Bauwelt

Architektur der freien Liebe

Die Kommune von Oneida

Text: Stumberger, Rudolf, München

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Foto: Oneida Community Mansion House

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Architektur der freien Liebe

Die Kommune von Oneida

Text: Stumberger, Rudolf, München

Oneida – das ist eine kleine Stadt mit rund 10.000 Einwohnern im Norden der USA, 300 Kilometer westlich der Niagarafälle. Oneida ist aber auch der Name des bekanntesten Herstellers von Essbesteck in Nordamerika. Und das wiederum hat mit jenem sozialen Experiment zu tun, das 1848 in Oneida mit der Gründung einer Kommune begann, die neben der freien Liebe auch einen „Bibelkommunismus“ praktizierte.
Im Jahr 1848 begann der Prediger John Humphrey Noyes mit 50 Gefolgsleuten, in Oneida seine utopische Gemeinschaft aufzubauen. Damals galt der Bundesstaat New York als Expe­rimentierfeld alternativer Lebensformen. Tausende von Amerikanern schlossen sich religiös-utopischen Gemeinschaften an, die die traditionellen Geschlechterrollen und die Ehe zurückwiesen und stattdessen Polygamie und neue Partnerschaften ausprobierten. Noyes predigte den „Perfektionismus“ – eine Lehre, die das christliche Paradies auf Erden für erreichbar hielt. Grundlage war die Zurückstellung egoistischer Begierden zugunsten der Gemeinschaft. An sich selbst zu arbeiten und sich zu „perfektionieren“ – das war der praktizierte Glaube.
Das Leben in der Kommune war geprägt von Kultur – im großen Theatersaal im ersten Stock fanden Tanz- und Musikvorstellungen statt, aber auch die gemeinsamen Versammlungs- und Diskutierabende. Daneben findet sich ein eleganter Salon mit Polstermöbeln. Die Mitglieder nahmen in einem gemeinsamen Speisesaal ihre Mahlzeiten ein, eine weitläufige Bibliothek zeigt die Hochschätzung von Wissenschaft und Literatur. Das vierflügelige Ziegelgebäude wurde von 1860 an erbaut und ersetzte die ersten Holzhäuser. Das Mansion House ist heute in der Hand einer gemeinnützigen Stiftung und beherbergt sowohl private Wohnungen als auch ein Museum, ein Restaurant und Bed-&-Breakfast-Räume zum Übernachten.
Am ungewöhnlichsten war wohl die Ausgestaltung der Geschlechterbeziehungen. Unter dem Begriff „komplexe Ehe“ praktizierte man die Auflösung der Ehe, jeder sollte mit jeder sexuell verkehren können, das Einverständnis der jeweiligen Partner vorausgesetzt. Das Verfahren war zunächst simpel: Ein Mann erklärte einer Frau seine Gunst und sie akzeptierte oder auch nicht. Für den „social intercourse“, wie man den Liebesakt in der Kommune nannte, zogen sich die Paare in eines ihrer Zimmer zurück; man solle dabei nicht soviel re­den, lautete die Anweisung, sondern sich gegenseitig erfreuen. Geächtet waren exklusive Liebesbeziehungen, sie würden der Selbstsucht Vorschub leisten und die Paare von der Gemeinschaft entfernen. So gab es im Mansion House nur Einzelzimmer, die auch öfters gewechselt wurden, um Gewöhnung zu vermeiden.
Für die Männer hatte diese Promiskuität freilich einen kleinen Haken. Um ungewünschte Schwangerschaften zu vermeiden, propagierte Prediger Noyes neben der „komplexen Ehe“ auch die „male continence“, was nichts anderes hieß, als dass die Männer den Samenerguss vermeiden sollten. Der ganze Prozess des Geschlechtsverkehrs stehe so unter der Kontrolle des Mannes. „Es ist leicht“, meinte Noyes, und anscheinend hat es auch 30 Jahr lang funktioniert, die Frauen blieben jedenfalls zu einem großen Teil frei von ungewollten Schwangerschaften. Aber man entschied sich auch – in einer Art „Elitezüchtung“, nicht ungewöhnlich für das 19. Jahrhundert – bewusst zum Kinderkriegen. Schließlich lebten rund 30 Kinder in der Kommune. Sie wurden gemeinsam erzogen, enge Mutter-Kind-Bindungen sollten vermieden werden.
Zu Beginn des Experiments hatte jedes Mitglied sein Vermögen in die Kommune eingebracht, doch die Einlagen waren bald aufgebraucht. Neue Geldquellen mussten erschlossen werden, und man begann zunächst mit der Fertigung von Möbeln und Besen. Zum Glück hatte sich der Gemeinschaft auch Sewell Newhouse, ein Schmied, angeschlossen. Newhouse war der Erfinder einer Tierfalle, die bald von zahlreichen Fallenstellern in den Wäldern Amerikas bevorzugt wurde. Die Tierfallenherstellung erwies sich als reine Goldgrube – schließlich wurden in einer neu gebauten Fabrik mehr als 200.000 Stück pro Jahr produziert. Die Fabrik war das wirtschaftliche Rückgrat der Kommune. Aber die Anhänger der „Free Love“ machten sich auch selbst zum Gegenstand einer „Marke“: Das Mansion House wurde eine der ersten touristischen Attrak­tionen im Lande. Mit der gerade gebauten Eisenbahn kamen neugierige Städter nach Oneida und wunderten sich, dass die Mitglieder der „Sex-Kommune“ in bürgerlicher Kleidung umherliefen.
Bis 1880 hatten die „Bibelkommunisten“ von Oneida ein kleines, aber florierendes Wirtschaftsimperium aufgebaut. Trotzdem löste sich die Kommune in diesem Jahr auf. John Humphrey Noyes hatte sich zurückgezogen, die religiösen Werte verloren nach und nach an Bedeutung. In dieser Krise vollzog die Kommune mit ihren 226 Mitgliedern einen radikalen Schnitt: In ei­ner Abstimmung wur­de beschlossen, das utopische Experiment aufzugeben und zu Monogamie und Ehe zurückzukehren. Der Clou aber war: Man wandelte die Oneida-Kommune in die Firma „Oneida Community“ um. Aus der utopischen Gemeinschaft wurde eine Aktiengesellschaft. Um zu vermeiden, dass das Vermögen der Community in Gerichtsverfahren beschlagnahmt wurde, teilte man den Buchwert von damals 600.000 Dollar in Aktien auf und gab sie an die Mitglieder weiter. Die inzwischen erwachsenen Kinder der Kommune übernahmen nach und nach die Geschäftsleitung und entschieden, sich auf die Produktion von „Flatware“ (Essbestecke) zu konzentrieren. Die Firma „Oneida Metalware“, US-Marktführer in Sachen Flatware, hat heute einen Umsatz von 200 Millionen Dollar jährlich.

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