturelle Sprache, die der Musik und Poesie. Meine Eltern sind beide Bengalen. Die Hauptsprache meiner Mutter war Bengalisch. Sie ging auf eine bengalische Schule. Bestimmte Begriffe kann ich nur in Bengali sagen. Meine Eltern konnten jedoch auch Englisch und Hindi. Je nach Situation, wenn uns Gäste besuchten, wechselten wir. Meine technische Sprache ist Englisch. Ich bin auf eine englischsprachige Schule und Universität gegangen. In der Schule wurden auch Hindi und Marathi sowie Französisch unterrichtet. Französisch hat mir die Tür zu den anderen Fremdsprachen geöffnet, die später in meinem Leben dazugekommen sind, Spanisch und Deutsch. Hindi und Marathi waren Sprachen, die in meiner Kindheit überall um mich herum gesprochen wurden. Das indische Kino war in Hindi. Viele meiner al-ten Lieblingssongs sind in Hindi.
Wie viele verschiedene Sprachen werden in Indien gesprochen?
Es gibt 22 offiziell anerkannten Sprachen, jede hat zudem mehrere Dialekte. Für Inder ist es natürlich, von einer Sprache zur anderen zu wechseln. Wir vermischen sie auch. Es gibt ein indisches Englisch, das Hindi-Englisch, das eine Menge Hindi-Ausdrücke enthält, die viel präziser sind. Es gibt keinen Druck, eine Sprache perfekt zu beherrschen. Wenn du Fehler machst, korrigiert dich niemand, denn alle wissen, dass es deine dritte, vierte oder fünfte Sprache ist. So entsteht dieser Schmelztiegel. Ich übernehme in mein Englisch bestimmte deutsche Wörter, die für mich so typisch sind, dass ich sie einfach über- nehmen muss.
Du bist in Pune geboren und mit fünf Jahren nach Mumbai gezogen. Welche Erinnerungen hast du an das Bombay deiner Kindheit?
Ich bin in Kalina, zwischen Santa Cruz und dem Bandra Kurla Complex, aufgewachsen. In Kalina befindet sich auch eine der ältesten Universitäten Indiens. Für mich geht es jedoch nicht so sehr um bestimmte Orte oder Gebäude, sondern um die Lücken, die Wildnis dazwischen. Abgesehen vom kolonialen Teil, in dem eine gewisse Kohärenz herrscht, ist Bombay ein uneinheitlicher Flickenteppich. Für mich besteht das Mumbai meiner Kindheit vor allem aus schönen tropischen Bäumen – und aus herrlichen Sonnenuntergängen.
Wir waren uns der kolonialen Geschichte der Stadt bewusst. Und dass es eine vorkoloniale Geschichte gab, etwa die Siedlungen der Ostinder oder der Fischer, etwa in Bandra, wo jetzt Hochhäuser gebaut werden. Die verschiedenen Ebenen der Geschichte existierten nebeneinander. In den Zwischenräumen gab es „wilde Flecken“, die mich immer wieder faszinierten. Wenn wir frühmorgens zur Schule gingen, nahmen wir diese Abkürzungen – ob es tatsächlich Abkürzungen waren, weiß ich nicht – schlängelten uns da durch. Es gab Schmetterlinge, Hunde, Mungos, Büffel, Leute hielten Schweine in ihren Häusern. Wir hörten sie quieken und dachten: „Oh Gott, heute ist wieder Schlachttag.“ Die Milchmänner fuhren mit ihren Fahrrädern die Milch aus. Wir sahen all die Menschen, die hart arbeiteten, eifrig etwas vorbereiten oder verpackten. Ich liebe es, Menschen zu beobachten.
Ist Bombay für dich eine schöne Stadt? Wenn Touristen das erste Mal nach Indien reisen, dann eher nach Delhi, Agra und Jaipur. Mumbai ist nicht unbedingt der erste Anlaufpunkt.
Für mich liegt die Schönheit nicht nur im Visuellen, sondern in der Lebendigkeit, dem Puls ei-ner Stadt. Mumbai hat einen sehr eigenen Puls, einen, den man stärker spürt als sieht. Ich liebe diesen Puls, weil er ungeheuer lebendig ist.
Mit Anfang zwanzig bist du nach Tamil Nadu gegangen, hast später in London, New York, Brisbane, Madrid und Berlin gelebt. Jetzt hast du wieder ein Büro in Bombay eröffnet. Ist die Stadt immer dein Zuhause geblieben? Was hat sie dich gelehrt?
Nach dem Ende der Schulferien mussten wir immer Aufsätze darüber schreiben, was wir in den Ferien erlebt hatten. Die meisten von uns fuhren in ihre Heimatstädte. Ich kam nach Hause und fragte meine Eltern: Wo ist unser Heimatort? Warum machen wir dort keinen Urlaub? Dann habe ich verstanden, dass meine Eltern aufgrund der politischen Entwicklungen – ein Großvater war Freiheitskämpfer, der anderer stammte aus Dhaka, heute Bangladesch – nach Maharashtra zogen, ihre Heimat verloren hatten. Sie waren aus politischen Gründen entwurzelt.
Für mich war es normal, ein Mensch ohne Wurzeln zu sein. Bombay gab mir dieses Gefühl der Normalität, weil ich nicht die Einzige war. In der Schule musste ich nie erklären, warum ich zu Hause Bengali spreche und warum mein Bengali trotzdem nicht so gut ist. Meine Eltern brachten es mir bei, aber ich habe keine bengalische Literatur gelesen, nur die, auf die meine Eltern bestanden, die Lieder, von denen meine Eltern meinten, dass wir sie kennen sollten. Bombay hat mir jeden Tag vor Augen geführt, dass wir nicht von hier stammen – genau wie viele andere auch. Das hat mir zutiefst bewusst gemacht, dass wir mehr gemeinsam haben, als dass wir verschieden sind, dass wir alle miteinander verbunden sind, wichtig und unwichtig zugleich.
Als ich 1989 auszog, merkte ich schnell, was eine der größten Herausforderungen Mumbais ist: in dieser Stadt wirtschaftlich zu überleben. Ich hatte kein eigenes Einkommen und auch keine Ahnung, wie teuer das Leben in Mumbai ist. Wie ein Tiger im Dschungel, der jeden Tag aufwacht und zunächst nicht weiß, wovon er sich ernähren soll. Ich habe mich bewusst für das Abenteuer entschieden, weil ich nicht glaube, dass zu viel Sicherheit und Komfort gut sind. 1990 bin ich nach Auroville gezogen. Ich hatte nicht das Gefühl, Mumbai zu verlassen, sondern meine Flügel auszubreiten, meine Wurzeln aus-zuweiten, mich nun in die Welt hinauszuwagen. Bombay war bereits eine Momentaufnahme der Welt – nun fing ich an, mich in der Welt zu Hause zu fühlen. Es kamen immer mehr Orte hinzu.
Wie ein Baum, der immer weitere Wurzeln entwickelt, immer mehr synthetisieren kann. Und jeder Zweig bringt eine Frucht und eine Blüte hervor.
Wie ein Baum, der immer weitere Wurzeln entwickelt, immer mehr synthetisieren kann. Und jeder Zweig bringt eine Frucht und eine Blüte hervor.
Wenn du das Bombay deiner Kindheit mit dem Bombay von heute vergleichst – was hat sich am meisten verändert?
Die Art und Weise, wie die Wohngebiete mitsamt den Hochhäusern heute aussehen. Damit meine ich nicht nur die Höhe der Häuser, sondern auch die Gliederung, wie viele Stockwerke im unteren Bereich für Parkplätze vorgesehen sind, wie der öffentliche Raum gestaltet und genutzt wird. In meiner Kindheit gab es nicht viele Autos. In den Parsi-Kolonien und den Hindu-Kolonien spielten wir einfach vor dem Haus, mit jedem, der da war. Es gab ein Gemeinschaftsleben in diesen Siedlungen.
Jetzt ist Wohnen zur Ware geworden. Es geht weniger um Lebensraum, sondern vor allem um Investitionen. Wir sprechen vom BHK-System: „Bedroom, Hall, Kitchen“. Die Entwickler bieten Standard-Lösungen in dieser oder jener Größe an. Vor zwei Jahren habe ich einen Workshop mit dem Titel „Beyond BHK“ veranstaltet. Wie bringen wir wieder Leben in den öffentlichen Raum? Wie verhindern wir, dass sich immer mehr Menschen die Stadt nicht leisten können und immer weitere Strecken pendeln müssen? Diese Prob-leme gab es auch früher schon, aber sie haben sich sehr verschärft. Ich frage mich: Wieviel kann dieser Ort aushalten?
Daran anknüpfend: Was sind die größten Herausforderungen für die Stadt?
Zum einen der Verkehr, die Mobilität. Ich bin in einem Bombay aufgewachsen, in dem der öffentliche Personennahverkehr fantastisch funktioniert hat. Bald ist jedoch alles aus den Nähten geplatzt. Es wurden einige große, mutige Schritte unternommen, wie der Bandra–Worli Sea Link, der Mumbai Trans Harbour Link und die Coastal Road. In einer Megastadt wie Mumbai liegt die Lösung nicht in kleinen Gesten. Wir werden sehen, wohin das führt.
In meiner Kindheit und Jugend waren wir es gewohnt, vieles zu Fuß und in der unmittelbaren Nachbarschaft zu erledigen, Obst, Gemüse, Fisch und Milch um die Ecke einzukaufen. Die neuen klimatisierten Shoppingcenter prägen eine eher westliche Art des Einkaufens. Gated Communities und Gated Shopping – sie orientieren sich eher nach innen als zur Straße. Für mich fühlt es sich wie eine Flucht in eine andere Realität, eine Blase an. In Indien existiert beides noch nebeneinander. Die Herausforderung besteht darin, das richtige Maß zu finden, damit die Intimität des täglichen Lebens, die das Leben in der Stadt lebenswert macht, nicht verloren geht.
Die Umweltverschmutzung und der Müll, den eine so dichte Megacity produziert, sind ein großes Thema. Ich sehe jedoch ein wachsendes Bewusstsein bei den Bewohnern und ein immer größeres Verständnis für nachhaltige Lieferketten. Und natürlich ist eine große Herausforderung bezahlbarer Wohnraum, insbesondere für die junge Menschen, die gerade ihren Abschluss gemacht haben und anfangen zu arbeiten. Wir brauchen mehr architektonische Innovation, nicht nur die üblichen standardisierten Grundrisse. Auch sollte der Wohnungsbau nicht nur den privaten Entwicklern überlassen werden. Ich warte immer noch darauf, dass die Stadt mächtig und reich genug wird, um sich des Wohnungsbaus anzunehmen – und mit mutigen Großprojekten vorangeht! In einer Stadt der Größe Mumbais sollte der Wohnungsbau Teil der kollektiven Infrastruktur sein, nicht nur die Kanalisation und die Wasserversorgung.
Mir wurde erzählt, dass Bombay so vom Geschäftemachen bestimmt wird, dass man hier sogar das Gras für die Kühe, die man manchmal am Straßenrand sieht, kaufen muss, um die Tiere berühren zu dürfen. Ist das Bombay von heute vor allem vom Geld getrieben?
Nein, das glaube ich nicht. Für den Immobilienmarkt mag das gelten, für alles andere nicht. Für mich ist Bombay ein sehr großzügiger Ort. Im Zug quetschen sich Menschen auf einem Dreier-Sitzplatz zusammen, um noch einer vierten Person Platz zu machen. Ich sehe Menschen, die den Hund oder die Katze von irgendjemandem füttern, den Rikschafahrer, der dich transportiert, auch wenn du nicht genügend Kleingeld dabeihast. Ich sehe Großzügigkeit in vielen kleinen Gesten. Zugleich liebe ich die Kultur der Verantwortung in Mumbai. Die Menschen sind zuverlässig und lösungsorientiert. Die Stadt erzieht dich zu einer Person, die Dinge erledigen muss. Und ich mag dieses Gleichgewicht zwischen Fortschrittlichkeit im Sinne von Zukunftsorientierung und Optimismus, der Konzentration auf die Schwierigkeiten, dem Arbeitsethos und zugleich einer allgemeinen Großzügigkeit und einem Entgegenkommen.
Anupama Kundoo schloss 1989 ihr Architekturstudium an der Universität Mumbai ab. 1990 gründete sie ihr eigenes Büro und etablierte sich in Auroville als praktizierende Architektin. 2008 promovierte sie an der Technischen Universität Berlin, seit 2024 ist Anupama Kundoo dort Professorin für Architektur und Entwurfsmethoden.
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