Bauwelt

Blühende Landschaft

Ein Jahrbuch, das mit pointierten Stellungnahmen ins aktuelle Baugeschehen eingreifen will: Alliances with the Real

Text: Geipel, Kaye, Berlin

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Blühende Landschaft

Ein Jahrbuch, das mit pointierten Stellungnahmen ins aktuelle Baugeschehen eingreifen will: Alliances with the Real

Text: Geipel, Kaye, Berlin

Es gibt heute unzählige Architekturjahrbücher. Nationale, regionale und – wenn die Städte groß und selbstbewusst genug sind – städtische. Zu was braucht es solche Sammelbände? Einfache Antwort: Um für die gut gemachte eigene Bauproduktion der letzten ein, zwei Jahre zu werben und dieser ein Podium zu geben. Das macht ihre Stärke – Aktualität – und ihre Schwäche – schnelles Verfallsdatum – aus. Längerfristige Gültigkeit beanspruchen sie kaum, der jeweils neue Band verdrängt den alten. Dazu fehlt diesen Kompilationen sowohl eine historische wie meist auch die kritische Perspektive.
Das flämische Architekturjahrbuch, eine „Review“ der letzten zwei Jahre, die seit fast 30 Jahren regelmäßig erscheint, formuliert schon im Editorial den Anspruch, nicht nur gute Architektur zu dokumentieren, sondern den öffentlichen Auftrag ernst zu nehmen und mit pointierten Stellungnahmen ins aktuelle Baugeschehen einzugreifen. Sofie de Caigny, Direktorin des flä­mischen Architekturinstituts und Teil des achtköpfigen Herausgeberteams, unterbindet gleich auf den ersten Seiten jede Überschwänglichkeit, die angesichts des medialen Erfolgs der flämischen Architektur aufkommen könnte. Sie beginnt mit einem Zitat des 2016 verstorbenen Architekturhistorikers Geert Bekaert aus dem ersten Jahrbuch von 1994: „Die Architektur scheint springlebendig in diesen Tagen (...) Aber welche Art von Leben propagiert sie? Tragen Architekten einen wesentlichen Beitrag zur Qualität des Lebens in unserer Umwelt bei? Oder verhalten sie sich eher wie Parasiten?“ An diesen Fragen, so Caigny, müsse sich auch die heutige Produktion messen.
Wo also ansetzen mit dem kritischen Rückblick auf die Jahre 2022 bis 2020? Das Jahrbuch N° 15 entstand während der Coronakrise. Die Entwürfe datieren meist aus den Jahren unmittelbar zuvor und sind inzwischen realisiert. Die Herausgeber lassen die Pandemie schon in ihrem Titel „Alliances with the Real“ anklingen. Architektur solle sich immer wieder neu an den aktuellen sozialen Bedürfnissen ausrichten – unter Corona an der allseits verlangten Notwendigkeit nach besseren öffentlichen Räumen, nach mehr Grün, nach Wohnformen mit Außenbezug und nach mehr Platz für das Home Office, das sich nicht mit der Bettkante begnügen dürfe.
Für den von Bekaert angemahnten „Beitrag zur Qualität des (öffentlichen) Lebens“ stehen in diesem Band beispielhaft sieben ausführlich diskutierte Schulbauten. Vor allem der „Cadix Schulcampus“ in Antwerpen von Korteknie Stuhlmacher macht einen fast sprachlos ob des souveränen architektonischen Umgangs mit dem Bestandsbau und einem daran anschließenden großen Erweiterungsbau, der den Campus zu einer vielgestaltigen – und hier gilt die Metapher – Stadt im Kleinen umformt. Wer in Deutschland wahrnimmt, wie neue Schulbauprogramme angesichts der Schulraumnot in großen Städten die Schlussfolgerung ziehen, Architektur müsse nur möglichst schnell aus standardisierten Modulen zusammengestapelt werden, wird durch das flämische Beispiel gleich doppelt belehrt: architektonisch individuell gestaltete schulische Räume seien der entscheidende Identifikationsort, wie Kinder auch in Zukunft öffentliche Räume wahrnehmen. Und zweitens sei die Schule in Zeiten zunehmender Urbanisierung auch ein unverzichtbarer Treffpunkt für die umgebende Bewohnerschaft. Sie müsse sich öffnen. Das macht der flämische Schulbau vorbildlich vor.
Ein weiteres Kapitel betrifft die aktuelle Wohnbaukrise. Nicht nur Flandern, sondern ganz Belgien ist mit dem Mangel an bezahlbaren Wohnraum konfrontiert. Die Widersprüche sind in einemLand, das geprägt ist von privatem Eigentum, unübersehbar. Kollektives und gemeinschaftliches Bauen ist die Ausnahme. Hier sind die Herausgeber weniger zuversichtlich: „The editorial board’s many visits to recently completed projects (…) tended to show the absence rather than presence of these seemingly obvious things”.
Das sich die Autorinnen vor pointierten Stellungnahmen nicht scheuen, macht ein weiterer Essay zur Transformation und Sanierung von drei für die Antwerpener Stadtgeschichte wichtigen Gebäude deutlich: des bereits mehrmals umgebauten imposanten Rathauses aus dem 16. Jahrhundert durch die Büros HUB und Bouwtechniek, dem in der Öffentlichkeit heftig diskutierten burgartigen Hafengebäude „Het Steen“ durch noAarchitekten und dem von KAAN Architecten umgebauten königlichen Kunstmuseum, KMSK genannt. Alle drei ergänzen Vorge­fundenes. Während die ersten beiden eine unterschiedlich ausgeprägte, aus dem Bestand entwickelte Formensprache sichtbar machen, schneiden KAAN Architecten einen perfekten weißglänzenden Museumskörper in den lang­gestreckten Hof des Altbaus (Bauwelt 2.2023). Gerade diese superelegante Architektur sei heute aus der Zeit gefallen, wird argumentiert – nicht deshalb, weil sie auf die lokale Baugeschichte kaum Bezug nimmt, sondern weil sie in sich statisch sei und weil sie den Anforderungen eines sich ständig wandelnden Museums nicht genüge.
Reuse und Weiterbauen: Damit sind auch die hervorstechenden Qualitäten der aktuellen flämische Architektur benannt. Der Erfolg, so heißt es am Ende des Buchs, sei kein Selbstläufer. Wird, so fragt sich Mark Pimlott in seinem Essay, aus der immer ausgeklügelteren Produktion von aus dem Bestand heraus entwickelten poetischen Entwurfskonzepten nicht selbst ein Archiv der erstarrten Bilder? Je mehr internationale Anerkennung die flämische Architektur inzwischen erfährt – souverän dargestellt etwa im belgischen Pavillon in Venedig 2021 –, desto größer würde die Versuchung, künftig nicht mehr aus „dem Realen“ selbst, sondern aus dem eigenen Reservoir vorbildlicher Bauten zu schöpfen. Eine Art Verschweizerung der flämischen Architektur, könnte man hinzufügen. Damit landet der Band wieder beim Thema „Allianzen mit der Realität“.
Das aktuelle Jahrbuch ist handlich, es biegt sich nicht als kiloschweres Konvolut unter seiner eigenen Bedeutung, hat durchweg lesenswerte Essays und ist gut fotografiert. Besser kann man es kaum machen. Man möchte es manchem Jahrbuch-Konkurrenten in die Hand drücken und ist gespannt auf die nächste Ausgabe, dann unter neuer Leitung.
Fakten

Verlag Flanders Architecture Institut, Antwerpen 2022
Zum Verlag
aus Bauwelt 25.2023
Artikel als pdf

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