Bauwelt

Fast dokumentarisch

Fotos von Jeff Wall im Dresdner Lipsiusbau

Text: Scheffler, Tanja, Dresden

Fast dokumentarisch

Fotos von Jeff Wall im Dresdner Lipsiusbau

Text: Scheffler, Tanja, Dresden

Barcelona, um sieben in der Frühe: morgendliches Reinemachen im Pavillon von Mies van der Rohe. Die sonst akkurat aufgereihten Hocker sind verschoben. Die als „Thronsessel“ für das spanische Königspaar konzipierten Ledersessel verstecken sich anein­ander­geschmiegt hinter einer Stütze; auf einem der beiden flegelt sich ein nasser Wischlappen. Auf dem Tep­pich liegen Fussel. Ein Putzmann reinigt die groß­formatigen Fenster; hinter den eingeschäumten Glasscheiben wirkt Georg Kolbes in einem flachen Wasserbassin stehende Bronzefigur „Der Morgen“ – eine überlebensgroße Frau, die der Sonne zuwinkt – wie ein Akt unter der Dusche.
Jeff Walls Morning Cleaning (1999) erinnert, was Blickwinkel und Bildausschnitt betrifft, an die zeitgenössischen Fotografien des Deutschen Pavillons der Weltausstellung 1929, die sich jahrzehntelang stellvertretend für das temporäre Bauwerk ins Bildgedächtnis von Architekten und Kunsthistorikern eingebrannt haben. Die „Störfaktoren“ in Walls Aufnahme hinterfragen mit einem leichten Augenzwinkern jedoch nicht nur die geometrisch dominierte Architekturästhetik Mies’scher Prägung und den hohen Pflegeaufwand moderner Architekturikonen, sondern weisen durch kleine Details wie den roten Vorhang (über dessen Existenz vor der Rekon­struktion des Pavillons im Jahr 1986 heftig gestritten wurde) darauf hin, dass es sich bei diesem Bau um eine Replik handelt und nicht um das Original.

Augenzwinkernd und anspielungsreich

Morning Cleaning ist typisch für Jeff Walls „kinemato­grafisches“ Werk, für das er mit Schauspielern oder Laiendarstellern alltägliche Vorkommnisse überaus realistisch inszeniert und ablichtet. Zu sehen ist die großformatige Arbeit derzeit – zusammen mit 25 wei­teren Großbilddias in Leuchtkästen, Schwarzweiß- und Farbfotografien – in der Dresdner Kunsthalle im Lipsiusbau. Parallel zur Wiedereröffnung des vis-à-vis gelegenen Albertinums (Bauwelt 25.10) widmen die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden dem 1946 geborenen kanadischen Fotokünstler eine Ausstellung, die einen breiten Überblick über sein Schaffen von den 80er Jahren bis heute gibt. Walls Auseinandersetzung mit dem Medium Fotografie umfasst – mit fließenden Übergängen – sowohl dokumentari­sche Aufnahmen, die zufällig entdeckte Orte und Motive wiedergeben, als auch kinematografische, die eine präzise Bildregie voraussetzen.
International bekannt wurde Jeff Wall vor allem durch jene inszenierten Bildmotive, in denen der studierte Kunsthistoriker Anspielungen auf berühmte Werke der Malerei versteckt. So sitzen etwa in The Storyteller (1986) – ähnlich wie bei Edouard Manets Frühstück im Freien – drei kanadische Ureinwohner in einer vertraulichen Runde, jedoch nicht in einem Park, sondern auf einer abschüssigen Rasenfläche unterhalb einer Betonbrücke: gleichsam die Randfiguren der Gesellschaft in einem Randbereich des Stadtraums. Aber auch in Walls Dokumentarfotos, die meist in der Umgebung seiner Heimatstadt Vancouver entstanden sind, lassen sich überraschende Details entdecken. So entpuppt sich die in Postkartengröße überaus idyllisch wirkende Küstenlandschaft der „Coastal Motifs“ im großformatigen Leuchtkasten als wasserumspülte Industrieanlage mit Containern, Fördertürmen und Silos.
Viele seiner Arbeiten bezeichnet Jeff Wall selbst als „near documentary“ (fast dokumentarisch). Doch inwieweit sie überhaupt „documentary“ sind, das ist oft die spannendste Frage bei seinen Fotografien. 
Fakten
Architekten Wall, Jeff, Vancouver
aus Bauwelt 29.2010
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