Bauwelt

1 Mittelgroß und gut durchmischt: Das Städtenetz Europas bietet Voraussetzungen für die Konfrontation mit der globalisierten Gesellschaft

Kees Christianse im E-Mail-Interview

Text: Geipel, Kaye

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    Interessante Paradoxien: Stand der HafenCity-Bebauung, Sommer 2014, zwischen Spiegel-Haus
    und Elbphilharmonie

    Foto: HafenCity Hamburg GmbH/Burkhard Kuhn

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    Interessante Paradoxien: Stand der HafenCity-Bebauung, Sommer 2014, zwischen Spiegel-Haus
    und Elbphilharmonie

    Foto: HafenCity Hamburg GmbH/Burkhard Kuhn

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    Feinmaschige, polyzentrische „Milchstraßenstruktur“
    Abbildung: „Zäsuren“, aus „Schichten einer Region. Kartenstücke zur räumlichen Struktur des Ruhrgebiets“. Herausgegeben von Christa Reicher, Klaus R. Kunzmann, Jan Polivka, u.a., Grafische Bearbeitung: labor b Designbüro

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    Feinmaschige, polyzentrische „Milchstraßenstruktur“

    Abbildung: „Zäsuren“, aus „Schichten einer Region. Kartenstücke zur räumlichen Struktur des Ruhrgebiets“. Herausgegeben von Christa Reicher, Klaus R. Kunzmann, Jan Polivka, u.a., Grafische Bearbeitung: labor b Designbüro

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    Vorbild europäischer Kleinstadt-Mix: Studentisches Entwurfsprojekt für die Stadt Chengdu im Rahmen des „Future Cities Laboratory“ der ETH Zürich (Ausschnitt)
    Abbildung aus: Die Stadt als Ressource. Texte und Projekte 2005–2014. Herausgegeben von Kees Christiaanse und Tim Rienits

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    Vorbild europäischer Kleinstadt-Mix: Studentisches Entwurfsprojekt für die Stadt Chengdu im Rahmen des „Future Cities Laboratory“ der ETH Zürich (Ausschnitt)

    Abbildung aus: Die Stadt als Ressource. Texte und Projekte 2005–2014. Herausgegeben von Kees Christiaanse und Tim Rienits

1 Mittelgroß und gut durchmischt: Das Städtenetz Europas bietet Voraussetzungen für die Konfrontation mit der globalisierten Gesellschaft

Kees Christianse im E-Mail-Interview

Text: Geipel, Kaye

Zur europäischen Stadt gehört untrennbar ihre geschichtliche Gewachsenheit. Gibt es bei der Gestaltung unserer ja meist mittelgroßen Städte so etwas wie zeitlose Werte, die aus der Geschichte der jüngeren Stadtentwicklung abzuleiten sind?
Die „Gewachsenheit“ selbst sollte ein Kernkriterium bei der Gestaltung der europäischen Stadt sein. Allerdings ist diese Gewachsenheit von Brüchen geprägt, die häufig übersehen werden und weit zurückreichen. So war die bauliche Transformation der Altstädte bereits Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend abgeschlossen, abgesehen von einigen extremen Eingriffen, wie z.B. denen von Haussmann in Paris. Um die Jahrhundertwende gab es dann als Folge der Industrialisierung enorme Erweiterungen. Die Ausdehnung der Städte hat sich innerhalb von einigen Jahren oft mehr als verdoppelt, und die Nachkriegsentwicklung hat diese Fläche innerhalb von vierzig Jahren noch einmal verfünffacht. „Wachstum“ hat damals „Gewachsenheit“ abgelöst, die Erweiterungen verliefen zeitlich synchron und morphologisch isoform.
Als Architekten und Städtebauer arbeiteten wir bis vor etwa zehn Jahren – abgesehen von im Zentrum geschädigten Städten wie Berlin – überwiegend in den Erweiterungen aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Die Geschichte der jüngeren Stadtentwicklung weist deutliche Zäsuren in der städtischen Form auf, wie das die Gründerzeit, die Moderne, die Postmoderne und der New Urbanism zeigen, ganz zu schweigen von den Veränderungen in der Peripherie. Den Begriff Transformation halte ich für noch wichtiger, als den der Gewachsenheit, weil eine gut gesteuerte Transformation die Geschichte wieder an die Oberfläche bringen und spürbar machen kann. Unsere Eingriffe in die Stadt sehe ich immer als „Transformation des Status quo“. Dabei spielen gewachsenen Strukturen, zu denen vor allem die Verkehrslinien gehören, eine entscheidende Rolle. Die Lehre der jüngeren Stadtentwicklung lautet für mich, dass an die Stelle großmaßstäblicher, neuer Stadtkonzepte die Selbstverständlichkeit einer Transformation tritt, die moderiert und gesteuert wird. Wir sollten Gewachsenheit induzieren.
Angesichts dieser Zäsuren in der Struktur – wie lässt sich die heutige Form der europäischen Stadt beschreiben? Auf welcher maßstäblichen Ebene lässt sie sich überhaupt vergleichen? Und welche Rolle spielt die charakteristische Architekturform, die man mit dem Idiom der „Europäischen Stadt“ gemeinhin verbindet, etwa im Vergleich mit der Morphologie von Stadtstrukturen in anderen Teilen der Welt?
Die entscheidende Errungenschaft der europäischen Stadt liegt für mich in ihrer Einbettung in eine Kulturlandschaft, und zwar sowohl im materiell-baulichen als auch im übertragenen, kulturellen Sinne. Die europäische Stadt ist, abgesehen von einigen Ausnahmen, eine mittelgroße Stadt; sie ist Teil eines Städtenetzes aus vielen solchen mittelgroßen Städten mit einer durchschnittlichen Maschenweite von weniger als 100 Kilometern. Die Verbindungsqualität zwischen diesen Städten ist hoch. Als Europäer leben wir fast immer innerhalb oder in der Nähe eines kompakten städtischen Kontextes, als auch innerhalb oder in der Nähe einer Kulturlandschaft, mit vielfältigen Verbindungsmöglichkeiten. Dieses Stadtgefüge ist weltweit einzigartig und steht für eine Lebensqualität, die im postindustriellen Zeitalter, verknüpft mit einem entsprechenden Energie- und Umweltmanagement, noch wichtiger werden wird.
Die polyzentrale Stadtlandschaft, erwachsen aus feudalen Stadtstaaten, später Bürgergesellschaften, dann Nationalstaaten, kann heute auch als das räumliche, dezentrale Abbild einer sozialdemokratischen Gesellschaftsform verstanden werden, die es so nur in Europa gibt. Solch eine feinmaschige, polyzentrische „Milchstraßenstruktur“, wie sie etwa die Randstadt Holland, das Schweizer Mittelland, Padanien in Italien, der Belgische Diamant, das Ruhrgebiet oder die Britische Midlands ebenso kennzeichnen, wie inzwischen auch sich allmählich polyzentrisch transformierende Agglomerationen wie London, Paris, Frankfurt oder Berlin, bildet heute den entscheidenden Katalysator einer innovativen, global vernetzten, urbanen Gesellschaft – ungeachtet der politischen, moralischen und ökonomischen Krise in Europa, in der wir uns heute befinden.
Während der moderne Städtebau des 19. und 20. Jahrhunderts in Europa versucht hat, die Defizite der industriellen kapitalistischen Gesellschaft durch verlässliche und langfristige Kriterien aufzufangen, steht die Planung der globalisierten Stadtgesellschaft heute vor der Forderung ununterbrochener Anpassungsfähigkeit. Was heißt das für den Stadtbegriff?
Das beschriebene feinmaschige Städtenetz bietet gute Voraussetzungen für die Konfrontation mit der globalisierten Gesellschaft, die qua Definition gleichzeitig immer auch global und lokal orientiert ist. Struktur und Form der Stadt sind nach wie vor bestimmt von den ökonomischen Kräften. Die Diversifizierungs-, ja Atomisierungsprozesse der globalen Wirtschaft kommen der europäischen Stadtkonfiguration, wie wir sie haben, entgegen. Durch die exponentielle Zunahme kleinerer Unternehmen, die in komplementären Produktions-und Dienstleistungsnetzen operieren, entsteht heute wieder eine stärkere Nachfrage nach Stadtquartieren mit kurzen Wegen, unterschiedlichen Raumangeboten und -mischungen von Wohnen und Arbeiten. Diese Entwicklung ist, neben der Auflösung der traditionellen Familienstrukturen, auch verantwortlich für die gegenwärtige Renaissance der Stadt; diese ist nicht auf eine bauliche Struktur zurückzuführen, wie es uns Botschaften von Stadttheoretikern und Politikern weis machen wollen.
Ein Charakteristikum der europäischen Stadt ist die heterogene Mischung ihrer Räume und die daraus resultierende Offenheit. Inwieweit beeinflusst das Nachdenken über die Strukturen einer solchen „offenen Stadt“ die Inhalte der Lehre, etwa im Sinne einer Haltung, die Stadtplanern
und städtebaulich entwerfenden Architekten vermittelt werden kann?
Die Frage spielt auf das Konzept der „Open City“ an, wie wir es bei der Biennale in Rotterdam 2010 thematisiert haben. Ihm liegt der Versuch zugrunde, die physischen Struktur- und Formelemente der Stadt zu identifizieren, die einen effektiven Nährboden für eine offene Gesellschaft, Stichworte Freiheit, Toleranz und Innovation, bilden. Diese Art der Gesellschaft wird ja in der Stadtsoziologie theoretisch genau beschrieben – ihre stadträumliche, physische Umsetzung kommt dabei aber häufig zu kurz (Jane Jacobs war da sicher eine Ausnahme), und beschränkt sich meist auf die banale Auflistung der Eigenschaften eines Gründerzeit-Quartiers. Wichtige stadträumliche Charakteristika einer offenen Stadt sind heute die Kommunikations- und die Mobilitätsfähigkeit. Dazu braucht es feinmaschige öffentliche Räume, die miteinander verbunden sind; es braucht neu gedachte Kontaktflächen im Erdgeschoss und nischenartige Übergänge zwischen Öffentlich und Privat; es braucht Diversität in Größe und Typologie von Parzellen und Gebäuden; und es braucht eine polyzentrische Stadtkonfiguration. Alle diese Eigenschaften hat ja die europäische Stadtlandschaft.
Und die gibt es nur hier?
Ein einseitiger Blickwinkel wäre fehl am Platz. Es lassen sich grundsätzlich andere Modelle zur Umsetzung einer offenen Stadtstruktur vorstellen. Wenn man viel in Asien, in unterschiedlichen Kulturen, Ökonomien, Dichten und Klimata unterwegs ist, wird man feststellen, dass sich offene Strukturen auch unter dem Dach und in bestimmten Arten von „Gatedness“ ausbilden können. Mir hat bei der Beurteilung der Qualitäten dieser Struktu-ren die Idee der „Group Form“ von Fumihiko Maki sehr geholfen; Maki koppelt die Idee der offenen Stadt nicht an eine bestimmte Typologie, sondern geht davon aus, dass auch stark differierende und auf den ersten Blick widersprüchliche Quartiers- und Gebäudetypologien eine funktionsfähige Stadt bilden können, wenn sie bestimmte Vernetzungskriterien erfüllen. Solche Strukturen versuchen wir zum Beispiel in unseren Entwurfsseminaren umzusetzen, etwa beim Projekt Symbio-City (siehe Seite 35) für die Stadt Chengdu.
An welchem neuen Stadtquartier ließe sich die Weiterentwicklung solcher vernetzter Strukturen beispielhaft aufzeigen?
Wie erwähnt liegt für mich die Beispielhaftigkeit nicht in einem bestimmten Stadttypus oder einem exemplarischen Quartier – das west-europäische Städtenetz ist für mich als Ganzes exemplarisch! Dazu gehören die Altstädte, die Gründerzeit, genauso wie die Stadtbrachen, die sich transformierenden Großwohnsiedlungen, die von Dörfern, Bandsiedlungen, Industrieparks und Universitätscampi bestückte Kulturlandschaft.
Wenn ich aber ein Quartier nennen darf, möchte ich die HafenCity in Hamburg nennen, die interessante Paradoxien aufweist. Sie ist fast ein Neubauquartier, eine Stadterweiterung, befindet sich aber mitten in der Stadt. Sie wurde in den letzten zwölf Jahren gebaut und ist heute halbfertig, wirkt aber jetzt schon „gewachsen“. In der kurzen Zeit ihrer Existenz hat sich ein sozialer „Humus“ mit einer erstaunlichen Substanz und Vernetzung etabliert, von einer räumlichen Vielfalt, die man üblicherweise in Stadtteilen mit einer viel längeren Geschichte vorfindet.

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