Bauwelt

Tankstelle von Mies van der Rohe


Interview mit Érich Gauthier


Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin


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    Foto: Steve Montpetit

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Érich Gauthier hat mit seinem Büro FABG eine Tankstelle von Mies van der Rohe in der Nähe von Montreal zu einem Seniorentreff und Jugendclub umgeplant. Dabei ging es ihm darum, die Architektur interpretierend an die neue Nutzung anzupassen.
Die Île des Sœurs (englischer Name Nuns’ Island) liegt als Teil des Hochelaga-Archipels unmittelbar südwestlich der kanadischen Metropole Montreal. Nachdem die Champlain Bridge 1962 eröffnet worden war, wurde das Areal auf Grund­lage eines ambitionierten Masterplans entwickelt, und zwar vom Chicagoer Unternehmen Metropolitan Structures, welches in seiner Heimat bereits einige Projekte mit Mies van der Rohe als Architekt realisiert hatte. Für die neue Gemeinde steuerte Mies ab 1966 drei Wohnhochhäuser bei – und eine Tankstelle, mit deren Planung ihn Standard Oil beauftragt hatte. Bis 2008 war diese in Betrieb, im Jahr da-rauf wurde das leer stehende Gebäude als Baudenkmal gelistet. In welchem Zustand sich das Gebäude in der Rue Berlioz befand und wie sich die Gegenwart zu Mies’Architektur verhält, beantwortete uns der Architekt mittels Elektropost.
Herr Gauthier, in welchem Zustand haben sie die Tankstelle von Mies van der Rohe vorgefunden?
Éric Gauthier | Die Service-Station war geschlossen und mit Sperrholz vernagelt, die Einbaumöbel waren teilweise entfernt, im einstigen Verkaufspavillon war eine Autowaschanlage untergebracht. Die meisten Ausbaudetails waren nicht mehr authentisch, auch die originale Curtain-Wall war verändert worden und beschädigt. Die Tragstruktur hingegen war in exzellentem Zustand erhalten.
Konnten Sie diese vollständig erhalten?
Weder an den Säulen und Trägern noch an der Dachplatte gab es Anzeichen von Korrosion. Die gesamte Stahlkon­struktion hat lediglich einen neuen Anstrich im ursprüng­lichen Farbton erhalten. Dafür wurden Proben des existierenden Anstrichs einer Spektralanalyse unterzogen, um exakt jenen  Schwarzton zu treffen, den Mies seinerzeit gewählt hatte.
Sie bezeichnen dieses Projekt als eine Interpretation der Architektur Mies van der Rohes. Bezieht sich diese Aussage vorrangig auf die neuen Zutaten oder auch auf den Umgang mit dem Bestand?
Das Äußere ist wirklich sorgfältig restauriert worden, aber das Innere war eine gewöhnliche Autowerkstatt und -waschanlage, deren Ausstattung für die neue Nutzung nicht zu gebrauchen war. Wir haben uns entschlossen, die Präsenz der Dachplatte zu betonen, um die pavillonartige Qualität des Gebäudes zu verstärken. Dafür haben wir die Deckenverkleidung entfernt, die Linien der fluoreszierenden Halterungen ins Innere verlängert und Laminat- und Hartfaserplattenmöbel entfernt, um den Raum zu öffnen. Unser Umbau beruht auf unserem Verständnis von Mies’ Ideen – Transparenz, Leere und Stille –, das vielleicht beeinflusst wurde von Fritz Neumeyers Essays.
Sowohl die Akustik des Gebäudes als auch seine Transparenz könnten in Konflikt geraten mit der neuen Nutzung als Se­nioren- und Jugendtreff. Mussten Sie Mies’ Architektur der harten Oberflächen für den heutigen Zweck „abdämpfen“?
In der Tat! Auf den beiden Seiten mit großer Sonneneinstrahlung mussten wir einen motorisierten Sonnenschutz instal­lieren. Dieser ist für nur zwei Positionen programmiert: komplett offen oder vollständig geschlossen. Der Bauherr ist sich seiner Verantwortung für die Architektur bewusst und benutzt die Blenden nur wenn nötig. Um die Nachhallzeit im Inneren zu verringern, haben wir weiße Akustikpaneele unter der Decke anbringen lassen.
Ursprünglich hatten die beiden Räume an den Schmalseiten „dienende“ Funktionen, während die Zapfsäuleninsel in der Mitte das eigentliche Herz des Gebäudes war. Jetzt sind die beiden Hauptnutzungen in den Innenräumen untergebracht. Hat diese Schwerpunktverlagerung Ihren Umgang mit der Architektur beeinflusst? Oder, anders gefragt: Welche räumliche Bedeutung hat die Mittelinsel jetzt?
Der kleine Pavillon auf der Mittelinsel ist jetzt Gegenstand eines Wettbewerbs für eine künstlerische Installation, der im Rahmen eines städtischen Programms für Kunst im öffent­lichen Raum durchgeführt wird. Die Dualität der Nutzer – Jung und Alt – hat uns dazu geführt, nur Schwarz und Weiß zu verwenden, um die beiden heutigen Haupträume zu dif­ferenzieren. Die künstlerische Intervention muss diese Dua­lität berücksichtigen.
Die Architektur Mies van der Rohes wird häufig mit dem Erhabenen assoziiert. Mies hatte aber auch ein Interesse an der modernen Alltagswelt, an der Massenmotorisierung und der städtischen Konsumkultur. Schon in den vierziger Jahren hatte er zum Beispiel ein Projekt für ein Drive-in-Lokal entwickelt. Hat dieser Aspekt seines Œuvre eine Rolle gespielt bei der Umnutzung der Tankstelle?
Mies van der Rohes  Interesse an Ein-Raum-Häusern, die eine „klare Konstruktion“ erlaubten, ging einher mit einer passiven Akzeptanz der Bedingungen des modernen Lebens, die er als schlichte Tatsachen ohne eigenen Wert betrachtete. Einen neutralen Rahmen für dieses alltägliche Leben zu schaffen, war ein radikales Ziel, das er architektonisch in aller Klarheit zum Ausdruck gebracht hat, indem er den Raum immer weiter entleerte – und so das Erhabene ermöglichte. Wir haben versucht, uns daran zu halten.
Die Tankstelle ist nicht das einzige Gebäude von Mies auf der Île des Sœurs. Wie hat sich dieses Entwicklungsgebiet der sechziger Jahre insgesamt im Lauf der Zeit verändert?
Die Île des Sœurs ist ein Wohngebiet der besser Gestellten, das über Jahrzehnte ohne Unterbrechung gewachsen ist und so eine Art architektonischen Katalog der letzten fünf Jahrzehnte darstellt. Die gestalterisch oft vulgären, mit dem Anschein des Ökologischen kokettierenden Gebäude unserer Tage folgten auf die postmodernen Übertreibungen, denen die brutalistischen Grausamkeiten vorangingen. Mies van der Rohes Gebäude stechen aus dieser bizarren, vom Schlaf der Vernunft ermöglichten Umgebung heraus als würdevolle, den Gemeinsinn ansprechende Konstruktionen.
Welche Rolle spielt in diesem Kontext die Umnutzung der Tankstelle für das Quartier, architektonisch wie sozial?
Die Transformation ist Teil eines Prozesses, der alle Bürger, Politiker und Angestellte der Stadtverwaltung den historischen Wert des Gebäudes hat gewahr werden lassen, bevor ihnen die Fertigstellung des Projekts die Schönheit von Mies van der Rohes Architektur vor Augen geführt hat. Diese Erkenntnis war für viele eine Überraschung, und in der Folge hat allgemeiner Stolz auf das Gebäude die Zweifel daran verdrängt. Die Wahrnehmung moderner Architektur ist noch immer von Vorurteilen geprägt, und der arme Adolf Loos würde sich wundern, wie viele Menschen heute tätowiert herumlaufen. Wir hoffen, dass dieses Projekt eine neue Chance bietet, das Erbe der Moderne endlich anzunehmen. 
Übersetzung aus dem Englischen: ub



Fakten
Architekten Mies van der Rohe, Ludwig (1886-1969); Les Architectes FABG, Montreal
Adresse Boulevard de l'Île des Soeurs Verdun, QC H3E, Kanada


aus Bauwelt 19.2012
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