Bauwelt

Materialität und Konstruktion

Bauten der Avantgarde in Moskau

Text: Katzke, Thomas, Berlin

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Materialität und Konstruktion

Bauten der Avantgarde in Moskau

Text: Katzke, Thomas, Berlin

Die nach der Oktoberrevolution in der Sowjetunion für eine neue Gesellschaft geschaffene Architektur konnte weltweite Beachtung und Avantgardestatus erlangen. Diese Entwicklung endete jedoch 1932 mit der staatlich verordneten Gleichschaltung der Künstlerverbände und der damit einhergehenden Doktrin des sozialistischen Realismus.
Heute dient die nachrevolutionäre Avantgardearchitektur als Sinnbild des Funktionalismus, keine Publikation zur Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts verzichtet auf einen entsprechenden Exkurs. Doch trotz ihres international anerkannten kulturhistorischen Werts gelten die Bauwerke des russischen Konstruktivismus in den postsowjetischen Ländern wegen ihrer Baufälligkeit und der angeblich minderwertigen Baumaterialien weder als erhaltungswürdig noch als erhaltungsfähig.
Dies zu ändern ist das Anliegen von Anke Zalivako, die seit Jahren über Material, Konstruktion und Erhaltungsprobleme der Bauten der Moderne forscht. Diese drei Themen im Untertitel nennen den Schwerpunkt der vorliegenden Publikation. Deren wesentlicher Inhalt ist ein akribisch erarbeiteter Katalog, der die Baumaterialien und die Konstruktionsweisen auflistet. Diesem umfangreichen Katalog, insgesamt 435 von 576 Seiten des Buches, stellt Anke Zalivako einen konzisen Einblick in die Entstehungsbedin­gungen der konstruktivistischen Bauwerke und die verwandten Technologien voran. Hierbei werden die Leistungen der sowjetischen Ingenieure und Forscher – u.a. auf dem Gebiet des Holzschalen- und des Betonbaus – dargestellt und die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit der russischen Avantgarde mit dem kapitalistischen Ausland beleuchtet. Im Fo­kus steht der rege Erfahrungsaustausch mit den Pro­tagonisten des Neuen Bauens. So besuchte Moisej Ginzburg, dessen Interesse dem kollektiven Wohnungsbau galt, 1927 die gerade fertiggestellten Siedlungsbauten in Dessau und die Werkbundausstellung auf dem Stuttgarter Weißenhof. Der Einfluss dieser Besuche auf das NARKOMFIN-Haus – dem 1928–30 in Moskau erbauten, weltweit ersten „Kommunehaus“ – ist nach Zalivakos Auffassung unübersehbar. Für ebenso augenfällig erachtet sie den Einfluss dieses Bauwerks auf Le Corbusiers Konzept der „ville radieuse“ und vermutet in dem NARKOMFIN-Haus den Prototyp der in Marseille, Rezé, Briey en Foret, Firmigny und Berlin realisierten „Unités d’Habitation“. Selbst das Modulor-Maß von 2,26 Metern nimmt das Moskauer Frühwerk vorweg.
Doch wie alle Bauten des russischen Konstruktivismus ist auch das im nahezu bauzeitlichen Zustand NARKOMFIN-Haus durch Abriss- oder Umbaupläne gefährdet. Investoren suchen ihren Profit lie­ber in der Nachverdichtung der Grundstücke der historischen Bauwerke als in ihrem denkmalgerechten Erhalt. Der vernachlässigte Bauunterhalt tut ein Übriges. Zalivako verweist darauf, dass nur eine vernehmbar internationale Wertschätzung und Auszeichnung das nationale Bewusstsein für den Erhalt der Bauwerke wecken kann, und zeigt deren Erhaltungschancen und Reparaturfähigkeit auf. Mit dem Bau­material- und Konstruktionskatalog tritt sie den überzeugenden Beweis an, dass die Avantgarde-Bauwerke mitnichten minderwertig sind, sondern vielmehr einen wertvollen innovativen Beitrag für das internationale Baugeschehen darstellen.
Die durch den Titel ausgelöste Erwartung einer wohlfeilen Publikation der Moskauer Bauten des Konstruktivismus im Stil eines Architekturführers mit Grund-, Aufriss und Schnitt – gar mit bunten Bildern für den eiligen Konsumenten – kann das Buch nicht einlösen. Summa summarum werden die Bauwerke auf lediglich acht Seiten unbebildert mit Stichworten zu Baujahr, Planer, Adresse und Denkmalschutzstatus aufgelistet. Jedoch wird demjenigen, der am internationalen Kontext des „Wie“ und „Warum“ der Entwicklung und Entstehung des Neuen Bauens Interesse hat, durch den Erkenntnisgewinn, den diese wahrhaft Fachbuch zu nennende Publikation bietet, das Herz aufgehen.
Fakten
Autor / Herausgeber Anke Zalivako
Verlag Michael Imhof Verlag, Petersberg 2012
Zum Verlag
aus Bauwelt 45.2013
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