Bauwelt

Erkundung Unbekannter

Die 59. Kunst-Biennale von Venedig stellt die Beziehung des Menschen zu seinem Umfeld in den Fokus und ist dabei ungewollt politisch.

Text: Schulz, Bernhard, Berlin

Erkundung Unbekannter

Die 59. Kunst-Biennale von Venedig stellt die Beziehung des Menschen zu seinem Umfeld in den Fokus und ist dabei ungewollt politisch.

Text: Schulz, Bernhard, Berlin

Die Ankündigung der diesmaligen Biennale-Kuratorin Cecilia Alemani, in der von ihr verantworteten Ausstellung im Arsenale und im Zentralpavillon der Giardini nahezu ausschließlich Künstlerinnen präsentieren zu wollen, hat zu erhöhter Neugier auf die 59. Kunst-Biennale in Venedig geführt. Nun ist sie eröffnet, der Hype der Eröffnungstage abgeklungen, Künstler, Galeristinnen, Sammler, Journalistinnen und die üblichen Adabeis haben das lang ersehnte Wiedersehen nach zwei Jahren Corona gefeiert. Neben der thematischen Zentralausstellung gibt es die nationalen Pavillons. Hinzu kommen Beiträge an diversen Orten der Stadt von all jenen Ländern, die nicht über einen eigenen Pavillon in den Giardini verfügen. Die Nationen-Beiträge sind überhaupt der Kern der Biennale und mittlerweile, da nationale Repräsentanzen in der Kunst außer Mode gekommen sind, Venedigs Alleinstellungsmerkmal.
Und sie werden ungeachtet aller rituellen Kritik beachtet, sehr sogar. So wurde die unmittelbar nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine getroffene Entscheidung, dass die für den Russischen Pavillon vorgesehenen Künstler Kirill Sawtschenkow und Alexandra Sucharewa ihren Beitrag absagen, weltweit registriert. Der Pavillon bleibt gänzlich geschlossen und wird von Carabinieri bewacht, um etwaige Verunstaltungen zu verhindern. 1914 wurde er nach Entwurf von Alexei Schtschussew erbaut, dessen Karriere bruchlos vom Zarenreich bis in die späte Stalinzeit verlief. Seine an altrussische, nicht zuletzt im ukrainischen Kiew heimische Bauten angelehnte Architektur müsste Anlass sein zum Nachdenken über die politische Aneignung kultureller Formen, gerade jetzt, wo der derzeitige Kreml­herr ein ganzes Volk als quasi russische Seitenlinie unterwerfen will.
Die Ukraine besitzt keinen eigenen Pavillon und stellt in einem der Bauten des Arsenale aus. Kommissarin Kateryna Chuyeva und der von ihr gewählte Künstler Pavlo Makov schlugen sich auf abenteuerlichen Wegen nach Venedig durch und zeigen Makovs Installation „Brunnen der Erschöpfung“, bei dem Wasser über symmetrisch aufgetürmte Kupferkelche nach unten tropft. In den Giardini auf dem „Piazza Ucraina“ macht die Installa­tion einer von Sandsäcken geschützten Skulptur – ist eine überhaupt darinnen? – auf den augenblicklichen Zustand der ukrainischen Kultur im Krieg aufmerksam. Und das Land hat einen weiteren Anziehungspunkt in der Scuola Grande della Misericordia, diesem gewaltigen, ob seiner Übergröße 1583 unvollendet gebliebenen Versammlungshaus einer wohltätigen Bruderschaft, entworfen von keinem Geringeren als dem Staatsarchitekten Jacopo Sansovino. Seit einigen Jahren ist der Bau mit seinen beiden über­einander liegenden Hallen eine begehrte Event-Location. Der ukrainische Oligarch Viktor Pinchuk hat dort nun eilig geschaffene Kunstwerke zugunsten seines Heimatlandes versammelt.
Politisch ist auch die Installation im Deutschen Pavillon. Maria Eichhorn hat sich an die Geschichte des einst als „Bayerisches Haus“ errichteten Pavillons gemacht, der seit 1912 als „Padiglione di Germania“ das Deutsche Reich vertrat und 1938 zum anstehenden Hitler-Besuch Venedigs auf NS-konforme Formensprache mit Vierkantpfeilern und mächtigem Architrav gebracht wurde. Eichhorn hat im mittleren Saal einige Fundamente freigelegt und zeigt auf, wie der Pavillon 1938 zugerichtet wurde. Das alles wird mit Entdeckergestus angepriesen – dabei ist die Geschichte des deutschen Beitrags hinlänglich bekannt, und seit Hans Haacke, der 1993 die Travertinplatten des Fußbodens zerhacken ließ, von mehreren Künstlern wie auch von Architektinnen der alternierend stattfindenden Architektur-Biennale zum Thema gemacht worden. Nur, dass die italienische Denkmalpflege peinlich genau darauf achtet, dass der Bau hernach immer wieder in seinen originalen NS-Zustand zurückversetzt wird. So fiel auch Eichhorns megalomanes Vorhaben flach, den Pavillon für die Dauer der Biennale komplett hinwegzuheben – daher ihr Arbeitstitel „Relocating a Structure“ – und freie Sicht auf die Lagune zu gewähren.
Beim Publikum kommt der politmoralische Gestus nicht überall sonderlich gut an; stattdessen der britische und französische Pavillon, wo Unterhaltung geboten wird. Die beschwingte Installation von Sonia Boyce über den Beitrag schwarzer Sängerinnen zur britischen Unterhaltungsmusik erhielt den Goldenen Löwen für den besten nationalen Beitrag, der französische Pavillon mit Live-Performance in Pseudo-Filmkulissen von Zineb Sedira eine „lobende Erwähnung“. Die für den US-amerikanischen Pavillon verantwortliche Künstlerin Simone Leigh erhielt den Goldenen Löwen als „beste Künstlerin“, der vor allem für ihre übergroßen Skulpturen vergeben wurde, eine davon im Entree der Corderie des Arsenale, wo immer der erste Teil der Hauptausstellung zu sehen ist.
Werke von 213 Künstlerinnen und (wenigen) Künstlern aus 58 Ländern hat Generalkuratorin Alemani zusammengebracht. „The Milk of Dreams“ heißt ihre Biennale, nach einem Kinderbuch der surrealistischen Künstlerin Leonora Carrington. Die hat es Alemani angetan und sie zu einer Entdeckungsreise beflügelt, deren Ergebnisse in Gestalt von fünf thematisch-historischen Einsprengseln innerhalb der ansonsten top-aktuellen Kunst gezeigt werden, Räume für weitgehend bis vollständig unbekannte Künstlerinnen.
Alemani gelingt es, den im Lauf der Jahrzehnte abgedroschenen Surrealismus wieder als Erkundung unbekannter Erfahrungen von Geist und Körper lebendig werden zu lassen, nicht als Stil, sondern als Methode einer nicht-rationalistischen Offenheit. Darin treffen sich Künstlerinnen so unterschiedlich wie Claude Cahun, Hannah Höch, Leonor Fini, Meret Oppenheim oder selbst Josephine Baker mit gegenwärtigen Künstlerinnen, die wie Geomyung Jeong die künstlichen Körper von Cyborgs zum Gegenstand nehmen, wie Giulia Cenci die technische Manipulation von Natur untersuchen oder wie Barbara Kruger die Überlappung von Information und Propaganda ausloten.
Keine Frage, diese Ausstellung wird Spuren hinterlassen, nicht wegen des nahezu vollständigen Übergewichts von Künstlerinnen, sondern wegen der Ernsthaftigkeit der intellektuellen Arbeit, die Alemani aufgewendet hat. Und es mussten ja nicht alle Protagonistinnen wiederentdeckt werden: Wenn im Arsenale etwas verloren eine knallbunte Polyester-Skulptur von Niki de Saint Phalle steht, „Gwendolyn“ von 1966, dann denkt man an den Skandal ihrer verwandten Figuren der „Nanas“ zurück, deren eine am Eingang zu ihrer legendären Ausstellung in Stockholms Moderna Museet lag. Den Eingang bildete, was im Biennale-Katalog scheu als „Öffnung zwischen ihren Beinen“ umschrieben wird. Dass es dafür einen medizinischen und mitnichten pornografischen Begriff gibt, hat vielleicht die politische Korrektheit verdrängt. Auch das ist ein Signal des Jahres 2022.

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