Bauwelt

Wohn- und Gewerberegal



Text: Barth, Arne, Berlin


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    Foto: Armin Buhl

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Der Abbruch der seit Jahren ungenutzten Fertigungshalle im Westen von Ulm wäre unwirtschaftlich gewesen.So konnten die Architekturbüros Rapp und Braunger Wörtz den 250 Meter langen Riegel zu einem hybriden Gebilde mit extrem viel Platz und einer Mischnutzung für luxuriöse Ansprüche umbauen.
Die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt Ulm war ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eng mit zwei Konzernen verbunden, die Nutzfahrzeuge herstellten: die Feuerwehr-Requisiten-Fabrik C.D. Magirus und die Wagenfabrik Kässbohrer. Während das Familienunternehmen Kässbohrer (bis zu dessen Auflösung Mitte der 90er Jahre) in erster Linie Omnibusse und LKW-Anhänger herstellte, wurden bei Magirus hauptsächlich Feuerwehrfahrzeuge und Lastwagen gefertigt. Ab den 60er Jahren befand sich ein Produktions-Standort auf einem etwa 50.000 Quadratmeter großen Gelände in der Ulmer Weststadt. Neben einigen untergeordneten Bauten wurde eine rund 250 Meter lange Fertigungshalle in Stahlbeton-Skelettbauweise errichtet, die etwa die Hälfte der Grundstücks einnimmt. Der viergeschossige Gebäuderiegel mit einem Achsmaß von fünf Metern erstreckt sich in Ost-West-Richtung entlang des Flüsschens Blau und machte dessen Ufer vom restlichen Gewerbegebiet und dem südlich gelegenen Zentrum des Stadtteils Söflingen aus unzugänglich. Als das Unternehmen Mitte der 80er Jahre mit der Firma Iveco zur Iveco-Magirus AG verschmolz und seine komplette Nutzfahrzeugproduktion in Ulm im Werk „Donautal“ zusammenlegte, lag das Areal mehrere Jahre brach. Ab Mitte der 90er Jahre wurde die riesige Halle als Lager eines Handelsunternehmens genutzt, ehe das Gelände ab 2002 durch die Insolvenz der Firma abermals zur Industriebrache wurde.
Ausgangspunkt Insolvenzverfahren
Schon mit den ersten Überlegungen für die Nachnutzung des Geländes stellte sich ein Abbruch des riesigen Werksgebäudes als „unwirtschaftlich“ heraus – für die Gläubigerin des Insolvenzverfahrens wären die Kosten dafür in etwa so hoch gewesen wie die erwarteten Erlöse durch den Verkauf des Grundstückes. Im Herbst 2004 entwickelte die stadteigene Projektentwicklungsgesellschaft (PEG) zusammen mit den in Ulm ansässigen Architekturbüros Braunger Wörtz Architekten und Rapp Architekten erste Konzepte für die Umnutzung. Da die Bausubstanz noch gut war, sahen sie vor, das Gebäude bis auf die Tragstruktur zu entkernen und anschließend – wie ein Regal – nach und nach mit neuen Nutzungen für Wohnen, Dienstleistung, Gewerbe und Kultur aufzufüllen. Die Idee des nutzungsoffenen „Stadtregals“ war geboren.
Die Aufteilung des Projekts in fünf Bauabschnitte sollte den Umbau für die Planer überschaubar halten und der Entwicklungsgesellschaft den etappenweise Verkauf der Flächen ermöglichen. Um dem Konzept des Nutzungsmixes eine rechtliche Grundlage zu geben, wurde das Gelände im Bebauungsplan als Mischgebiet innerhalb eines Gewerbegebiets umgewidmet. Zudem wurde das Areal von der Stadt als Sanierungsgebiet ausgewiesen und in das Bund-Länder-Städtebauförderungsprogramm „Stadtumbau West“ aufgenommen. Dadurch wurden nicht nur Gelder von rund 2,5 Millionen Euro frei (mit denen die Erschließung finanziert wurden), für Käufer ergaben sich durch Abschreibungsmöglichkeiten auch erhebliche Investitionsanreize: Bei der Sanierung bestehender Gebäude können etwa Dreiviertel der Kaufsumme über Jahre hinweg steuerlich geltend gemacht werden.
Ein Baugrundstück auf der Etage
Dennoch gehörte für die Interessenten eine Portion Mut und reichlich Vorstellungskraft dazu, sich für den Kauf einer Teilfläche innerhalb des entkernten  Fabrikgebäudes zu entscheiden. Als mit der Vermarktung des ersten Bauabschnitts begonnen wurde, gab es kein Referenzprojekt, sondern lediglich Visualisierungen und Erläuterungen, wie das fertige „Stadt­regal“ einmal aussehen sollte. Und es gab keinen Plan B, wie man mit dem Projekt verfahren würde, wenn es nach Fertigstellung des ersten Bauabschnitts nicht genügend Interessenten für die weiteren Bauabschnitte geben würde. Trotz des scheinbar hohen Risikos fanden sich genügend Käufer, so dass im Sommer 2006 mit dem Umbau begonnen werden konnte: Freiflächen wurden entsiegelt, die bestehenden Fassaden der Werksgebäudes zurückgebaut und angegliederte Nebengebäude abgetragen.
Der erste Bauabschnitt befindet sich im Westen des Gebäuderiegels. Er umfasst insgesamt fünf Achsen, also etwa 25 Meter). Danach erfolgt eine Zäsur von zwei Achsen Breite, in die die Erschließung über das Treppenhaus und ein Fahrstuhl gelegt wurde. Gleichzeitig dienen die Einschnitte in das Gebäude auch als Brandabschnitte und zur Belichtung der weiter innen liegenden Flächen. Die maßgeblichen Rahmenbedingungen bei der Belegung der „Fachböden“ des Stadtregals wa­ren somit die Lage der Erschließungbereiche, die Höhe der Stockwerke, das Traggerüst, die Fassadenebene sowie die Installationsschächte, an denen die neue Haustechnik angedockt werden musste. Ansonsten waren die Größe und Art der Nutzung der einzelnen Einheiten innerhalb des Gesamtkomplexes frei wählbar. Die Planung erfolgte individuell in Absprache mit den Käufern und für jede Einheit einzeln. Die Teil-
eigentümer hatten gewissermaßen ein freies „Baugrundstück auf der Etage“ erworben.
Während die unteren beiden Geschosse hauptsächlich mit gewerblichen und kulturellen Nutzungen belegt wurden, befinden sich in den oberen Stockwerken überwiegend Wohnungen. Die Grundflächen der Wohnungen variieren zwischen 60 und 300 Quadratmetern. Die Durchschnittsgröße liegt etwa bei etwa 130 bis 150 Quadratmetern. Raumhöhen über vier Meter ermöglichen es, innerhalb der großzügigen Lofts zusätzlich Galerieebenen einzuziehen. Alle Einheiten haben innenliegende Sanitärbereiche und meist offene Küchen, zudem verfügen sie über Loggien, deren Größe je nach Grundrissaufteilung variiert. Die von den Architekten gewählte dunkelgraue Holz-Aluminium-Fassade springt durch die unterschiedlich großen Freibereiche vor und zurück, wird aber durch das außen liegende Traggerüst optisch „zusammengehalten“. Bei der Detaillierung der Fassade gingen die Architekten recht pragmatisch vor. Ihr Augenmerk galt hauptsächlich der Frage, wie sich etwaige Wärmebrücken mini­mieren ließen. Selbst wenn das Projekt unter diesem Aspekt sicherlich Schwachpunkte hat, kommt die „eingestellte“, also von der eigentlichen Tragstruktur unabhängige Fassade der Flexibilität und damit auch dem nachhaltigen Ansatz des Gebäudes zugute.
Inzwischen sind die ersten vier Bauabschnitte verkauft, fertiggestellt und bereits bezogen. Der Baubeginn des fünften Bauabschnitts ist erfolgt; die Fertigstellung ist für Ende 2012 vorgesehen. Der Verkaufspreis der Lofts liegt zwischen 2050 und 2500 Euro pro Quadratmeter. Auffallend ist, wie konsequent die Nutzungsmischung aus wohnverträglichem Arbeiten, Dienstleistungen, kulturellen Nutzungen und Wohnen innerhalb des „Regalsystems“ tatsächlich umgesetzt wurde. Auch wenn sich die Einheiten für gewerbliche Zwecke und Sondernutzungen überwiegend in den unteren und die Wohnen in den oberen beiden Etagen befinden, gibt es neben den Eingängen zu Büros, Praxen und Ateliers immer mal wieder Türen, vor denen Joggingschuhe stehen oder ein Pflanzkübel mit individuell gestaltetem Blumenarrangement. Da es mittels eines instand gesetzten Lastenaufzug für einige Mieter zudem möglich ist, direkt neben der Wohnung oder dem Büro auf dem Stockwerk zu parken, stößt man auf dem Flur hin und wieder auch auf einen schnittigen Sportwagen – über Traglasten der Decken musste man sich hier wirklich keine Gedanken machen.
Seitens der Architekten gab es durchaus noch weitere Ideen, wie sich die Flächen hätten bespielen lassen, eine Art „Reihenhaus“ beispielsweise, das vom Erdgeschoss aus erschlossen wird und sich über mehrere Etagen erstreckt. Solche Konzepte ließen sich letztlich jedoch nicht umsetzen. Gerne hätten die Architekten auch den ursprünglich sehr rauen Industriecharakter des Gebäudes stärker bewahrt. Am ehesten ist dieser noch in den Treppenhäusern zu finden, in denen die alte Fliesen, Böden und Geländer erhalten wurden. An vielen Stellen verweisen zudem freigelegte Beschriftungen, Markierungen und Warnhinweise auf die ehemalige Funktion des Gebäudes.



Fakten
Architekten Rapp Architekten, Ulm; Braunger Wörtz Architekten, Ulm
Adresse Magirus-Deutz-Straße D-89077 Ulm


aus Bauwelt 19.2011
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