Bauwelt

Gronau - die Vernunft des geo­metrischen Systems


1969-74


Text: Rethfeld, Stefan, Münster


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    Foto: Christian Richters

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Noch steht es, das Rathausgebäude von Harald Deilmann. Doch es steht zur Disposition. Im Februar 2012 entschied sich der Stadtrat für einen Neubau. Doch mit dem experimentellen Bau verlöre die Stadt mehr als nur eine lästige Liegenschaft.
In Gronau trifft Nordrhein-Westfalen auf Niedersachsen, die Bundesrepublik auf die Niederlande. Grenzverkehr zeichnet die Stadt seit eh und je aus. Zunächst gaben einfache Übergänge, später Schienen und Straßen dem Ort, der in Fahrradnähe zum niederländischen Enschede liegt, eine strategische Dimension – und der Raumplanung eine politische Note. Auch die beiden Rathäuser, die der Grenzort sich gebaut hat, verweisen auf Raumerweiterungen. Die frühe Gründerzeit ließ den im 13. Jahrhundert um eine Turmhügelburg entstandenen Ort zur Stadt anwachsen. Niederländische Textilunternehmer, allen voran die Dynastie der Familie van Delden, bauten ihn zu einem der größten Spinnereistandorte in Europa aus. Im Norden des historischen Kerns wurde ein neues Stadtgebiet angelegt; 1898 wurde Gronau in den Stand einer Stadt erhoben. Das erste Rathaus wurde an der Bahnhofsstraße gebaut. Noch heute kann sein Turm als Teil des kulturhistorischen Drilandmuseums besichtigt werden, das übrige Gebäude wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört.
Im Zuge der Kommunalen Gebietsneugliederung 1975 folgte auf die gründerzeitliche Norderweiterung die Süderweiterung: der Ortsteil Epe kam hinzu. Mit Wucht markiert das damals errichtete neue Rathaus als Stufenmonument aus Be­ton einen neuen Mittelpunkt im städtischen Zwischenraum: Gen Süden zum Stadtpark, gen Norden zur Altstadt, auch zu Kirch- und Wassertürmen bildet es Bezüge, zum Gründungsfluss Dinkel, an dem es liegt, einen Platz mit Brücke. Auch bindet es vorhandene Bäume ein. Das Gebäude versteht sich als neue Bezugsgröße für sämtliche Fragmente des einstigen Industrieortes. Wie Siegelwachs liegt es auf dem seinerzeit neu geschaffenen Stadtplan und bezeugt dessen Wachstum. Fläche und Einwohnerzahl – heute 46.000 Einwohner – nahmen um 1970 deutlich zu. Wegen seiner gelben Fenster haben die Gronauer den Solitär zunächst für eine neue Postzentrale gehalten. Schon von weitem ist der Rathausbau zu sehen: Betonring für Betonring türmt er sich auf, und lange zierte das Stadtlogo – ein gelbes „G“ – den höchsten Punkt am Bau und sorgte für ein frisches, zeittypisches Erscheinungsbild.
Öffentliche Bauten dank kommunaler Neugliederung
Die Entscheidung für diesen zweiten Rathausbau fiel im Oktober 1969. Eine prominent besetzte Jury unter Vorsitz von Fritz Eller begutachtete die Wettbewerbsbeiträge, deren Anzahl nicht groß war, noch kleiner aber die Zahl wirklich hervorstechender Arbeiten. Dennoch, so ist dem Juryprotokoll zu entnehmen, ragte ein Entwurf in besonderer Weise hervor: der von Harald Deilmann (1920–2008). Er konnte sich gegen Arbeiten von Hanns Dustmann, Bielefeld (2. Preis), Ottomar Gottschalk, Hamburg (3. Preis) und weiterer zugeladener Büros wie Böhm (Köln) und Henn (Braunschweig) durchsetzen. Für Deilmann kam diese Herausforderung gerade recht, war er doch kurz zu­vor dem Ruf auf den Lehrstuhl für Bauplanung der Fakultät Raumplanung der neu gegründeten Universität Dortmund gefolgt und konnte von hier die anstehende kommunale Gebietsreform in Nordrhein-Westfalen mitgestalten. Diese löste ein gewaltiges Bauprogramm aus und bot gerade der jüngeren Architektengeneration die Chance, öffentliche Bauten in den Städten und Gemeinden zu gestalten. Auch die Rathausbauten von Harald Deilmann künden von dieser Aufbruchstimmung. Bereits 1957 war der Architekt mit seinem ersten öffentlichen Verwaltungsbau hervorgetreten: dem Rathaus für Nordwalde bei Münster, das auch heute noch souverän die Ortsmitte markiert. In Münster konnte er 1960–64 ein erstes großes Kreishaus errichten (heute: Stadthaus II am Ludgeriplatz). Mit Studien für ein Rathaus in Leverkusen (1964) – im Verfahren unterlag Deilmann dem Büro HPP nach mehreren Stufen – gelangte er zu einem neuen Verständnis kommunaler (Verwaltungs-)Zentren. Längst waren landauf, landab die reinen Verwaltungsgebäude mit ihren übergroßen, nüchternen Bauvolumen in die Kritik geraten. International vernetzt, verstand sich Deilmann als Neuerer.
Vorbilder: Niederlande und Schweden
Deilmann warb für die Erweiterung der Bauaufgabe „Rathaus“ hin zum „Haus der Bürger“, vom reinen Verwaltungs- zum Begegnungsort. Ein Buch seiner Forschungstätigkeit zur Zukunft von Gebäuden der öffentlichen Verwaltung erschien 1979 und konnte sich als frühes Nachschlagewerk etablieren. Mit Beispielen zeigte er auf, dass „Behördenbau“ nicht mit „geistlosem Schematismus“ gleichgesetzt werden muss, und forderte, die demokratische Idee stärker gestalterisch zu interpretieren. Programmatisch berief er sich auf Vorläufer in den USA sowie in Europa, die er vornehmlich in den Niederlanden (z.B. van den Broek en Bakema) und Schweden auf Reisen studiert hatte. Gerade der Schwede Peter Celsing (1920–1974, u.a. Stockholmer Kulturhaus) und der Niederländer Frank von Klingeren (1919–1999) weckten mit ihren Experimenten sein Interesse. Letzterer schuf ab 1965 mit Projekten in Dronten und Eindhoven „Begegnungspunkte ohne Festlegung“: „Wir suchten ein Ins­trument und eine Situation, in der alles geschehen kann, und zwar mit 60 Prozent Perfektion, 20 Prozent Ungemach und 20 Prozent Begegnung.“ Deilmann faszinierte der Gedanke, Großgebilde zu entwerfen, die Aktivitäten aufnehmen, auslösen und miteinander verknüpfen können. Über Büro- und Sitzungsstrukturen hinaus warb er für Verflechtungen unterschiedlicher Einzelnutzungen in einem baulichen Komplex: Bibliothek, Kunsthalle, Volkshochschule, Läden, Cafés, Hotel bis hin zum Theater, verbunden mit Innen- und Außenplätzen auf verschiedenen Ebenen.
Wer seine über 50 Wettbewerbsentwürfe und Gutachten allein zum Rathausbau der Zeit bis 1980 studiert, kann deutlich dieses Plädoyer lesen. Gebaut wurden von seinen vielfältig modulierten Entwürfen aber nur wenige. Nach Nordwalde und Münster gelang die Ausführung in acht weiteren Städten: in Bork (1964), Rheda-Wiedenbrück (1967–74), Gronau (1969–76), Köln-Porz (1969/1972–83), Coesfeld (1971–76), Minden (1974–78), Horstmar (1977) und Montabaur (1975–80).
In Gronau entstand eines seiner bemerkenswertesten Rathäuser. Auf einem Plangebiet von 13.000 Quadratmetern forderte die Stadt kühn einen „Großraum für Gronau“, damals ein Novum für einen Bau der öffentlichen Verwaltung. Kein Behördenbau, sondern ein „Haus der Bürger“ war gefragt. Publikumsstarke Ämter und Einrichtungen (Standesamt, Stadtkasse) sollten gleich im Erdgeschoss, repräsentative Büros für die Stadtspitze im ersten Obergeschoss Platz finden. Außerdem auf der Wunschliste der Stadt: ein zweigeschossiger Sitzungssaal mit Zuschauertribüne und einer Cafeteria sowie auf zwei Etagen Großräume mit Arbeitsplätzen für insgesamt 145 Mitarbeiter – um Bürgernähe, kurze Wege und fließende Arbeitsabläufe zu ermöglichen. Besonderer Wert wurde auch auf die Erweiterbarkeit der Arbeitsplätze gelegt, und sogar eine Stadthalle und eine Polizeistation waren als Optionen vorzusehen – die beide jedoch nicht ausgeführt wurden.
Für Deilmann galt es, eine modulare, flexible Lösung zu finden. Inspiriert von den Geometriestudien von Ernst Sieverts, legte er dem Gesamtkonzept ein Dreieck-Raster zugrun-de, eine geometrische Figur, die er für reversible Flächen für besonders optimal hielt. Er war der Überzeugung, dass sich dadurch die funktionelle Flexibilität und damit die Lebensdauer eines Bürogebäudes in ungeahnter Weise erhöhe, sodass eine Verwaltungsorganisation mit einem multiflexiblen Gebäude- und Raumkonzept praktisch zukunftssicher ist. Und Deilmann suchte die Flexibilität auf allen Ebenen: Der Städtebau ließ Erweiterungen zu, die Stadthalle konnte ergänzt werden, die Innenräume mit ihrem Raster, ob Großraum oder Foyer, erhielten vielfache Bespielungsmöglichkeiten, die Mö­bel wa-ren verschiebbar, klappbar, kombinierbar. Nur wenig war fixiert.
Die Jury lobte vor allem die eigenständige Komposition der Baumassen, die vielfältigen Umfeldbezüge, auch die verschiedenen Teilfunktionen der Aufgabe sah die Jury vorbildlich „zu einer großen Form zusammengefasst“, Einzelteile seien durch „lebhafte plastische Gliederung“ deutlich ablesbar. Hervorgehoben wurde auch die große zentrale Eingangshalle, da sie eine rasche Orientierung ermögliche und vielfältig zu nutzen sei. Zu bedenken gab man damals schon, dass der „Aufwand nach cbm umbauten Raum im oberen Bereich liegt“. Auch seien „die Baukörper teilweise stark differenziert, sodass sich u.U. höhere Bewirtschaftskosten ergeben könnten“. Die zusammengefügten Innenräume versprachen „ein interessantes Raumerlebnis“, ebenso „die Durchgestaltung des Äußeren, die ein erfreulich hohes Niveau zeige“.
Vom Städtebau zum Kleiderbügel
Wer den Bau heute betritt, wird vom guten Überlieferungszustand im Inneren überrascht. Noch verfügt es über die bauzeitliche Ausstattung: goldbrauner Teppichboden und Möbel sind überwiegend vorhanden. Der Bau erweist sich als Gesamtkunstwerk, durchdetailliert von der Raumplanung bis hin zum Kleinstdetail, wie passenden Kleiderbügeln, die ebenfalls für das Projekt entstanden. Das Rathaus in Gronau ähnelt darin prominenten Bauten jener Jahre. Die Frage nach seinem künftigen Schicksal beschäftigt selbst die Menschen in den Cafés: Soll es weichen oder soll man es erhalten? Häufig reichen Blicke, um festzustellen, wer wie denkt. Das Stimmungsbarometer ist eindeutig: Eine große Mehrheit ist für den Abriss. Kein Wunder, ein Betonbau der siebziger Jahre kann heute nur schwer reüssieren und ist ohne weitere Vermittlung vielen vorschnellen Urteilen ausgeliefert. Auch hat es ein Rathaus heute – in Zeiten von Sparprogrammen und Steuererhöhungen – schwer, von den Bürgern „Beinfreiheit“ in der ureigenen Finanzierung zu erhalten. Gerade die Kenndaten Wirtschaftlichkeit und Effizienz beschäftigen die Stadtverwaltung seit Jahren. Schon lange können die Mitarbeiter ihren Frieden mit dem Gebäude nicht mehr machen. Hohe Verbrauchswerte für Heizung und Strom, veraltete Elektroinstallationen, aufgelöste Fugen in den Außenwänden, durch die Wasser eindringt, das an Wänden und Fenstern herunterläuft, lassen ebenso aufhorchen wie Asbestfunde. Der Energiebedarf wird gleich hoch wie der Gesamtbedarf aller städtischen Schulen eingeschätzt. Auch ist der Raumbedarf der Verwaltung gestiegen, und die Großraumbüros genügen nicht mehr heutigen Bedürfnissen nach Ruhe, Datenschutz und Aktenhaltung. Fatal wirkte sich auf die allgemeine Wahrnehmung des Gebäudes aus, dass im-mer mehr Sanierungsmaßnahmen aus Ungewissheit unter­blieben und das Erscheinungsbild zunehmend litt – ein Teufelskreis. Zuletzt wurde ein Arbeitsausschuss gebildet, der ein externes Büro mit einer Machbarkeitsstudie beauftragte, in der zunächst drei, später zwei Varianten kalkuliert und einander gegenübergestellt wurden. Im Ergebnis sah man, dass eine Sanierung samt Erweiterung nur mit hohem Aufwand möglich wäre (rund 16 Millionen Euro) und ein kompletter Neubau (rund 12 Millionen Euro) die günstigste Variante darstellte. Da-mit war der Abrissbeschluss vorbestimmt, der Stadtrat schloss sich dieser Einschätzung im Februar 2012 an.
Es droht ein dreifacher Verlust
Dennoch: Man sollte diesen Bau erhalten. Denn wesentliche Kriterien und Ressourcen wurden nicht mitbedacht. Gerade Bauten der Nachkriegsmoderne müssen vielmehr als Ressource in energetischer, kultureller, sozialer und architektonischer Hinsicht begutachtet werden. Und wer sich auf diese Logik einlässt, lernt auch andere Kreisläufe zu rechnen und Strategien zu entwickeln. So wie es derzeit auch der Deutsche Pavillon auf der Architekturbiennale Venedig (Generalkommissar Muck Petzet mit Konstantin Grcic) vermittelt (Bauwelt 38), muss es darum gehen, „Bestand positiv aufzunehmen und das Vorhandene als Inspiration und Anstoß zur Weiterentwicklung zu begreifen“.
Das Gronauer Rathaus ist ein Schlüsselbau für die Iden­tität der Stadt. Es verweist auf den Boom der Stadt vor vierzig Jahren. Damals wurde Gronau Schrittmacher für eine ganze Region, war „Bundesausbauort“ in Westfalen. Das Rathaus galt als zeitgenössischer Mittelpunkt im deutlich größer gewordenen Stadtgebiet. Es ist ein Produkt moderner Raumplanung – im Großen wie im Kleinen. Nahezu seit vierzig Jahren versteht es sich als „Botschaftsgebäude“ der Stadt.
Gewiss, die Notwendigkeit seiner energetischen Sanierung steht außer Frage: Wer jedoch mit Nachhaltigkeit argumentiert, sollte den Kreislauf mit größerem Radius betrachten und das Gebäude als bereits vorhandene Energie bewerten. Abriss und Entsorgung bedeuten einen energetischen Aufwand, der bislang nicht in die Berechnungen eingeflossen ist. Das Gebäude abzureißen hieße, Energie zu vernichten.
Schließlich: Ein Hauptmerkmal des Rathauses ist seine flexible Struktur. Sie bietet die Chance, das Gebäude neu zu bestimmen, durch Neuorganisation und Erweiterung des Vorhandenen. Die Bürolandschaft als räumliches Modell ist für zukünftige Ansprüche entwickelbar.
Mit dem Abriss droht also gleich ein dreifacher Verlust – Verlust an Identität, an Energie und an architektonischem Erbe. Deshalb muss der Ansatz heißen: Weiterbauen! Dazu wird es notwendig sein, dass Politik, Verwaltung und Bürger den Bau neu bewerten. Ein Bürgerverein setzt sich für den Erhalt bereits ein, auch die Fachwelt ist neugierig darauf, ein solches Projekt zu entwickeln. Die Regionale 2016 „ZukunftsLAND“ (eine Strukturförderungsmaßnahme in NRW) könnte den passenden Rahmen dafür bilden. Vielleicht gelingt sodann mit dem alten Experimentalbau ein neues Experiment.



Fakten
Architekten Deilmann, Harald (1920-2008)
Adresse Konrad-Adenauer-Straße 1, 48599 Gronau


aus Bauwelt 40-41.2012
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