Bauwelt

Bauplatz Petersburg

Text: Rheinberg, Mark A., Sankt Petersburg; Gerassimow, Jewgenij L., Sankt Petersburg; Samzow, Juri I., Sankt Petersburg; Mamoschin, Michail A., Sankt Petersburg; Padalko, Sergej W., Sankt Petersburg

Bauplatz Petersburg

Text: Rheinberg, Mark A., Sankt Petersburg; Gerassimow, Jewgenij L., Sankt Petersburg; Samzow, Juri I., Sankt Petersburg; Mamoschin, Michail A., Sankt Petersburg; Padalko, Sergej W., Sankt Petersburg

Uns interessierten ihre Startbedingungen als Existenzgründer, ihre Sicht auf das Bauen in Sankt Petersburg und das internationale Architekturgeschehen – fünf Petersburger Architekten, zwei der älteren, zwei der mittleren und einer der jüngsten Generation, gaben Auskunft auf die Fragen der Redaktion. Wir haben jeden von ihnen zudem um ein Foto eines eigenen Projekts gebeten, das beispielhaft für die Arbeit in ihrer Heimatstadt steht. Erreicht haben uns fünf skizzenhafte Bekenntnisse und eine Reihe von Bildern, die ungeschönt von der baulichen Realität im Venedig des Nordens berichten.
Mark A. Rheinberg
Geb. 1938 in Leningrad, Absolvent der Staatlichen Architektur- und Bauuniversität Leningrad, Architekt bei LenNIIprojekt bis 1988, dann Aufbau und Leitung des unabhängigen Architekturbüros Rheinberg & Scharow.
 
Nach einem Streit mit der Leitung über künstlerische Fragen habe ich 1988 LenNIIprojekt mit der Hoffnung verlassen, endlich meine eigene Architektur machen zu können. Das erste Projekt war ein kleines Landhotel für Jagdgäste, das von der Genossenschaft Orion in Auftrag ge­geben worden war. Ebenfalls für Orion durfte ich dann einige private Blockhäuser entwerfen, die im „russischen Stil“ für Auftrag­geber in Russland und Schweden gefertigt wurden. Parallel dazu kamen Aufträge für Objekte in Leningrad und in der Provinz. 1990 er­gab sich juristisch die Möglichkeit, ein eigenes Büro zu gründen. Das Büro Rheinberg & Scharow arbeitet in erster Linie für Sankt Petersburg. Wir hängen an unserer Stadt und sind bemüht, ihre architektonischen Traditio­nen weiterzuführen, d.h., die hier geltenden Proportionen zu wahren. „Typisch petersburgisch“ bedeutet für uns, dass ein heute gebau­tes Haus ein Haus des 21. Jahrhunderts sein und sich dennoch mit sei­ner historischen Umgebung ver­tragen muss. Inwieweit in der Innenstadt modern gebaut wer­den darf, darüber wird schon seit Jahren in aller Öffentlichkeit debattiert. Einige von unserem Büro entworfene Gebäude, etwa das Wohnhaus am Manegeplatz oder ein Kaufhaus direkt neben der Kasaner Kathedrale, sind da durchaus umstritten.
Ja, es waren ausländische Baumeister, die Petersburg im 18. und 19. Jahrhundert erschaffen haben, doch gleichzeitig wuchs auch die Zahl russischer Architekten, die Großarti­ges leisteten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam die Entwicklung einer ureige­nen Petersburger Architektur zum Stillstand, jetzt wird sie durch unsere Bemühungen wiedergeboren. Erfahrungen mit ausländischen Architekten haben gezeigt, dass sie uns gegenüber keinen kreativen Vorsprung haben. Deshalb bin ich mit ihrer Hinzuziehung nur einver- standen, wenn sie unter gleichen Wettbe­werbs­bedingungen wie wir antreten.

Jewgenij L. Gerassimow
1960 im Altai-Gebiet geboren, absolvierte 1983 das Leningrader Bauingenieurinstitut, 1983–90 Projektleiter bei LenNIIprojekt, 1991 Gründung des eigenen Büros „Gerassimow und Partner“, zahlreiche nationale und inter-nationale Preise und Auszeichnungen.

Unser erster „freier“ Auftrag waren zwei Seitengebäude auf dem Newski-Prospekt mit einer Fläche von ca. 2000 m². Wir haben mit gewöhnlichen Stuckfassaden angefangen, Bedeutenderes gab es noch nicht. Davor, bei den Projekten von LenNIIprojekt, hatte es nicht einmal Stuck gegeben, nur Plattenbau. Nachdem wesentliche Projekte erst mal für Sankt Petersburg entstanden sind, beginnen wir nun, auch für andere Regionen zu arbeiten: in Kaliningrad, Omsk, Sotschi. Vielleicht sogar im Ausland – mal sehen, es gibt da so einige Ideen.
Wir haben lange nach Formulierungen gesucht, was denn das „Petersburgische“ in der Architektur sei – der Stil, das Verhalten, eine spezielle Form –, und dann ist mir der Gedanke gekommen, es könnte in einer gewissen edlen Zurückhaltung liegen. Egal, ob Klassizismus, Konstruktivismus, Stalin’sche Architektur oder die Moderne der 60er Jahre: Stets dominiert hier bei uns der Städtebau. Dem einzelnen Haus kommt keine besondere Bedeu­tung zu (solange es nicht gerade die Isaaks-Kathedrale ist). Soweit ich sehe, basiert der ge­samte Petersburger Städtebau auf diesem imperialen Prinzip – wie im Alten Rom, wo auch das Gesamte stets das Einzelne überwog. Wo der Mensch nichts und der Staat alles ist.
Was die Stadt jetzt braucht, ist eine vielfältige Architektur, aber eine gute. Stilistische Einheitlichkeit ist nicht wichtig. Wenn an einem Ort über 300 Jahre lang verschiedenste Stile zueinandergefunden haben, wenn das qualitativ gut gemacht ist und sich einer städtebaulichen Idee unterordnet, warum denn nicht? Leider wird hier darüber viel zu wenig diskutiert. Und was den Einfluss des internatio­nalen Mainstreams auf unsere Arbeit betrifft, so sind jetzt Hightech-Spielchen angesagt, die sogenannten „europäischen Schachteln“ oder eben ernsthafte historische Architektur ohne postmodernen Schnickschnack. Mich würde ja eher die Polarisierung interessieren: entweder ganz nach vorn oder ganz zurück. Im internationalen Feld stehen mir David Chipperfield und Mario Botta besonders nahe, erstklassige Meis­ter ihres Fachs, wie auch die Deutschen von Gerkan, Marg und Partner und der Italiener Gino Zucchi. Europa hat viele würdige Profis.

Juri I. Semzow
Geb. 1938 in Leningrad, absolvierte 1962 die Architekturfakultät des LISI, danach Arbeit bei „Lenprojekt“ in der Werkstatt Nr. 5 unter Leitung von Lewinson und Goldgor, anschließend bei „Giprotorg“. 1989 Gründung des Architekturbüros Semzow & Kondjain.
 
1989 durfte ich zum ersten Mal in ein kapitalistisches Land reisen, nach Finnland, wo ich mit eigenen Augen sah, wovon wir immer nur geträumt hatten – dass ein Architekt wirtschaftlich unabhängig und frei in der Wahl seiner Arbeit sein kann. Während dieser Reise erfuhr ich, dass auch uns sowjetischen Architekten be­reits seit einigen Monaten ein Recht auf eigene Ateliers zustand. Bereits einen Monat später erhielten wir als Erste in der Stadt das Zertifikat, das uns gestattete, ein privates Büro zu eröffnen. Auch mit unserem ersten Auftrag auf dem freien Markt hatten wir Glück, gemeinsam mit österreichischen Kollegen konnten wir das Hotel Newski Palace realisieren.
In der Sowjetzeit hatten wir im ganzen Land gearbeitet, und häufig war es einfacher, in der Provinz etwas Interessantes zustande zu bringen, als in Leningrad. Deshalb bin ichja von Lenprojekt zu Giprotorg gewechselt, dem Staatlichen Institut für die Projektierung von Handels- und Versorgungsbetrieben, wo auch mal ein Einkaufszentrum in Omsk oder ein Kaufhaus in Lwow zu entwerfen war. Heute arbeiten wir mit unserem Büro ausschließlich für Sankt Petersburg, dafür aber an Objekten verschiedenster Art mit sehr unterschiedlichen Auftragsvolumina.
Ein Bauwerk sollte seine Zeit widerspiegeln. Sankt Petersburg wurde von den verschie­densten, aber immer erstklassigen Architekten und Ingenieuren erbaut, deren Werke leicht die Entstehungszeit, den Wandel der ästheti­schen Vorlieben wie der technischen Möglichkeiten erkennen lassen. Räumliche Traditionen und Bebauungsregeln, die (wie das Talent der Architekten und nicht irgendwelche konkreten stilistischen Besonderheiten) der Stadt ihre wunderbare Geschlossenheit garantierten, wur­den immer streng beachtet. Was es früher praktisch nie gab, ist dieses provinziell Ordinäre, das in letzter Zeit unter dem Deckmantel eines angeblichen „Petersburger Stils“ gelegentlich auftaucht. Was uns dazu leider fehlt, ist eine professionelle Architekturkritik. Die bösartigen Verrisse und Angriffe, die mitunter in der Presse auftauchen, nutzen weder der Stadt noch den Architekten.
Was den internationalen Mainstream betrifft, so bin ich überzeugt, dass man ihn auch von unserer Stadt nicht fernhalten kann – im Informationszeitalter ist es unmöglich zu ignorieren, was in der Welt vor sich geht. Deshalb bin ich für die Einladung ausländischer Kollegen, am besten allerdings von solchen, die unsere Behörden nicht mit ihrem Starstatus hypnotisieren.

Michail A. Mamoschin
Jg. 1960, absolvierte 1984 das Leningrader Bauingenieurinstitut, danach in verschiedenen Planungsinstituten, 1990–93 Projektleiter für Siedlungshäuser in Großplattenbauweise. 1993 Grün­dung der „Architekturwerkstatt Mamoschin“, als deren Generaldirektor er zeichnet.
 
Als unser Büro 1993 gegründet wurde, lagen einige Jahre in einem staatlichen Betrieb hinter mir, während derer ich bereits private Praxiserfahrungen sammeln konnte. Es bestand Hoffnung auf Veränderungen in der Gesellschaft und auf eine Integration Russlands in Europa. Dafür fühlte ich mich gut gerüstet, da ich an etlichen Ideenwettbewerben teilgenommen hatte und meine Entwürfe sowohl in der UdSSR als auch im Ausland gut angekommen waren. Unsere Generation hatte das Glück, zu den Erneuerern des architektonischen Prozesses in Russland zu gehören. Das erste Projekt, das ich verwirklichen konnte, war ein privates Landhaus draußen vor der Stadt.
Inzwischen arbeite ich ausschließlich für Sankt Petersburg, das reicht mir völlig aus. Die Stadt hat so viele Facetten, denen ich mich in den letzten Jahren durch verschiedenste architektonische „Formate“ zu nähern versuchte. Anfangs lagen unsere Projekte in den „Leningrader“ (den Nachkriegs-)Bezirken der Stadt. Seit zehn Jahren arbeite ich nur noch in derAltstadt. Unter anderem haben wir in der Wolynski-Gasse ein Parkhaus mit einem Geschäftszentrum darüber errichtet, das erste Parkhaus mitten im Weltkulturerbe. Außerdem haben wir versucht, dem Newski-Prospekt Konkurrenz zu machen, mit einer Fußgängerzone, die das Wohnhaus „Neues Colosseum“, das Geschäftszentrum „Alia Tempora“ und ei- nen Hotelkomplex „Novotel“ umfasst.
Wie jede Stadt hat auch Sankt Petersburg einen eigenen Code. Da man innerhalb des alten Kerns im 20. Jahrhundert nicht von der „figurativen“ zur abstrakten Architektur gewechselt hat – im Gegensatz zu anderen Metro­polen Europas –, haben wir es hier mit einer ungebrochenen Tradition zu tun. Die ist in erster Linie durch das Erbe des Klassizismus geprägt, mit Spuren eines gewissen Regionalis­mus, also Anklänge nordischer und altrussi­scher Baukunst.Typisch für die Petersburger Architektur der Gegenwart scheint mir eine Symbiose aus eben diesen Traditionen und aktuellen Architekturtrends zu sein. Wobei ich Wert darauf lege, dass sie auf jeden Fall als Ar­chitektur des 21. Jahrhunderts erkennbar ist. Außerdem sollte sie zur Stärkung der Marke Sankt Petersburg beitragen.
Ich denke, internationaler Mainstream ist eher für die „Leningrader“ Teile der Stadt angebracht. Im alten Zentrum sollte er allenfalls zwischen den Zeilen eine Rolle spielen, hier ist größere Sensibilität gefordert. Weshalb ich auch von den Internationalen hier eher die Kollegen arbeiten lassen würde, die sich den klassischen Werten der Architektur zuwenden wie Mario Botta, Rafael Moneo, Hans Kollhoff und so weiter. Es ist kein Zufall, dass zu den Er­folgreichsten bei uns Ricardo Bofill zählt, der beginnt bereits sein drittes Objekt.

Sergej W. Padalko
Jg. 1969, Studium 1990–96 an der Kunsthochschule „Ilja Repin“ in Sankt Petersburg, Leiter des von ihm 1996 mitbegründeten Büros „Vitruv und Söhne“.
 
„Vitruv und Söhne“ ist als eigenständige kreative Einheit bereits 1994 entstanden. Wir waren eine Studentengruppe, die sich an Wettbewerben der Architekturfakultät beteiligte und nach dem Diplom 1996 die gemeinsame Arbeit einfach fortsetzte. Zuerst haben wir In­neneinrichtungen für Wohnungen und Landhäuser entworfen, daneben alle Wettbewerbe beschickt, zu denen wir Zugang hatten. Einen starken Auftrieb erhielt unser Büro durch die Mitarbeit in der „Task Force“ des Prince of Wales. Ihr verdanken wir auch, dass wir nach Deutschland (Potsdam, 1996) und Libanon (Beirut, 1997) kamen. Als Folge des Potsdamer Projekts wurden wir 1997 zum Wettbewerb für die Rekonstruktion des Potsdamer Stadtzentrums eingeladen, an dem wir uns mit dem Berliner Büro LPB (Landschaft, Planen, Bauen) beteiligten. Diese gemeinsame Arbeit mit aus­ländischen Kollegen hat uns bei der Struktu­rierung unserer Bürarbeit geholfen, wahrschein­lich auch unsere stilistische Ausrichtung für die folgenden Arbeiten beeinflusst. Das Schöne an unserem Beruf: Er eröffnet einem die Möglichkeit zu arbeiten, wo immer man möchte. Sogar im Weltall planen, wenn es sein muss. Wir wollen uns nicht auf Sankt Petersburg beschränken, wir arbeiten dort, wo man bereit ist, für unsere Architektur Geld auszugeben. Ge­genwärtig planen wir am Schwarzen Meer, ein Projekt für den Olympiapark von Sotschi.
Eine Stadt mit gewachsenem historischem Charakter sollte schon das Denken der Architekten beeinflussen, die in dieser Stadt tätig sind. Mein Denken jedenfalls ist von Petersburg geprägt. Beim Entwerfen, zumindest im Stadtzentrum, setze ich mir immer innere Grenzen, Barrieren und Konditionen, die dann das Aussehen des Objektes mitbestimmen. Wahrscheinlich sind lokale Architektursprachen immer aus solchen inneren Grenzen zusammengesetzt. Leider entsteht als typische „Petersburger Architektur“ heute zum überwiegenden Teil eine gesichtslose, stellenweise ag­­gressive Masse, die keinerlei Bezug zum historischen Erbe sucht. Es sind nur wenige Gebäude der letzten zwei Jahrzehnte, die ich mir gern ansehe. Kaum eines der hier aktiven Bü­ros ist bereit, sich neben dem Verplanen von Quadratmetern als reines Geschäft auch noch mit
Architektur zu befassen. Schon ein flüchtiger Vergleich zwischen der „Produktion“ der sowjetischen Planungsinstitute und der Resultate der heute tätigen Architekturbüros würde zeigen, dass, gemessen an der architektoni­schen Qualität, unsere Zeitgenossen heute keinesfalls besser dastehen. Wobei zu bedenken ist, dass die Mehrzahl von ihnen genau aus die­sen sowjetischen Planungsinstituten hervorgegangen ist!
Über aktuelle Entwicklungstendenzen von Architektur und Städtebau wird auf jeder Sitzung des Rates für Städtebau debattiert. Nach allem, was man dort so erfährt, würde ich den internationalen Mainstream mit destilliertem Wasser vergleichen: Er ist geschmacklos und geruchlos und lässt sich gut mit anderen Komponenten verbinden. Ich persönlich würde immer einen Entwurf mit Charakter und Persönlichkeit vorziehen. Trotzdem sähe ich gern, wenn Peter Zumthor, David Chipperfield und Jean Nouvel ihre Projekte bei uns verwirklichen würden. Und Mario Botta, der bereits mehrere Anläufe in Sankt Petersburg unternom­men hat, weshalb ich ihm wünsche, dass seine Bemü­hungen endlich Erfolg haben mögen.
Fakten
Architekten Rheinberg & Scharow, Sankt Petersburg; Gerassimow und Partner, Sankt Petersburg; Semzow & Kondjain, Sankt Petersburg; Architekturwerkstatt Mamorschin, Sankt Petersburg; Vitruv und Söhne, Sankt Petersburg
aus Bauwelt 24.2010

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