Bauwelt

Wasserkraftwerk


Vom Wasser haben wir’s gelernt


Text: Aicher, Florian, Leutkirch


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    Foto: Brigida González

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Das neue Iller-Wasserkraftwerk in Kempten versorgt rund 4000 Haushalte mit Strom. Dank seiner skulpturalen Über­formung durch becker architekten dient es darüber hinaus als touristische Attraktion und als Identitätsstifter in einem bislang wenig beachteten Umfeld.
Es kommt selten vor, dass ein Bauwerk wenige Monate nach der Eröffnung zum Publikumsmagnet einer Stadt wird; hier ist es der Fall. Ein Kraftwerk in Kempten an der Iller, einem alten Mühlen- und Textilstandort, geprägt von Bauten der Frühindustrialisierung mit ihren Wasserkraftanlagen. Schon 1903 wurde hier erstmalig Strom erzeugt. Nach Einstellung der Produktion Mitte der Neunziger übernahm das Allgäuer Überlandwerk (AÜW), Grundversorger im Oberallgäu mit ca. 25 Prozent Wasserkraft, auch dieses Kraftwerk. Derzeit werden die Fabrikbauten in „denkmalgeschützte Wohnungen und Lofts direkt am Fluss“ umgewandelt; erhöhte Lärmschutzforderungen und Überlegungen der Stadt zur Belebung des Flussufers gaben 2005 den Anstoß zur Erneuerung des Kraftwerks, zur Entwicklung des Standorts und zur Auslobung eines Wettbewerbs.
„Zunächst verschlug das Modell von Becker Architekten allen die Sprache“, berichtet der Geschäftsführer, „doch bald verliebten wir uns in das Projekt, weil uns klar wurde, das ist wirklich etwas Besonderes, das gut zum AÜW passt: Kraft, heimatstarke Energie, moderne Aufgaben für ein traditionsreiches Unternehmen. Und so schwand die Skepsis im Verwaltungsrat und Bauausschuss, die sich bei den Technikern länger hielt. Dieser Standort bot die Chance, etwas Besonderes zu erreichen – Emotionalisierung durch architektonische Wertschöpfung. Heute steht fest: Es hat sich gelohnt. Die Mitarbeiter identifizieren sich mit dem Bau, das Image des schwerfälligen Energieunternehmens bricht auf, die Leute sagen: Industriebauten können schön sein, Energie ist spannend. Das Projekt hat einen herausragenden Platz in der Unternehmenskommunikation. Mit über 10.000 Gästen feierten wir Eröffnung, täglich gibt es Führungen, die Besucher gehen in die Tausende. Die Investition, die mit einer Leitplanke von +10 Prozent der üblichen Baukosten definiert und eingehalten wurde, war richtig.“
Und die Zahlen stimmen: Die Leistung des Kraftwerks hat sich dank Verdreifachung des Schluckvermögens auf 10,5 Mio. kW mehr als verdoppelt, ebenso die CO2-Einsparung. Begonnen wurde der Bau im November 2007, Eröffnung war im Juli 2010, die Baukosten beliefen sich auf 15 Mio. Euro.
Das architektonische Werk, die Einhausung von Wasserbau und Betriebstechnik, integriert unterschiedliche Einflüsse – vom städtebaulichen über den organisch geformten Wasserbau bis zum orthogonalen Betriebsbau. Entstanden ist etwas ganz Eigenes, das keiner Vorgabe folgt und dennoch jede reflektiert. „Das ist wesentlich unser Beitrag: ein Ensemble aus Einzelbauteilen zusammenzufassen zu einem Bauwerk. Damit entsteht eine Einheit von annähernd 100 Metern. Ein Organismus, der gegenüber den großen Industriebauten bestehen kann als eine Großskulptur, die auf die Dynamik des Wassers unmittelbar und Stein geworden Bezug nimmt – ein Bauwerk, das sich aus dem Wasser erhebt und die Landschaft des Wassers metaphorisch fortsetzt.“
Der Mantel ist eine betonierte Schale in sechs Abschnitten, die gleitend auf dem technischen Sockel aufsitzt, demonstrativ abgefugt. Sie ist über Rippen in etwa vier Meter Abstand gespannt, mit diesen homogen gegossen und im Mittel 25 Zentimeter stark. Diese – verglichen mit historischen Schalen –üppig anmutende Stärke ist schlechten Erfahrungen mit minimierten Konstruktionen geschuldet; der Tatsache, dass die Vorgaben keine geometrisch ideale Figur ergaben und an der Überdeckung wegen Rissweitenbeschränkung und neuer Normen nicht zu sparen war.
Die Flächen zwischen den betonierten Rippen sind auf zimmermannsmäßige Bretterschalung mit händisch gebunde­ner Bewehrung betoniert. Bis 40-Grad-Neigung kam man mit dieser einen Schalung aus. Rippen, aufgehende Wände und Deckenschrägen sind abschnittsweise, jedoch unverfugt betoniert. Zum Einsatz kam der im Außenbereich übliche C 30/37 ohne chemische Zusätze oder Sonderzuschlagstoffe. Allein das Betonieren der Decken, der Umgang mit dem steif eingebauten Beton entsprechend dem Erfahrungswissen der Ausführenden, demonstriert die Ansprüche an die handwerkliche Kunst der ansonsten sehr robusten Ausführung.
Das Bauwerk hat zwei Seiten. Die Innenseite: rau, ruppig, ungeschönt, verschattet und grau das Material, die Bretter und Stöße zeigen sich, die Konstruktion liegt offen zutage, die Rippen rhythmisieren, der Kräftefluss ist lesbar, die Auflager betont, das Innere eines Organismus, ein entblößtes Skelett, die gleißende Maschinenhalle bergend. Dagegen außen: glatt, geschliffen, hell. Öffnungen und Fugen verschwinden unter ei­ner hoch dehnbaren, wasserdichten dreilagigen PU-Beschichtung, wie sie im Brückenbau üblich ist. Diese wurde mit Split aus Illerkiesel versetzt, und so liegt die Figur in Farbe, Helligkeit und matter Oberfläche selbst wie ein geschliffener Kiesel in der Sonne.
Der Baustoff Beton erlaubt diesen Kontrast. Die besondere Exposition des Bauwerks hat eine Rolle gespielt – es wurden Alternativen etwa in Metall durchgespielt –, doch entscheidend war das angestrebte Bild. „Ein im Bachkiesel gebundener und vom Bachkiesel inspirierter bildhafter, schöpferischer Vorgang. Der weich anmutende Körper, und was zum Vorschein kommt, wenn der vom Wasser polierte Nagelfluhblock aufgebrochen wird: Splitter, Kanten, Geröll. Die Dramatisierung des Kontrastes ist entwurfsimmanent.“ So löst der Bau sein Versprechen ein: Emotionalisierung dank Architektur. Die Architekten haben das nie als ein Entwerfen aus dem Bauch missdeutet, das an die Stelle des Verstandes zu treten habe. Eher wird eine andere Tradition sichtbar: Seit die Bedeutung des Gefühls im menschlichen Verständnis bedacht wird – und dies nicht seit gestern –, geht es um das Wechselspiel von Empfindung und Erkenntnis, Gefühl und Verstand, Kunst und Wissenschaft: „Die Darstellung der Wissenschaft kann nie ohne Kunst gelingen, und die Erzeugung des Kunstwerks wird ohne Wissenschaft unmöglich bleiben“, so der Caspar-David-Friedrich-Schüler und Arzt Carl Gustav Carus. Eins wirkt aufs andere, Neues entsteht.
Das beginnt zu changieren, wird vieldeutig. Zahlreich die Bilder, die den Architekten für ihren Bau zu Ohren kamen. Drache, Dino, ein hingestreckter Rinderrücken, oder doch: der „Peitschenhieb“ von Hermann Obrist, erstes Bild des Jugendstils? Gewiss ist: Der Betrachter wird angeregt, die Sache bewegt ihn. Die aktuelle Diskussion um den Begriff „Atmosphären“ klingt an, etwa bei Mark Wigley: „Wie wird Atmosphäre konstruiert? Atmosphäre beginnt offenbar genau dort, wo Konstruktion endet. Sie umgibt ein Gebäude, haftet seiner Materie an. Tatsächlich scheint sie dem Objekt zu entströmen. (...) Ein Gebäude konstruieren heißt solch eine Atmosphäre konstruieren.“
Bewusst haben die Architekten den Schritt über die rein rationale Beschränkung ins Werk gesetzt. So ist der Entwurf kein parametrisches Design, nichts wurde direkt generiert. Es ist eine Gestalt, metaphorisch grundiert, die über Handskizzen, Pläne und vor allem Modelle entwickelt wurde. Bilder von Bachkieseln, Rundlingen, Gumpen, Kanten, Überhängen vor Augen, sind ein halbes Hundert Modelle entstanden, vom Fünfhundertstel bis zum Werkmodell, „ein beeindruckendes Gebilde von der Größe einer Festtafel“, wie die Architekten ausführen. „Das war nötig, denn am Computer kann die Gestalt nicht entwickelt werden, da verliert man sich im Klein-Klein. Vom Modell wurden die Maße abgenommen, damit ein 3D-Modell mit Spezialprogramm und besonderem Know-how gerechnet. Immer wieder Rückkopplungen mit den beteiligten Ingenieuren, Korrekturen, Verbesserungen. Entscheidend aber war: Man versuchte, sich in die Welle hineinzudenken, wie sie einläuft, aufrollt, sich aufwirft, abgelenkt wird, wirbelt, strudelt, schäumt, sich auslöst, entspannt im Fluss aufgeht.“



Fakten
Architekten becker architekten, Kempten
Adresse Keselstraße 14a 87435 Kempten


aus Bauwelt 13.2011
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