Bauwelt

Gypsy Urbanism

Otto-Neurath-Retrospektive im MAK in Wien

Text: Krasny, Elke, Wien

Gypsy Urbanism

Otto-Neurath-Retrospektive im MAK in Wien

Text: Krasny, Elke, Wien

Eine kleine Ausstellung voller Originalmaterialien im Kunstblättersaal des Museums für angewandte Kunst in Wien (MAK) würdigt den Wiener Universalgelehrten und Aktivisten, Philosophen und Volksbildner, Museumsgestalter und Bilddidaktiker Otto Neurath (1882–1945). Drei Schwerpunkten seines Schaffens widmet sich die Schau mit dem Titel „Gypsy Urbanism“: der Wiener Siedlerbewegung, der Wiener Methode der Bildstatistik sowie der Rezeption von Neuraths Wirken in den USA und England.
Die Wiener Siedlerbewegung entsteht am Ende des Ersten Weltkriegs und prägt die frühen 20er Jahre: „Wilde“ Siedler eignen sich öffentliche Grundstücke an und bauen darauf Häuser und Gärten. Neurath, der zuvor im Münchner Rätekommunismus aktiv war, engagiert sich (wie auch die Architekten Margarethe Schütte-Lihotzky, Adolf Loos und Josef Frank) in der informellen Bewegung und gründet den „Hauptverband des Siedlungs- und Kleingartenwesens“. Den Selbstbau der Häuser organisiert man mit pädagogischem Kalkül: Alle bauen gemeinsam, erst dann werden die einzelnen Häuser per Losentscheid zugeteilt. Eine 1923 vom Verband organisierte Ausstellung im und vor dem Wiener Rathaus, auf der Prototypen erweiterbarer Kleingartenhäuser präsentiert werden, zieht 200.000 Interessierte an.
Nach 1925 verabschiedet sich die Stadt Wien, die mit der Siedlungsbewegung ein durchaus produktives Spannungsverhältnis gepflegt hat, von der Gartenstadt-Strategie und setzt auf den Wohnblock im Gemeindebau. Neurath widmet sein Engagement von nun an dem „Verein für Volksbildung“ und dem „Österreichischen Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum“. Dieses „Museum ohne Grenzen“ setzt auf Bildung und Information als Motor für soziale und kulturelle Veränderungen, für die Politisierung der Arbeiterklasse und als Grundlage von Mitbestimmung. Als Medium für diese Informationen entwickelt Neurath „Isotype“ (International System of ­Typographic Picture Education), ein Bildkommunikationssystem zur Darstellung wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und historischer Zusammenhänge in Form von Statistiken; Josef Frank plant ein mobiles und überall einsetzbares Ausstellungssystem.
1934 flieht Neurath vor dem austrofaschistischen Regime nach Holland (Heft 11.08). 1940 emigriert er nach England, ­wo er auch Propagandafilme für das englische Informationsministerium dreht, von denen einer im MAK zu sehen ist. Die Liste der Ausstellungsleihgeber ist lang: Sie reicht von der Wienbibliothek im Rathaus über das Imperial War Musuem in London bis zum International Institute of Social History in Amsterdam und verdeutlicht die Stationen eines transnationalen, von Emigration geprägten und stets am Austausch orientieren intellektuellen Lebenslaufes. Heute steht uns die Geschichte sozialer Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts als Quelle alternativer Vergangenheiten zur Verfügung, ihre unrealisierten Zukunftsentwürfe als Reservoir des Denkbaren.
Fakten
Architekten Otto Neurath (1882–1945)
aus Bauwelt 14.2010

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