Bauwelt

Die Moderne dezentralisieren

Kaunas besitzt ein beeindruckendes, jedoch weitgehend unbekanntes baukulturelles Erbe. Die Stadt lädt dazu ein, die moderne Bewegung von den vermeidlichen Rändern zu betrachten und die Erzählung der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts zu hinterfragen.

Text: Stumm, Alexander, Berlin

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    Foto: Martynas Plepys

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    Das Hauptpostamt in Kaunas von 1930–31, entworfen von Feliksas Vizbaras, ...
    Foto: Norbert Tukaj

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    Das Hauptpostamt in Kaunas von 1930–31, entworfen von Feliksas Vizbaras, ...

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    ... vereint Streamline Modernism mit litauischem Ornament.
    Foto: Norbert Tukaj

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    ... vereint Streamline Modernism mit litauischem Ornament.

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    Das von Vytautas Landsbergis nach funktionalistischen Prinzipien entworfene Forschungslabor (1933-35) besitzt Flachdächer und Fensterbänder. Ausgestattet mit modernsten französischen Apparaturen ermöglichte es damals chemische Studien für die zivile und militarische Industrie. Heute ist es Teil der Chemisch-Technischen Fakultät der TU Kaunas.
    Foto: Norbert Tukaj

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    Das von Vytautas Landsbergis nach funktionalistischen Prinzipien entworfene Forschungslabor (1933-35) besitzt Flachdächer und Fensterbänder. Ausgestattet mit modernsten französischen Apparaturen ermöglichte es damals chemische Studien für die zivile und militarische Industrie. Heute ist es Teil der Chemisch-Technischen Fakultät der TU Kaunas.

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    In der Zwischenkriegszeit entstanden Dutzende moderne Wohnhäuser in Kaunas, ...
    Foto: Norbert Tukaj

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    In der Zwischenkriegszeit entstanden Dutzende moderne Wohnhäuser in Kaunas, ...

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    ... darunter das Zweifamilienhaus nach einem Entwurf von Arnas Funkas.
    Foto: Martynas Plepys

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    ... darunter das Zweifamilienhaus nach einem Entwurf von Arnas Funkas.

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    Die Gemäldegalerie von Liucija Gedgaudienė und Jonas Navakas, 1978–79.
    Foto: Norbert Tukaj

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    Die Gemäldegalerie von Liucija Gedgaudienė und Jonas Navakas, 1978–79.

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    Blick über Kaunas.
    Foto: Andrius Aleksandravičius

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    Blick über Kaunas.

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    Die Bauruine des zu Sowjetzeiten geplanten, aber nie fertiggestellten Hotels Britanika.
    Foto: Martynas Plepys

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    Die Bauruine des zu Sowjetzeiten geplanten, aber nie fertiggestellten Hotels Britanika.

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    Postmodernes Statement – Die Mykolas-Žilinskas-Kunstgalerie (1988) von E. Miliūnas, E. Kisielius, S. Juškys.
    Foto: Andrius Aleksandravičius

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    Postmodernes Statement – Die Mykolas-Žilinskas-Kunstgalerie (1988) von E. Miliūnas, E. Kisielius, S. Juškys.

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    Das Vytautas-Magnus-Militärmuseum von 1929-36 ist als nationales Symbol der Unabhänigkeit von Litauen errichtet.
    Foto: Andrius Aleksandravičius

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    Das Vytautas-Magnus-Militärmuseum von 1929-36 ist als nationales Symbol der Unabhänigkeit von Litauen errichtet.

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    Die Gedenkstätte im Neunten Fort ist den Opfern des Holocausts in Litauen und – seit 1991 – auch des Stalinterrors gewidmet. Das weitläufige Ensemble von Gediminas Baravykas und Vytautas Vielius erhielt 1985 den Staatspreis der UdSSR.
    Foto: Andrius Aleksandravičius

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    Die Gedenkstätte im Neunten Fort ist den Opfern des Holocausts in Litauen und – seit 1991 – auch des Stalinterrors gewidmet. Das weitläufige Ensemble von Gediminas Baravykas und Vytautas Vielius erhielt 1985 den Staatspreis der UdSSR.

    Foto: Andrius Aleksandravičius

Die Moderne dezentralisieren

Kaunas besitzt ein beeindruckendes, jedoch weitgehend unbekanntes baukulturelles Erbe. Die Stadt lädt dazu ein, die moderne Bewegung von den vermeidlichen Rändern zu betrachten und die Erzählung der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts zu hinterfragen.

Text: Stumm, Alexander, Berlin

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Kaunas nicht mehr als ein Vor- und Verteidigungsposten am westlichen Rande des russischen Zarenreichs. Schlammige Straßen führten entlang niedriger Holzhäuser, überragt durch die Militärgarnison und die angeschlossene orthodoxe Kirche. Als Folge der Oktoberrevolution erlangte der moderne Staat Litauen 1918 seine Unabhängigkeit. Der prädestinierte Regierungssitz Vilnius wurde allerdings im Folgejahr von Polen besetzt, weshalb man sich gezwungen sah, in Kaunas binnen weniger Jahre eine neue „temporäre Hauptstadt“ aus dem Boden zu stampfen. Im scheinbar weit von allen Avantgarde-Bewegungen entfernten Litauen entstand so in der Zwischenkriegszeit eine ganze Stadt nach den Prinzipien moderner Architektur im weitesten Sinne, mit Einflüssen von Art déco bis Streamline Modernism, immer verknüpft mit der Frage nach einer litauischen (Architektur-)Identität.
Zwischenkriegszeit 1919–1940. Kaunas als temporäre Hauptstadt
Der Bau von Kaunas begann vor gut 100 Jahren. Der dänische Ingenieur Peter Marius Frandsen und der bei der Stadtverwaltung angestellte Ingenieur Antanas Jokimas erarbeiteten 1923 den ersten Stadtentwicklungsplan. Sie konfigurierten die Wohnviertel der Neustadt und entwarfen die Erweiterung des Stadtgebiets mit dem Quartier Zaliakalnis im Nordosten. Dessen fächerförmige Anlage ist inspiriert von damaligen Ideen der Gartenstadt. Sowohl Ein- als auch Mehrfamilienhäuser sollten eigene Gartengrundstücke für den Anbau von eigenem Gemüse erhalten. Gleichzeitig sollten technische Neuerungen das Leben in der Stadt erleichtern.
1924 begann man mit der Errichtung einer städtischen Kanalisation, seit 1929 verkehrten auf den frisch asphaltierten Straßen die ersten öffentlichen Busse sowie private Autos. Außerdem entstanden in dieser Zeit Gymnasien und Schulen, Kirchen und Klöster, Einfamilien- und Mietshäuser inklusive Sozialbauwohnungen, Geschäfte, Kinos, Theater, ein botanischer Garten, ein Radiosender, ein Wasser- und ein Elektrizitätswerk. Allerdings hatte man bis zum Ende der 1920er Jahre nur zwei national wichtige Institutionen mit eigenen Neubauten ausgestattet, namentlich die Bank von Litauen und das Justizministerium. Die Sorge, mit diesem Signal zur Verfestigung des temporär gedachten Status als Hauptstadt beizutragen und damit die „Vilnius-Frage“ aus dem Blick zu verlieren, war vorerst zu groß. In den 1930er Jahren kamen weitere Verwaltungsgebäude, Museen und verschiedene Einrichtungen der Universität wie das Physikalisch-Chemische Institut hinzu. Um den Höhenunterschied der umliegenden Hügel bequem zu überwinden, errichtete man zudem eine Standseilbahn, genannt funikulierius. Aufgrund der hohen Dichte an modernen Bauten schmückt sich Kaunas heute mit dem Titel „Tel Aviv des Nordens“.
Konstruktion einer unabhängigen Nation
Politisch liefen die 1920er Jahre alles andere als geradlinig für die junge Demokratie. Antanas Smetona, der im April 1919 vom Parlament zum ersten Präsidenten ernannt worden war und dieses Amt für gut ein Jahr ausgeführt hatte, putschte sich 1926 mithilfe des Militärs erneut an die Macht, diesmal jedoch unter autoritären Vorzeichen. Bis 1929 hatte er die Verfassung ausgeschaltet und sich zum diktatorischen Alleinherrscher gekürt.
Sinnbildlich für diese Entwicklung steht das Militärmuseum Vytautas Magnus, das auf einen Entwurf von Vladimiras Dubeneckis zurückgeht und 1929–1936 gebaut wurde (Ausführung: Karolis Reisonas). Benannt nach der zentralen mittelalterlichen Herrschergestalt Litauens, sollte das Museum zusammen mit dem in einen angrenzenden Park errichteten Unabhängigkeitsdenkmal, dem Grab des Unbekannten Soldaten sowie einer Allee mit den Büsten der Vorkämpfer der staatlichen Unabhängigkeit das kollektive Gedächtnis der Nation wachhalten. Im hinteren Bereich des Gebäudes mit dem prägnanten, von Lisenen gegliederten halbrunden Bauteil war das Kulturmuseum untergebracht (heute: Čiurlionis-Galerie). Das Ensemble ist ein gebautes Zeugnis für „Nation Building“ – die Repräsentation von Macht und Stärke eines jungen, von äußeren Aggressionen bedrohten Staates. Unter sowjetischer Besatzung wurden einige der Räume zerstört und umgebaut. Im Rahmen von Kaunas 2022 ist im Museum die William Kentridge-Ausstellung „That Which We Do Not Remember“ zu sehen, die sich mit den selektierenden Prozessen des kollektiven Gedächtnisses, mit der Ablehnung von Tatsachen, Geschichte und Erinnerungen als Mittel zur Selbsterhaltung oder als Propagandawerkzeug auseinandersetzt.
Industrielles Zentrum in der Sowjetzeit
1940 besetzt die Rote Armee die Stadt und beendet für das nächste halbe Jahrhundert die Unabhängigkeit Litauens. Im Zweiten Weltkrieg hielt die deutsche Wehrmacht von 1941–44 das Land und ermordete neunzig Prozent der jüdischen Bevölkerung. Nach der russischen Rückeroberung in der Sommeroffensive 1944 wurde die Litauische Sozialistische Sowjetrepublik begründet. Die Sowjet-Ära ist in Kaunas heute überall erfahrbar. Durch die beschlossene Neuausrichtung der Stadt als Produktionszentrum und die neu gegründete, mächtige Bauindustrie hat sich die Gestalt der Stadt verändert. Die Einwohnerzahl stieg von 1939 mit rund 155.000 Menschen auf knapp 430.000 im Jahr 1989.
Unter der Atmosphäre des stalinistischen Terrors entstand zuerst die monumentale Architektur des Sozialistischen Klassizismus, mit dem politischen Tauwetter seit 1953 unter Nikita Chruschtschow forcierte man industrielle, standardisierte und möglichst wirtschaftlichen Lösungen in der Architektur. Den tiefgreifendsten Einschnitt aber hatten die Folgen der Verstaatlichung des Eigentums, wie der Architekturhistoriker und Professor an der Technischen Universität Kaunas Vaidas Petrulis formuliert: „Die meisten Cafés, Restaurants, Hotels und Geschäfte hörten auf zu existieren. Auch die einstigen Behörden und staatlichen Einrichtungen hatten ihren Sinn eingebüßt. Enteignete Wohnungen wurden zu sogenannten Kommunalwohnungen für mehrere Parteien.“
Vor allem in der Spätphase der Sowjetzeit entstanden aber auch einige außergewöhnliche Architekturen. So zum Beispiel die Gemäldegalerie von Liucija Gedgaudienė und Jonas Navakas. Die Verschränkung fensterloser Kuben über dem aufgeständerten Erdgeschoss lassen an brutalistische Bauten denken, wobei in diesem Fall nicht Beton, sondern Granit, Dolomit und Granitputz zur Anwendung kam. Die Innenräume insbesondere des Foyers versprühen noch heute den Charme der späten 1970er Jahre. Empfehlenswert ist die George (Jurgis) Maciunas gewidmete Ausstellungsfläche. Der Fluxuskünstler war 1931 in Kaunas geboren und mit seiner Familie 1944 beim Abzug der deutschen Wehrmacht vor den Sowjettruppen nach Deutschland geflohen, vier Jahre später in die USA emigriert. In New York studierte er Architektur, wo er dann im Büro Skidmore, Owings & Merrill und bei Knoll arbeitete. In den frühen 1960er Jahren knüpfte er zahlreiche Kontakte mit der Kunstszene in den USA, und, als Grafiker bei der US Air Force in Wiesbaden 1961–62, auch in Deutschland und Europa. Die Textarbeit „The Great Frauds of Architecture. Mies van der Rohe, Saarinen, Bunshaft, Frank Lloyd Wright“ von 1964 ist sein persönlicher Abschied von den Heroen der Moderne.
Optimistischer Blick in die Zukunft
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der wiedererlangten Unabhängigkeit war die Zukunft von Kaunas erneut ungewiss. Der Industriesektor der Stadt brach zusammen. Dies, zusammen mit der allgemeinen Wirtschaftskrise, führte zu einer massiven Abwanderung. Von 1990 bis heute ging die Einwohnerzahl von 430.000 auf rund 300.000 zurück. „Probleme bei der Rückgabe des Privateigentums, Spekulationen mit Immobilien, Korruption und Bankrotte standen einer planvollen Entwicklung der Stadt entgegen“, fasst die Kunsthistorikerin Giedrė Jankevičiūtė zusammen.
Der Titel Europäische Kulturhauptstadt fühlt sich, wenn man die Stadt heute besucht, fast wie ein Befreiungsschlag für Kaunas an. Das Team unter Leitung von Virginija Vitkienė hat es geschafft, einen großen Teil der Bevölkerung zu aktivieren. Und das künstlerische Programm liest sich beeindruckend: Neben Kentridge (dessen Großvater aus Litauen nach Südafrika emigriert war) finden außerdem Ausstellungen von Marina Abramović und Yoko Ono, ein Architektur-, ein Design- und ein Fluxus-Festival und zahlreiche andere Veranstaltungen statt. Die architekturspezifische Ausstellungsreihe „Modernism for the Future“ war mit einer Kooperation ohnehin mit der westukrainischen Stadt Lwiw verbunden. Dem russischen Angriffskrieg begegnete man im März mit dem zentralen Sonderprogramm CulturEUkraine, das aktiv ukrainische Geflüchtete miteinbezieht (siehe Seite 44). Der gemeinsame Geschichte von Unterdrückung und Leid, aber auch der starke Geist für staatliche Souveränität verbindet das Baltikum und die Ukraine. In Zeiten neuer russicher Bedrohung ist Kaunas damit zu einem Ort der Selbstvergewisserung, aber auch der Neubewertung der eigenen, europäischen Identität geworden.
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Literatur
Empfehlenswert ist der von Julija Reklaité herausgegebene Architekturführer Kaunas, erschienen im Verlag Dom Publishers, Berlin 2016 mit Überblicksartikeln – aus denen auch die im Artikel verwendeten Zitate stammen – sowie Kurzbeschreibungen mit Abbildungen und Plänen zu rund 250 Bauten der Zwischenkriegszeit, der Sowjetzeit und der Gegenwart. Das im Rahmen von Kaunas 2022 initiierte Projekt „Modernism for the Future 360/365“ hat außerdem das architektonische Erbe von Kaunas mit umfangreichem Fotomaterial und weiterführenden Informationen sowie einer interaktiven Karte online zugänglich gemacht: modernizmasateiciai.lt/en

Adresse Kanunas


aus Bauwelt 10.2022
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