Bauwelt

„Wenn gesagt wird, Ingolstadt sei eine Boomtown, ist mir das in vielerlei Hinsicht zu platt“

Renate Preßlein-Lehle im Gespräch mit Marc Hofmann

Text: Hofmann, Marc, München

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Renate Preßlein-Lehle
Foto: Kajetan Kastl

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Renate Preßlein-Lehle

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Wichtigstes Entwicklungs­gebiet direkt an der Donau ist das alte Gießereigelände.
Luftbild: Klaus Leidorf

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Wichtigstes Entwicklungs­gebiet direkt an der Donau ist das alte Gießereigelände.

Luftbild: Klaus Leidorf


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Schiffsbug des Stadttheaters von Hardt-Waltherr Hämer
Foto: Stadtarchiv Ingolstadt

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Schiffsbug des Stadttheaters von Hardt-Waltherr Hämer

Foto: Stadtarchiv Ingolstadt


„Wenn gesagt wird, Ingolstadt sei eine Boomtown, ist mir das in vielerlei Hinsicht zu platt“

Renate Preßlein-Lehle im Gespräch mit Marc Hofmann

Text: Hofmann, Marc, München

Ingolstadt wuchs in den letzten Jahrzehnten und wird auch in Zukunft wachsen. Die prosperierende Autoindustrie trägt ihren Teil dazu bei, und doch überrascht das Ausmaß des Wachstums. Die jüngste Großstadt Deutschlands – das Attribut wird ab 100.000 Einwohner vergeben – liegt in einer dynamischen Metropolregion an der ICE-Strecke zwischen München und Nürnberg und ist über die Autobahn München-Berlin einfach zu erreichen.
Weniger eindeutig ist eine andere Frage: Welche Identität gesteht sich die Stadt selbst zu, und welche möchte sie entwickeln? Die Altstadt, zusammen mit dem sie umgebenden Festungsgürtel des Glacis, nahe der Donau, gibt räumlichen Halt in einem heterogenen Stadt­gefüge, das geprägt ist von großflächigen Gewerbearealen, von dem für eine Konversion bereits freigeräumten Bayern­oil-Areal, von ausgedehnten Ein- und Zweifamilienhausquartieren, von dörflichen Ortsteilen und Landschaftsräumen und vom Shopping-Center, dem „Ingolstadt Village“, ganz im Nordosten. Der Hauptbahnhof liegt eher peripher. Aber auch die Flächen der Audi AG im Nordwesten sind wenig wirtlich: Vor den Eingangstoren dehnen sich endlose Park-flächen in unmittelbarer Nachbarschaft zu Wohnquartieren aus. Welche Perspektiven für die Entwicklung der Gesamtstadt und welche Teilstrategien verfolgt die Stadtbaurätin Renate Preßlein-Lehle? Welche Rolle spielt dabei der große Player Audi, immerhin Auslober eines „Urban Future Award“? Das wollten wir von ihr in ihrem Büro in der Innenstadt wissen.
Frau Preßlein-Lehle, welches Bild von Ingolstadt beschreibt Ihre Stadt – im Sinne der aktuellen Herausforderungen – eigentlich am besten? Ist Ingolstadt vor allem eine Industriestadt mittlerer Größe im Dunstkreis der Metropole München? Oder ist es vor allem die Audi-Stadt? Sollten wir zuerst von der Großstadt reden, die in den letzten Jahren ein beispielloses Wachstum erfahren hat? Oder ist es vor allem die Stadt mit ihrem Erbe an eindrucksvoller Militärarchitektur aus dem 18. und 19. Jahrhundert, eine moderne Festungsstadt, deren Glacis heute zum Ausgangspunkt für neue räumliche Planungen zwischen Altstadt und Peripherie geworden ist?
Der Blick auf Ingolstadt wird häufig auf das Thema Industrie und Audi reduziert. Man sieht dann von der Autobahn aus die Raffinerien und die flächenmäßig großen Fabrikanlagen im Stadtgrundriss. Dieses Bild greift zu kurz. Leicht übersieht man dabei die historische Altstadt. Und in der Stadtgeschichte gab es viele außergewöhnliche Brüche, die bis heute die Stadt prägen.
Wo liegen denn diese Brüche?
Vom Mittelalter bis zum Ende der Barockzeit war Ingolstadt zuallererst ein geistiger Ort. Die erste bayerische Landesuni-versität wurde in Ingolstadt gegründet! Der Roman „Frankenstein“ der englischen Schriftstellerin Mary Shelley spielt an der damals europaweit berühmten medizinischen Fakultät Ingolstadts. Die Stadt hat ihre Bedeutung dann auf ganz dramatische Weise verloren: 1800 wurde die Festung geschleift, die Landesuniversität wurde erst nach Landshut und dann, 1826, nach München verlegt. Ingolstadt wurde Garnisonsstadt, wurde eine ganz andere, eine verarmte Stadt. Im 19. Jahrhundert hat man dann die Festung wieder ausgebaut – als eine Art Konjunkturmaßnahme des bayerischen Königshauses. Ingolstadt war zu jener Zeit eine Obrigkeitsstadt, ein freies, die Stadt gestaltendes Bürgertum gab es nicht. Erst in der Nachkriegszeit erhielt die Stadt mit der Automobilindustrie Entwicklungsmöglichkeiten. Das starke Wachstum – 1989 wurde die 100.000-Einwohner-Grenze überschritten, heute sind wir
bei knapp 130.000 Einwohnern, mit steigender Tendenz – lässt die Stadt prosperieren. Aber sie ringt auch um eine neue räum­liche und kulturelle Identität.
Welche Rolle spielt Audi bei der jüngeren Entwicklung?
Wenn gesagt wird, Ingolstadt sei eine Boomtown, dann ist mir das in vielerlei Hinsicht zu platt. Diese Zuschreibung gibt die Realität und auch die Anforderungen der Zukunft nicht angemessen wieder. Auch der Begriff Industriestadt greift zu kurz – viele Beschäftigte bei Audi arbeiten mittlerweile in der Forschung und der Entwicklung. Das Bildungsthema ist für uns zentral, in den letzten Jahren wurde sehr viel in Ingolstadt als Bildungsstandort investiert, beispielsweise mit der Ansiedlung der Fachhochschule 1994.
Ist Audi ein eher mit sich selbst beschäftigter, planerischer Faktor „vor den Toren der Stadt“, oder partizipiert das Unternehmen mit seinen 35.000 Beschäftigten auch aktiv an der aktuellen Stadtentwicklung?
Man muss differenzieren. Es gab eine lange Phase, in der entwickelte sich das Werk wie eine Enklave im Nordwesten der Stadt. Interessanterweise wurden in der ersten Nachkriegsphase auch in ehemaligen Festungsbauten produziert. Diese räumliche Trennung nutzte damals der Firma, sie war aber auch sinnvoll für die Stadt. Diese Zeiten sind vorbei. Die Knappheit der Ressource Fläche macht enge stadträumliche Verknüpfungen und ein gemeinsames Entwickeln unverzichtbar. Audi kehrt inzwischen auch mit einer Reihe von Nutzungen – wie dem Audi-Forum – in die Kernstadt zurück.
Das rasante Wachstum hatten wir schon angesprochen. Ingolstadt ist die jüngste Großstadt Deutschlands. Sie hat vor 25 Jahren die 100.000-Einwohner-Grenze überschritten und ist seit damals um dreißig Prozent gewachsen. Entsprechend groß ist der Bedarf an Wohnraum. Ingolstadt hat eine für Deutschland relativ junge Bevölkerung, mit ganz besonderen Ansprüchen an die kulturelle Infrastruktur und an die Wohntypologien. Wie gehen Sie mit solchen strukturellen Pro­blemen um?
Zunächst einmal: In einer Stadt, die wächst, kann man gestalten! Das Siedlungsgebiet hat sich vergrößert, und die Beschäftigtenzahlen bei Audi sind gewachsen. Ich will Ihnen ein Beispiel dafür nennen, wie sehr wir uns ändern: In den neunziger Jahren haben wir noch um einen zweiten Grünring gekämpft, der sich in die Kontur des zweiten Festungsrings einpasst. Dieser grüne Ring soll als unbebaute Zäsur der Siedlungsgliederung dienen und innen und außen miteinander verknüpfen. Es gab heftige Debatten, ob man dieses Terrain so frei lassen soll. Heute ist dieser Grünring fest in den Köpfen der Bürger verankert. Er spielt eine zentrale Rolle beim Wachstum der Stadt. In seiner Funktion als Landesgartenschau­gelände 2020 haben wir endlich auch die Gelegenheit, dieses grüne Band aktiv zu gestalten.
Grünräume sind für die wachsende Bevölkerung sicher wichtig. Aber wie wollen Sie die kulturelle Attraktivität der Altstadt nicht nur für die ältere, sondern auch für die nach Ingolstadt ziehende junge Bevölkerung erhöhen?
Bisher sehe ich da Defizite. Das Zentrum ist eine besondere Herausforderung. Derzeit leben in der Innenstadt etwa 6500 Menschen. Die überwiegende Mehrheit wohnt also in den angrenzenden Stadtteilen. Doch in der Altstadt manifestiert sich ja auch das, was wir unter „Stadt“ verstehen. Wir haben dort, und darauf sind wir stolz, eine sehr hohe Denkmaldichte; wir haben die erhaltene mittelalterliche Struktur und wichtige Gebäude aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Wir erweitern gerade das Medizinhistorische Museum mit seinem eindrucksvollen Barockgarten durch einen außergewöhnlichen Neubau von Volker Staab. Es gibt in der Tat rückläufige Veränderungen auch im Einzelhandel, auf die wir reagieren. Wir sehen es als Chance, die Altstadt im Zuge dieser Veränderungen so auszurichten, dass sie mehr ein Ort des Treffens und der Kultur wird.
Wie soll dies geschehen?
Die größte und wichtigste Maßnahme bei der Altstadtentwicklung ist das Gießereigelände im Osten. Hier siedeln wir neue Nutzungen an, die dem Nutzungsgemisch der Altstadt noch eine andere Ausrichtung geben. Wir erweitern die Technische Hochschule, und hier entsteht das Museum für Konkrete Kunst und Design, nach einem Entwurf von Querkraft Architekten, Wien, in der denkmalgeschützten Gießereihalle und einem Untergeschoss. Dazu kommen das im Kavalier Dallwigk vorgesehene Europäische Donaumuseum und ein Kongresszentrum mit Hotelbetrieb. Auch die Audi AG hat sich mit einem Seminargebäude, das dieses Jahr eröffnet wird, an dieser Stelle erstmals im Altstadtbereich etabliert. Wenn uns das alles so gelingt, wird das neue Nutzer in die Altstadt bringen. Mit dem einstigen Image einer Industriestadt hat ein solches Kultur- und Bildungsareal nichts mehr zu tun.
Gehen wir an die Ränder der Stadt. Im Südosten gibt es das hundert Hektar große Bayernoil-Gelände, das 2011 Teil des Europan-Wettbewerbs für eine Nachnutzung war. Das Ergeb­­nis war überregional vorbildlich für die Wiederein­glie­de­rung eines ehemaligen Raffinerieareals. Seither sind drei Jahre vergangen, was hat sich getan?
Das Gelände bietet viele Chancen, aber es stellt uns auch vor Herausforderungen: Es liegt am Rande eines Naturschutzgebietes und an den Donau-Auen. Doch die jahrzehntelange Nutzung als Raffinerie hat gravierende Spuren im Boden hinterlassen. Ein größeres Wohngebiet ist da schon wegen der Kontamination nicht so einfach umzusetzen. Aber das Gelände einfach mit Gewerbe zu überziehen: da wäre der Naturraum verschenkt. Der Europan-Wettbewerb war insofern wichtig, als er uns in der Vorstellungskraft weitergeholfen hat, wie wir ein solches Gelände über einen längeren Zeitraum entwickeln können. Das heißt zunächst einmal: Strukturen schaffen, um den Imagewandel solcher Transforma­tionsareale hinzubekommen.
Wo sonst innerhalb des Stadtgebiets wollen sie dann der Nachfrage nach Wohnraum gerecht werden? Wie sieht es zum Beispiel in den Einfamilienhausquartieren aus? Lässt sich hier nachverdichten?
Wir sehen innerhalb der Kernstadt eine ganze Reihe von Orten, an denen wir neue Siedlungen ausweisen können. Eine Konversionsfläche nah am Stadtzentrum, das Pionier­gelände, haben wir mit relativ hoher Dichte bebaut. Es gibt weitere Altgewerbestandorte, an denen wir eine gute Innenentwicklung betreiben können. Aber es ist schon so: Achtzig Prozent unseres Gebäudebestandes sind Ein- und Zwei­familienhäuser. Neue Konzepte könnten soziale Konflikte nach sich ziehen, die viele Städte bei der Nachverdichtung in diesen Bereichen haben.
Die Einfamilienhausquartiere sind ja auch deshalb in Zukunft schwierig, weil sie überaltern, ohne eine entsprechende Infrastruktur anzubieten.
Das ist richtig, hier sind neue Konzepte gefragt. Aber es geht dabei gerade auch um die Vermittlung solcher neuen Konzepte an Eigentümer und Investoren.
Der demographische Wandel verlangt nach anderen Wohnformen, die das aktuelle Angebot kaum bedient. Wie fördern Sie den Mut zum Experiment?
Bei unserer städtischen Tochter, der gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft, ist es seit langem Tradition, dass man Wettbewerbe durchführt und innovativen Wohnungsbau anstrebt. Bei den Privaten ist es schon schwieriger, gerade bei Investoren, die an Kapitalanleger weiter veräußern und ein sehr traditionelles Wohnungsangebot liefern. Da zählt vor allem das Motto: Ich gehe auf Nummer sicher.
Wie werden Sie verhindern, dass eine solche Suche nach neuen Wohnmodellen in den eben von Ihnen beschriebenen Sackgassen endet?
Wir hatten zum Beispiel vor einiger Zeit eine Ausstellung zum Thema Lebenswelten, bei der wir mit den Bewohnern über die Frage: „Wie wächst unsere Stadt?“ diskutierten. Wir haben gezielt auch nach Wunschbildern gefragt: „Wie wollen wir wohnen?“ Es gab dann auch Expertenbefragungen unter den Bewohnern. Wir haben beispielsweise bei vielen älteren Einfamilienhausbesitzern eine große Offenheit wahrgenommen – das zielt auch auf Ihre Frage nach den Einfamilienhausquartieren – , in neue Wohnprojekte einzuziehen, die ein Mehrgenerationenwohnen anbieten würden. Allerdings: Uns fehlen im Moment Investoren, die solche Wohnprojekte rea­lisieren wollen. Wir betreten da Neuland.
Wollen Sie auch in der Altstadt nachverdichten?
Das Interesse, in der Altstadt zu wohnen, ist groß, vor allem bei den älteren „Urbaniten“, von denen der eine oder andere aus dem Einfamilienhaus an der Peripherie in die Innenstadt ziehen möchte. Diese zum Teil sehr aktive Bevölkerungsgruppe um die Sechzig sucht verstärkt nach einem kulturellen Angebot direkt vor der Haustür. Für sie ist es attraktiv, morgens im Café zu frühstücken und abends ein Konzert in Hardt-Waltherr Hämers fantastischem Stadttheater zu besuchen. Natürlich möchte ich keinen reinen Altenwohnort in der Altstadt haben. Aber ich möchte auch nicht, dass es nur ein Wohnort für Studenten wird. Was die europäische Stadt ausmacht, ist die Vielfalt – in der Baustruktur, in der Nutzung,
im Lebensalter, in den Tätigkeiten. Ich glaube, das suchen wir alle.
Fakten
Architekten Preßlein-Lehle, Renate, Ingolstadt
aus Bauwelt 36.2014
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