Ausharren, verstehen
In ihrer multimedialen Installation beschäftigt sich die kurdische Künstlerin Pınar Öğrenci mit den Protestbildern des deutsch-türkischen Amateurfotografen Nuri Musluoğlu.
Text: Mijatović, Maja, Hamburg
Ausharren, verstehen
In ihrer multimedialen Installation beschäftigt sich die kurdische Künstlerin Pınar Öğrenci mit den Protestbildern des deutsch-türkischen Amateurfotografen Nuri Musluoğlu.
Text: Mijatović, Maja, Hamburg
Vier Menschen stehen in Kutten und mit verbundenen Augen in einer Fußgängerzone. Ihre Arme sind hinter dem Rücken verschränkt, vor ihren Körpern hängen Plakate: „Seit dem Militärputsch wurden 48 Menschen hingerichtet.“ „Schluss mit dem Krieg gegen das kurdische Volk und der nationalen Unterdrückung.“ Diese Szene, aus drei Perspektiven als Schwarz-Weiß-Fotografien festgehalten, wird an die Wand im Museum für Kunst und Gewerbe (MK&G) in Hamburg projiziert. Wenige Augenblicke später wechseln die Aufnahmen. Man sieht Fotos eines verbrannten Mehrfamilienhauses. Sie sind bekannt: Es ist das Haus in Solingen, bei dem 1993 durch einen rassistischen Brandanschlag fünf türkischstämmige Frauen und Mädchen ermordet wurden.
Die Videoinstallation „Kein Change“ stammt von der kurdischen Künstlerin Pınar Öğrenci, die sich im MK&G im Rahmen der Ausstellungsreihe „Sammlung neu ordnen“ mit der Form „Fotografie neu ordnen: Protestbilder“ auseinandersetzt. Öğrenci greift auf das Video-, Foto- und Tonarchiv des deutsch-türkischen Amateurfotografen Nuri Musluoğlu zurück und blickt aus heutiger Sicht auf die Arbeiterinnenbewegung und Migrationsgesellschaft der Bundesrepublik in den 1970er und 1980er Jahren.
Um die Vielfalt der Sammlung abzubilden, bereitet Pınar Öğrenci das Material in zwei multimedialen Installationen auf. Drei Projektoren zeigen die Themen, die Musluoğlu vor circa fünfzig Jahren bei über 100 Demonstrationen fotografisch festhielt. Der Fotograf zog 1965 im Alter von 14 Jahren aus der Türkei zu seinen Eltern in die BRD. Später engagierte er sich politisch in Gewerkschaften und der Friedensbewegung.
Neben Protesten gegen den Militärputsch in der Türkei zeigt Öğrenci Fotos von Demonstrationen gegen Rechtsextremismus, soziale Ungerechtigkeit und militärische Aufrüstung im Kalten Krieg. Sie wählt diese Themen bewusst, da sie heute aktueller denn je sind. Bildbegleitend erklingen türkische Musikstücke, die Pınar Öğrenci als überlagerndes Element wählt und damit die visuelle Komponente um Protestlieder politisch verfolgter Musiker aus der Türkei, die in Deutschland Asyl fanden, ergänzt. So musste die türkische Sängerin Melike Demirağ 1980 ins Exil nach Deutschland fliehen, wo sie elf Jahre lebte. In ihren Liedern drückt Demirağ ihre Solidarität mit den politisch Verfolgten aus. Der Protest vor Ort ist nicht mehr möglich, das Exil wird zum Ort des Widerstands.
Als Ergänzung zu Pınar Öğrencis Werk hat Esther Ruelfs, Kuratorin der Ausstellung, Abzüge migrantischer Fotografen der politischen Zeitschrift „Arbeiterfotografie“ gewählt. An den Wänden hängen Bilderstrecken aus der Zeitschrift, die sich mit Themen wie Leben im Exil, prekäre Wohn- und Arbeitsverhältnisse sowie Frauenarbeit beschäftigen.
Öğrencis zweite Installation bildet das Leben fernab jeglichen Protests ab. Statt Menschen mit Bannern flimmern Musluoğlus Stadtlandschaften, aufgenommen mit einer Super-8-Kamera, in vier Projektionen auf der Wand. Im rechten Teil der Installation fließen nahezu romantisch festgehaltene städtische Landschaften aus Istanbul und vermitteln die Großstadt als Sehnsuchtsort. Die weiteren drei Aufnahmen wechseln zwischen Totalen und wackeligen Zooms und übertragen ein Gefühl der Hektik. Bilder vom Münchner Sendlinger Tor wechseln zu Aufnahmen aus dem KZ Dachau und münden in einer Gleichgültigkeit in die Idylle eines Schlossparks.
Das ist das Besondere an Öğrencis Arbeit: Statt mit offensichtlichen Gesten zu provozieren, setzt sie auf stille Nuancen. Sie fordert die Besucherinnen auf, sich mit dem Werk von Nuri Musluoğlu zu beschäftigen, auszuharren, zu verstehen. Es ist Zeit, die Vergangenheit Deutschlands zu reflektieren und zu erkennen: Die Themen haben sich nicht verändert. Kein Change.
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