Bauwelt

Corona und die Neue Leipzig-Charta

Deutschland übernahm am 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft. Hier sollte die Neue Leipzig-Charta vorgestellt werden. Was bleibt davon jetzt noch übrig?

Text: Groschek, Michael, Oberhausen

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Berlin, Leipziger Straße, Frühjahr 2020.
Foto: Schnepp Renou

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Corona und die Neue Leipzig-Charta

Deutschland übernahm am 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft. Hier sollte die Neue Leipzig-Charta vorgestellt werden. Was bleibt davon jetzt noch übrig?

Text: Groschek, Michael, Oberhausen

Fridays-for-Future-Demos, Hitzesommer, der Umgang mit Geflüchteten, explodierende Mieten und Bodenpreise beherrschten bis vor Kurzem die Stadtentwicklungsdebatte. Auch der europaweite Dialogprozess zur Vorbereitung einer Neuen Leipzig-Charta, die das Bundesinnenministerium für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 2020 erarbeitet, war von diesen Themen bestimmt. Mit der Corona-Pandemie haben sich die Vorzeichen verändert. Brauchen wir deshalb eine Leipzig-Charta mit anderen Zielen und Prinzipien? Auch wenn die Resilienz von Städten einen höheren Stellenwert erhalten hat und städtische Dichte neu diskutiert wird, gibt die aktuelle Entwurfsversion der Leipzig-Charta bereits jetzt die richtigen Antworten. Eine integrierte, gemeinwohlorientierte und partizipative Stadtentwicklung, die ökologische, soziale und wirtschaftliche Ziele ausgleicht und verknüpft, ist wichtiger denn je.

Auswirkungen von Corona auf die Stadtentwicklung

Die Krise äußert sich in einer neuen Lebenswirklichkeit. Müssen wir also die Probleme, die „gestern“ noch dominierten, ad acta legen? Und wie steht es mit unseren bewährten Leitbildern der Stadtentwicklung? Wird das Primat der Dichte künftig einer Entflechtung weichen? Gewinnen stadtregionale Versorgungsmodelle eine neue Bedeutung? Die „soziale Distanz“, die unser Leben derzeit prägt, ist und bleibt ein temporär notwendiger Zwang – als neues Leitbild der Stadtentwicklung taugt sie nicht. Videokonferenz-Instrumente haben während des Lockdowns in vielen Institutionen den „Betrieb am Laufen“ gehalten – auf die Dauer können sie die Begegnung im öffentlichen Raum aber nicht ersetzen: Kein virtuelles Fenster ist so weit geöffnet, dass man Luft schnappen könnte; kein Avatar-Double ersetzt echte Nachbarschaft.
Fest steht: Die Resilienz von Städten erlangt mit Covid-19 eine neue Bedeutung. Krisenfestigkeit hängt auch eng mit dem Dreieck der Nachhaltigkeit zusammen: Kommunen mit einer funktionierenden Wirtschaft, umwelt- und klimafreundlichen Lösungsansätzen sowie einer sozial gerechten Stadtgesellschaft sind nachweislich robuster. Weitere Indikatoren „starker“ Städte sind Daseinsvorsorge-Dienstleistungen im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsbereich sowie digitale Infrastrukturen und Angebote. Auch ein gelungener Städte- und Siedlungsbau, hochwertige Grün- und Freiflächen, öffentliche Plätze, die zum Verweilen einladen und funktionierende Nachbarschaften sind Resilienzfaktoren. Hinzu kommt Flexibilität bei der Nutzung städtebaulicher Instrumente. Die anpassungsfähige Stadt bleibt urban dicht bebaut, ist aber funktional vielfältiger. Aus dem Versprechen der Stadt der kurzen Wege muss eine Wirklichkeit des vernetzten Mit- und Nebeneinanders von Wohnen, Arbeit, Freizeit werden.

Unterstützung aus den EU-Strukturfonds

Covid-19 mag sich gerade weltweit ausbreiten – mit dem Virus umgehen müssen wir aber vor Ort. Diese „Handlungsfähigkeit“ unserer Städte ist allerdings gefährdet: Es fehlte schon vor Corona in vielen Kommunen an Personal; der zu erwartende Einbruch der Steuereinnahmen wird gewaltige Ausmaße haben. Die Städte und Gemeinden brauchen deshalb Unterstützung – durch nationale Programme und Transferzahlungen, aber vor allem durch europäische Gelder, etwa aus den EU-Strukturfonds. Zudem helfen die europäische Zusammenarbeit und der Austausch zwischen Städten: Vor allem die Partnerschaften der Urbanen Agenda für die EU und das Vernetzungsprogramm URBACT leisten hier wertvolle Dienste.

Neue Leipzig-Charta weist in die richtige Richtung

Die Ergebnisse, die im europäischen und nationalen Dialogprozess zur Erarbeitung der Neuen Leipzig-Charta erreicht wurden, müssen keinesfalls umgeworfen werden: Sowohl das Dokument aus dem Jahr 2007 als auch die entstehende Neue Leipzig-Charta benennen mit dem integrier­ten, partizipativen und ortsbezogenen Ansatz Prinzipien, die Städten helfen, resilient zu werden. Ein Kernelement der neuen Charta ist zudem die angesprochene gestärkte Handlungsfähigkeit der Kommunen. Gemeint ist damit insbesondere die Fähigkeit und die Ausstattung der Städte, Dienstleistungen und Infrastrukturen, Grund- und Boden, den digitalen Wandel sowie eine nachhaltige Flächen- und Siedlungsentwicklung zum Wohle der Allgemeinheit zu steuern.
Trotz der Lockerungen ist die Krise noch lange nicht vorbei. Wir sollten den Mut haben, Debatten neu zu führen. Dabei dürfen wir die bislang gültigen Ziele einer ökologischen Nachhaltigkeit nicht leichtfertig verspielen und zugunsten eines alleinigen Fokus auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau vernachlässigen. Denn genau diese Elemente tragen dazu bei, tragfähige Lösungen für die jetzige Situation und für zukünftige Herausforderungen entwickeln zu können. Ein Nebeneinander von Netzkommunikation und „echten“ Begegnungen, von Homeoffice und „Stammarbeitsplatz“ prägt derzeit unser Leben. Aber für einen großen Teil unserer Gesellschaft gilt weiterhin: Arbeit ist da zu erledigen, wo sie anfällt. Genauso wenig, wie wir den Klimawandel aus den Augen verlieren sollten, dürfen die Corona-Helden von heute vor die Tore der neugestalteten Städte verdrängt werden.
Die Neue Leipzig-Charta ist mehr als eine Bündelung von Prinzipien; sie ist eine Handlungsanleitung für die Gestaltung urbaner Lebenswirklichkeit in ganz Europa. Sie zieht keine Grenzen und re-nationalisiert keine Ideale. Vielmehr ist die Charta ein europäischer Leuchtturm der Zuversicht: „Stadtluft macht frei“.

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