Bauwelt

Dessau-Roßlau

Text: Geipel, Kaye, Berlin

Dessau-Roßlau

Text: Geipel, Kaye, Berlin

Ausgedehnte Industriebrachen und mehr als 3400 Wohnungen wurden seit 2003 abgerissen. An ihrer Stelle entstand ein grüner Landschaftszug, der die ganze Stadt durchquert. Angesichts der enormen Größe dieses Grünbereichs schied die Idee, einen herkömmlichen Park mit Alleen und gepflegten Blumenrabatten anzulegen, von Anfang an aus.
Was tun, wenn der Stadtkörper zu groß geworden ist für die Bewohner? Man kann sich auf die Mitte konzentrieren und von außen nach in- nen zurückbauen. Was tun, wenn es eine solche klar definierte Mitte aber gar nicht gibt? Dann wird der Abrissprozess zu einem komplexen Nebeneinander von Verdichtung und Entflechtung. Dessau, seit 2007 Dessau-Roßlau, hatte 1989 104.000 Einwohner. Heute sind es noch 75.000 Einwohner (ohne die dazugekommenen aus Roßlau). Prognosen sehen die Einwohnerzahl bis auf 50.000 fallen. Im Zuge des „Stadtumbau Ost“-Programms entwickelte die drittgrößte Stadt von Sachsen-Anhalt 2001 zusammen mit dem Bauhaus die Idee eines innerstädtischen Landschaftszugs: ein 90 Hektar großes grünes Band vom Bahnhof bis in die Südstadt, das an die Stelle der Abrissflächen treten sollte – vor allem in der Südstadt gab es Industriebrachen und leer stehende Plattenbauten. Die Idee wurde 2002 von der IBA aufgegriffen und unter dem Stichwort „Urbane Kerne und landschaftliche Zonen“ weiterentwickelt. Ende 2003 versuchte die Stadt mit den Wohnungsgesellschaften zu vereinbaren, welche Bauten im Sinnes des Grünzugs abgerissen werden sollten, um klare stadträumliche Kanten ausbilden zu können. Dieser große „Abriss­flächenkonsensplan“ scheiterte jedoch an den unterschiedlichen Interessen. In der Folge galt es, nicht nur die Wohnbaugesellschaften, sondern auch viele weitere Besitzer von fast 1000 kleinen und kleinsten Grundstückspositionenimmer wieder aus Neue für die Idee des schlangenförmigen Grünzugs zu begeistern.
Eine Reihe von grundstücksrechtlichen
Modellen (Tausch, Erbbaurecht, Miete, Pacht,Gestattungsverträge) zur Übernahme der Flächen durch die Stadt wurden entwickelt. Man installierte eine Planwerkstatt und dachte sich ein Umsetzungsmodell aus, das auch auf kleinen Einheiten funktioniert. Bei der Methode, „Pixelierung“ genannt, wurde das Gelände in Quadranten kartiert. Wo in einem Quadranten durch entsprechende Verhandlung dem Abriss nichts mehr entgegensteht, wird die Bebauung schrittweise durch Grünfläche ersetzt. Für die Renaturierung dieser Stadtlandschaft hat man grüne Module entwickelt. Der übliche Standardrasen, den man zunächst verwendet hatte, brachte wenig überzeugende Ergebnisse. Die Hochschule von Sachsen-Anhalt wusste Rat, und heute wächst überall eine einschürige Wiese aus Mahd- und Saatgut. Außerdem wurden jeweils fünf Eichen zu einer Gruppe gepflanzt, sogenannte Eichen-Quincunx. Da und dort gibt es neue Bänke.
Die „städtische Landschaft“, die so im Zentrum von Dessau entstanden ist, wirkt karg. Sie hat aber den Vorteil, dass sie leicht zu pflegen ist und als kontinuierlicher Raum wahrgenommen wird. Um diesen grünen Stadtraum weiter zu aktivieren, wurden privat bewirtschaftete „Claims“ ausgewiesen. Das sind 400 auf 400 Quadratmeter große Grünflächen,die an Privatpersonen – unter gewissen Regeln – kostenfrei zur Pflege übergeben werden. Zwischen der Stadt und dem Nutzer wird ein Gestattungsvertrag geschlossen. Eine Apothekerin hat einen Heilkräutergarten angelegt, ein anderer Nutzer hat Abbruchsteine so aufgetürmt, dass sie einem japanischen Meditati­onsgarten ähnlich sehen; ein Imker bepflanzte eine Bienenweide. 19 solcher – nach außen nicht abgegrenzter – Claims gibt es heute. Das sind nicht eben viele, vergleicht man es mit den üblichen Kleingartenanlagen. Eine wichtige Funktion hatten diese Claims in jedem Fall: Sie brachten die Debatte unter den Bewohnern, wie denn die neue Landschaft in ihrer Mitte aussehen soll und wie viel Aufwand da­für nötig sei, in Gang. Die anfängliche Begeis­terung über das viele Grün war nämlich bald durch die Frage abgelöst worden: Wozu das Ganze? Eichen wachsen langsam, und mit den Magerwiesen war fürs Erste nicht viel anzufangen. Die Stadt warb mit großen Plakaten für die neuen Gärten. Das wirkte hilflos. 2006, bei der jährlichen IBA-Evaluation, wurde klar, dass es mit Marketing allein nicht getan ist. Seit 2007 wird der sogenannte „Rote Faden“ realisiert: Man kann dem Grünzug jetzt auf ei­nem eigens angelegten Weg quer durch die Stadt folgen. Sukzessive wurden Hinweisschil­der mit Vorher-Nachher-Fotos und kleinen Ge­schichten aufgestellt, und es gibt rote Wimpel aus Stahl, die Ortsunkundigen zeigen, wo esjeweils weitergeht. Die Tafeln erzählen von der Transformation einer Stadt, die sich in einem langen Verständigungsprozess mittels wenigerRegeln darauf geeinigt hat, wie trotz rückläufigem Wachstum Stadt zu machen ist.  

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