Bauwelt

„Von niederer Herkunft“?

Polens Architekturbestseller ist jetzt auf Deutsch erschienen

Text: Kil, Wolfgang, Berlin

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Weitspannende, scharfkantige Betonstützen und großzügige Fensterflächen bestimmten die brutalistische Bahnhofshalle in Kattowitz. Sie musste 2011 einer Shoppingmall weichen.
Foto: Stanisław Jakubowski

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Weitspannende, scharfkantige Betonstützen und großzügige Fensterflächen bestimmten die brutalistische Bahnhofshalle in Kattowitz. Sie musste 2011 einer Shoppingmall weichen.

Foto: Stanisław Jakubowski


„Von niederer Herkunft“?

Polens Architekturbestseller ist jetzt auf Deutsch erschienen

Text: Kil, Wolfgang, Berlin

„Worum es ging, war der Dreck. Es besteht kein Zweifel, dass dieser Bahnhof bei den Reisenden einer der meistgehassten Orte Polens war.“ So beginnt eine Reportage über den Bahnhof von Kattowitz, jenes wundersame Hauptwerk des polnischen Brutalismus, dessen Abriss zugunsten einer Shoppingmall 2011 die Architekturdiskussion bei unseren östlichen Nachbarn neu anheizte. Erzählt wird von drei Warschauer Architekten, die, erleichtert vom Ende des bieder dekorierenden Sozialistischen Realismus, dem oberschlesischen „Zentrum der Moderne“ einen Sichtbeton-Tempel von wuchtigster Statur bescherten. Nach 1990 verlotterte dieser allerdings auf unsägliche Art, alle Initiativen zur Rettung des Bauwunders kamen zu spät: „Als sich der Staub nach dem Bahnhofsabriss gesenkt und der Generalkonservator die Entscheidung zur Niederreißung für ungültig erklärt hatte, fragte ich die Leiterin des örtlichen Denkmalamts, wie sie sich mit ihrer Entscheidung fühle. ‚Ich fühle mich ausgezeichnet. Bitte rufen Sie mich in dieser Sache nicht mehr an.‘ Vertreter der Investoren wollten die Angelegenheit nicht kommentieren. Der Fall wurde der Staatsanwaltschaft vorgelegt.“
Filip Springer hat vor vier Jahren in der polnischen Architekturdebatte neue Wegmarken gesetzt. Mit seinen „Architekturreportagen aus der Volksrepublik“ stapft der Warschauer Journalist wie ein tapferes Schneiderlein durch die ruppigen Landschaften der Nachkriegsmoderne, erzählt Lebensgeschichten derer, die damals um ihre baulichen Träume kämpften, lässt Kollegen schwärmen und lästern, zitiert wütende Kritiker und souveräne Verteidiger. Und rührt dabei kräftig an das Selbstbild der stolzen Architektenszene seines Landes, die es seit den politischen Umwälzungen der neunziger Jahre tunlichst vermieden hatte, sich mit dem Erbe der vier Nachkriegsjahrzehnte auseinanderzusetzen. Bauten aus der „Ära des Kommunismus“ galten pauschal als Relikte des Bösen, oder eben „von niederer Herkunft“, wie der Buchtitel auf Polnisch heißt (was sich in der deutschen Übersetzung „Kopfgeburten“ leider nicht erschließt). Auch im Westen sind ja allgemeine Aversionen gegen die Modernismen des Wiederaufbaus noch lange nicht ausgestanden. In den postsozialistischen Ländern wird durch politisch-historische Ressentiments der Konflikt noch verschärft. Den dabei naheliegenden bilderstürmerischen Reflexen entging der Warschauer Kulturpalast nur mit knapper Not. Andere markante Bauten sind hingegen verloren, darunter Preziosen von europäischem Rang, wie die phänomenale Hängedachhalle SUPERSAM von 1962 oder jener kurz davor „nur aus Glas und Licht erbaute Chemiepavillon“, der 2008 einem pechschwarzen Luxusstore weichen musste – nach einem „Kampf zwischen David und Goliath, in dem sich zu unserer Verwunderung Goliath als der Sieger entpuppt“.
Mit seinen Reportagen ist Filip Springer ein Architekturbuch gelungen, für das es in Deutschland nichts Vergleichbares gibt: Kein ästhetisches Kritteln, dafür werden durch die lebensprallen Biografien der Macher die schließlich gebauten Objekte tief in ihre jeweiligen Zeitumstände eingebettet. Und man beginnt zu ahnen, welche Gesellschaftsbrüche die verschiedenen Wertsysteme voneinander trennten, warum die heute Ungeliebten einst Quell großer Freude und Hoffnung waren. Und was für Lebensläufe! Ob CIAM-Avantgarde, linker Untergrund, Kämpfer der Heimatarmee, Protagonisten des kommunistischen Aufbaus oder deren Gegner aus bürgerlichem Stolz und Trotz – mit Bauten von heute kaum vorstellbarer Verwegenheit gehörten sie alle zur Crème polnischer Baukultur im 20. Jahrhundert. In niemals ruhigen Zeitläuften verfolgten sie ihre Ideale, hartnäckig, mit allerlei Winkelzügen und stets in Kontakt mit den Stars und Heroen der weiten Welt, in deren Liga mitzuspielen ihr ewiger Ehrgeiz war. Die Botschaft hinter dieser seltsamen Umkehrung: Wer sich auf diese Nachkriegsgeschichte in all ihren Brüchen und Erhebungen einlässt, der kann, ja muss sich auch auf deren Architektur einlassen. Denn Gesellschaft geht nicht ohne gebaute Form.
Indem er architektonische Karrieren mit ihren historischen Umständen auf einen positiven Ausgang hin verknüpft, unterscheidet Filip Springer sich auch von Werner Durth, dessen einflussreiche Studie „Deutsche Architekten – Biographische Verflechtungen“ nicht einfach das Schweigen über die Vergangenheit brechen, sondern zugleich eine „Deformation“ der Moderne als Folge totalitärer Indienstnahme aufweisen wollte. Liegt im deutschen Fall der Eindruck nahe, da sollte die ausgebliebene „personalisierte Abrechnung mit der Architektur des Dritten Reiches“ endlich nachgeholt werden, wird in der polnischen Rückschau – unausgesprochen – die Moderne, das emanzipatorische Projekt, zur Verheißung. Gerade wer heute Distanz zum dunklen Vergangenen sucht, muss ihr damaliges Aufscheinen – wie dezent, wagemutig, verschroben auch immer – begrüßen. Die Modernen waren die Guten! Differenziertere Kritik kann später einsetzen.
Mit seinem Publikumserfolg erinnert Springers Buch eher an eine andere deutsche Wende-Schrift: Wolf Jobst Siedlers „Die gemordete Stadt“. Wie einst im Berlin der 1960er Jahre kommt da wieder ein Außenseiter und weist mit ein paar „nicht standesgemäßen“ Fragen dem so lange vorherrschenden Denken neue Richtung. Wie viele polnische Exempel europäischer Spätmoderne mögen wohl ihre Rettung schon dieser pointierten Lektüre verdanken! Die endet übrigens mit einer ausführlichen Würdigung Oskar Hansens. Erst Assistent von Pierre Jeanneret, dann Mitglied von CIAM und TEAM 10, hatte der mit seiner Frau utopische Bandstadtvisionen nicht nur gezeichnet, sondern in Warschau tatsächlich zu bauen begonnen. Ihre über fast zwei Kilometer mäandernde Wohnschlange Grochow polarisiert heute mehr denn je. Filip Springer nimmt solch krasse Ideen philosophisch: „Man kann sagen, dass Oskar Hansen uns ungefähr zwanzig Jahre voraus war. Es besteht allerdings die Gefahr, dass er in eine andere Richtung gelaufen ist als wir.“

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