Bauwelt

„Wie öffentlich ist der Berliner Hauptbahnhof, Hiroshi Hara?“

Kaye Geipel im Gespräch mit Hiroshi Hara

Text: Hara, Hiroshi, Tokio; Geipel, Kaye, Berlin

„Wie öffentlich ist der Berliner Hauptbahnhof, Hiroshi Hara?“

Kaye Geipel im Gespräch mit Hiroshi Hara

Text: Hara, Hiroshi, Tokio; Geipel, Kaye, Berlin

Der japanische Architekt Hiroshi Hara ist einer der wenigen Architekten seiner Generation, der schon früh den zu groß geratenen, seelenlosen Bauten der globalsierten Moderne die Grenzen gezeigt hat – nicht in dem er selbst kleiner baute, sondern indem er seine Bauten öffentlicher machte.
Im Bauwelt-Gespräch erläutert er seine Ideen.
Mit seinem enganliegenden schwarzen Pullover und der Pagenfrisur sieht der 1936 geborene Hiroshi Hara aus wie ein altersloser Schauspieler in einem Science-Fiction-Film. So ungewöhnlich wie sein Aussehen ist sein Werdegang als Architekt. Hara hat in den späten 60er Jahren seine Kritik an der Moderne in einer Reihe von „reflective houses“ geäußert, Wohnbauten, die sich von der chaotischen Stadt durch ausgetüftele Innenräume abgrenzen und Prinzipien der Postmoderne vorwegnehmen. Dann führte er zehn Jahre lang Forschungsreisen durch vier Kontinente auf der Suche nach den Prinzipien der regionalen Architektur. Danach entwarf er Großbauten wie das International Building für den Modekonzern Yamato in Tokyo, den Komaba Campus für die Universität von Tokyo und das Umeda Sky Building in Osaka, ein Hochhaus aus zwei Scheiben, dessen öffentlich begehbares Dach über eine Art Himmelsleiter zu erreichen ist.

 
Sie haben zuerst sehr kleine Wohnbauten entworfen und dann mit einem Schlag sehr große Bauten. Ihr Bahnhof von Kyoto ist ein 470 Meter langer und 60 Meter hoher Rie-senbau, im Inneren ausgehöhlt und mit einem riesigen öffentlichen Raum gefüllt. Herr Hara, wie groß darf ein Bahnhof für eine 1,5 Millionen Einwohner Stadt wie Kyoto eigentlich sein?

HH | Es gibt heute weltweit mehr als sechs Millionen Menschen. In den 20er Jahren, als die Moderne Architektur entstand, waren es eine Million. Die Planung öffentlicher Architektur hat es heute häufig mit einer großen Zahl von Menschen zu tun. Wenn wir ein Stadion planen wie etwa in Sapporo (Heft 11.02), dann leben viele der 40.000 Besucher nicht in der Umgebung. Sie kommen von weit her, zum Teil sogar aus anderen Ländern. Dass viele Menschen an einem Ort zusammenkommen, ist eine zentrale Erfahrung der modernen Gesellschaft. Es gibt entsprechend unterschiedliche Formen des öf-fentlichen Raums. Dessen Spezifik ändert sich mit der Zahl der Menschen, die ihn benutzen.
 
Sie sind heute mittag mit dem Zug in Berlin am Hauptbahnhof eingetroffen. Wie öffentlich wirkte dieser Raum auf Sie? Haben Sie sich auf Anhieb zurechtgefunden?

HH | Die durchgehende Vertikalität des Bahnhofs hat mich beeindruckt. Von oben unter dem Dach kann man bis hinunter auf den Boden dieses fließenden Raums sehen. Man hat das Gefühl, in diesem Bahnhof bewegen sich die Menschen ständig in alle Richtungen. Eine große zentrale Halle, einen Raum für Events, der die Leute von sich aus anzieht, den gibt es in Berlin allerdings nicht.
 
Denken sie dabei an die große Treppe, die Sie für Bahnhof von Kyoto konzipiert haben? Dieser Raum wirkt wie eine dreidimensionale monumentale Piazza. Er erinnert an die Spanische Treppe in Rom.

HH | Der Bahnhof von Kyoto beherbergt viele verschiedene Funktionen. Dort, wo wir die große Treppe geplant haben, liegt auch ein großes Warenhaus. Der öffentliche Raum der Treppe wirkt zwar monumental, aber er übernimmt gleichzeitig kleinteilige und ganz konkrete Funktionen. Von jedem Treppenabsatz kann man eine Ebene des Warenhauses betreten. Japaner steuern gern zuerst auf den höchsten Punkt zu. Das sind sie so gewohnt. Das hängt damit zusammen, dass sich Schreine und Tempel traditionsgemäß oben auf dem Hügel befinden. In Kyoto-Station funktioniert es so. Die Leute fahren mit dem Lift nach oben. Dann schlendern sie von einem Kaufhausgeschoss zum anderen und gehen immer wieder raus auf die Treppe.
 
Die öffentlichen Räume von Bahnhof und Kaufhaus – früher streng getrennten Funktionen – gleichen sich also an. Ist diese Entwicklung, Teil der Globalisierung der Architektur, unvermeidbar? Gehen wir einen Schritt weiter: Sie haben große Schulbauten und Universitäten wie 2002 den Koma­ba Campus (Heft 46.01) gebaut. Wo liegt der Unterschied
in der Planung solch großer Schulen und der von Shopping- Malls?
HH | In punkto öffentlicher Raum gibt es keinen Unterschied mehr. Eine Einschränkung gilt aber doch: Wenn Sie sich manche große überdachte Räume ansehen, von Louis Kahn zum Beispiel, dann finden Sie dort eine besondere Ausstrahlung, eine Art intellektueller Spiritualität. Bei wichtigen Gebäuden braucht man auch heute diese Ausstrahlung. Aber wenn ich in Japan eine Highschool wie die Motomachi School entwerfe, dann mache ich sie wie eine Shopping-Mall.
 
Was heißt das konkret? Worin besteht die Ähnlichkeit?

HH | Mit ihren Gallerien, den Brücken, den Aufzügen, den Oberlichtern und der Orientierung um ein Zentrum hat diese Schule ähnliche strukturelle Elemente wie eine Mall. Eine Folge davon ist: Wenn die Schüler aus den Klassenräumen kommen, dann treffen sie sich sofort. In Japan haben sich die Schüler häufig gern separiert. Jetzt treffen sie sich sofort, sie können gar nicht anders. Vor allem die Lehrer waren am Anfang sehr skeptisch. Auch sie können sich nicht zurückziehen. Weil die Schule eigentlich nur aus weithin offenen Fluren und Brücken besteht, bewegen sich alle wie auf einem Tablett. Solche Veränderungen zeigen aber auch, wie sich die japanische Gesellschaft verändert. Nachdem das Gebäude in Benutzung war, wollte plötzlich keiner mehr nach Hause gehen. Die Motomachi School ist in der Hiroshima-Präfektur die beste Schule geworden. Wohlgemerkt: von den Inhalten her, von der Leistung der Schüler.
 
Sie wurden in den 70er Jahren auch wegen Ihrer architekturanthropologischen Forschung bekannt. Für die Universität von Tokyo haben sie mehr als 40 Länder bereist und jeweils die dörflichen Siedlungsstrukturen und ihre Funktio-nen miteinander verglichen. Die Studenten, die sie damals begleitet haben, sind heute selbst weltbekannte Architekten. Als Sie in den 80er Jahren Großbauten realisieren, beziehen Sie sich häufig auf diese Forschung. Was haben Sie gelernt von der Organisation des „collective space“ dieser regionalen Siedlungsarchitektur?

HH | Die Studenten, die Sie ansprechen, also etwa Riken Yamamoto und Kengo Kuma, haben die Dörfer, die wir besucht haben, natürlich völlig anders interpretiert als ich. Für sie kann ich nicht sprechen. Mir ging es bei diesen Dorfuntersuchungen nicht um die einzelnen Häuser, sondern um deren Struktur. Die Frage war, wie die Struktur, die sich die Leute aufgebaut hatten, deren gemeinschaftliche Organisationsform widerspiegelt. Welche räumlichen Instrumente, welche Anleitung zum Verhalten im öffentlichen und privaten Bereich, sind in diese Dorfstrukturen eingebaut? Das hat mich interessiert. Das Verhältnis zwischen private und public space zeigt sich ganz explizit an den Schwellen und Übergängen.
 
Lassen sich solche Erfahrung für heutige Entwürfe nutzen?
HH | Es ist nicht direkt übertragbar. Aber nehmen Sie einen mir wichtigen Begriff, den „Attractor“. Damit bezeichne ich herausgehobene Anziehungsorte oder -punkte in der Architektur. Wir konnten in völlig verschiedenen Kontexten beobachten, wo und wie Leute zusammenkommen. Was bringt sie in Verbindung? Fast immer sind es ganz einfache Dinge: Brunnen, Bäume und so weiter. Das ist auch übertragbar in eine moderne Form. Beim Bahnhof in Kyoto gibt es die schrägen Ebenen, in die habe ich vereinzelte Anziehungspunkte gesetzt. Nach meiner Beobachtung sind es diese Elemente, die die Leute magisch anziehen. Sie machen den Raum lebendig. Warum? Weil sie in seiner unmittelbaren Umgebung ein Handlungsfeld entstehen lassen.
 
Würden Sie auch heute einem jungen Architekten raten, entlegene Dörfer zu besuchen? Müsste er nicht eher durch die Shopping-Malls dieser Welt reisen?

HH | Diese Dörfer sind ortsbezogen, klimabezogen, geografiebezogen, jeweils völlig verschieden organisiert. Shopping- Malls hingegen sind auf der ganzen Welt gleich. Durch die Globalisierung in den letzten 20 Jahren hat sich diese Uniformität noch zugespitzt. Die Malls sind alle klimatisiert, egal wie das Klima ist. Sie sind der perfekte Beweise für die Art, wie wir heute bauen: unabhängig von der Umwelt. Wenn wir also über Nachhaltigkeit nachdenken, kann dieser Blick zurück durchaus von Nutzen sein. Mit neuen Windtürmen etwa können wir heute einen sehr viel höheren Wirkungsgrad umsetzen, als er früher in arabischen Dörfern realisiert wurde. Ich arbeite in meinem Büro zur Zeit an einem Würfel von 500 x 500 x 500 Metern für 100.000 Einwohner. Wir wollen simulieren, wie so ein Bau mit möglichst geringer Energie zu bewältigen wäre. Es ist wie eine Versuchsanordnung, keine Lösung.
 
Die Idee der vertikale Stadt spielt eine große Rolle in Ihrer Architektur. Als Sie 1991 an einem Wettbewerb für die Blöcke 205 bis 207 in der Berliner Friedrichstraße teilgenommen haben, haben Sie einen tiefen Schnitt mitten durch die drei Blocks gelegt und die Seiten dieses Schnitts über Brücken miteinander verbunden. Das wurde abgelehnt. Halten Sie es auch heute für sinnvoll, solche Formen von Vertikalität in der traditionellen Stadt umzusetzen?

HH | Wenn Sie sich die traditionelle Stadt betrachten, mit ihren Straßen und Platzwänden, dann hat sie für mich Ähnlichkeit mit der Form eines Tals. In solch einem Tal sehe ich nicht von einem Ende zum anderen. Ich sehe nur Abschnitte. In dem Moment, wo ich Brücken einbaue, habe ich plötzlich einen Überblick. Und so ist die Brücke der Anfang dafür, dass dieses Tal zu einem Platz wird.
Ich gebe Ihnen ein anderes Beispiel. Als ich den Sapporo Dome gebaut habe, wollte ich nicht, dass die Plätze ohne Bezug übereinander geschichtet sind. Ich wollte, dass so etwas wie eine Arena oder ein Hang entsteht. Architektur hat mit Schönheit zu tun. Für meine Begriffe ist die Architektur eine besondere Vorrichtung, um andere Leute zu sehen. Wie spielt sich das Leben ab in dem was ich da entwerfe? Wie können sich die Leute sehen? Aus der Perspektive des Einzelnen betrachtet: Wo werde ich am schönsten gesehen? Von welchem Punkt aus? Wie sieht eine einzelne Person schön aus in ihrer  Umgebung? Wie sehen drei Personen schön aus, wie zehntausend? Oder gar vierzigtausend? Das ist eine wichtige Aufgabe des öffentlichen Raums, die die Architektur lange Zeit vergessen hatte. In Japan gibt es dafür seit jeher das Vorbild der großen Feste, wo plötzlich tausende von Menschen auf den Straßen zusammenkommen.
 

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