Bauwelt

Jones Long Wootton in Brüssel



Text: Redecke, Sebastian, Berlin


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    Foto: Erik-Jan Ouwerkerk

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    Foto: David Damjanović

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Die belgische Hauptstadt hat sich in den letzten fünfzig Jahren sehr verändert. Sie gelangte in die Hände von Bauträgern, Spekulanten und dubiosen Planungsbüros, die mit ihren Großprojekten – zu denen auch die architektonisch belanglosen Bauten für die Europäische Union gehören – viele der charakteristischen kleinen Häuser verdrängt haben
Die Erinnerungen an die Stadt meiner Kindheit sind untrennbar verbunden mit Baugruben, schwerem Baugerät, vor allem Kräne, und komplizierten Gerüstkonstruktionen – dazu die großen Werbetafeln von Jones Long Wootton, dem wichtigsten amerikanischen Bauträger, der Ende der fünfziger Jahre in Brüssels berüchtigter Immobilienszene ins Geschäft kam. Auch in der näheren Umgebung meines Zuhauses und meiner Schule, die 1958 gegründete erste Europaschule, veränderte sich die Stadt durch Neubauten zusehends. Ich war als Junge aber nicht nur fasziniert von den großen Baustellen und den mutigen Bauarbeitern auf den Gerüsten, sondern auch – dies muss ich gestehen – von den Raupen mit den Abrissbirnen. Denn um die vielen Bürotürme und schnittigen „amerikanischen“ Apartmenthäuser – so nannte man sie damals – hochziehen zu können, verschwanden reihenweise die typischen schmalen Stadthäuser mit Erkern und liebevollem Fassadendekor aus der Zeit der Jahrhundertwende. Von den US-Investoren gelangte zu der Zeit viel Geld in die „Europäische Hauptstadt“, und betrachtet man das Ausmaß der zugelassenen Abrisse ganzer Straßenblocks, floss wohl auch einiges durch undurchschaubare Kanäle in die Hände der politischen Kreise. Das Interesse an den Abrissbirnen änderte sich spätestens an dem Tag, an dem mein Vater mir erzählte, dass mitten in der Stadt die Versammlungshalle der belgischen Arbeiterpartei, die er 1958 während der Brüsseler Weltausstellung noch besichtigt hatte, abgerissen wurde, um für ein Hochhaus Platz zu schaffen. Das Maison du Peuple von Victor Horta war eines der bedeutendsten Werke des Art Nouveau. Er zeigte mir Bilder von der reich gegliederten und schwungvoll geformten Eisen­kon­struktion. Es war die Zeit, in der man als 14-jähriger schon manchmal die abendlichen Gespräche mit den Gästen im Wohnzimmer mitverfolgte, und so bekam ich auch mit, wie ein Nachbar, der das Kulturprogramm des französischspra­chigen Radios leitete, über diesen Abriss erbost war und die Politik dafür verantwortlich machte. In den siebziger Jahren regte sich mehr und mehr Widerstand gegen weitere Großprojekte von meist amerikanischen Investoren in der Stadt, und auch das fand ich nun spannend. Eines Tages beobachtete ich, dass nur eine Straßenecke von unserem Haus entfernt, an einem Château mit zwei Ecktürmen Sonderbares geschah. An dem Gebäude am Ende der Avenue Louise, das lange leer gestanden hatte und von Bauzäunen umgeben war, wurden die Granitquader mit weißer Farbe nummeriert. Kurz darauf folgte, Baustein für Baustein, die „Demontage“. In der Nachbarschaft hieß es, dass die Steine
in die USA verschifft wurden und das Haus dort wieder entstanden sei! Eine Recherche hätte sicherlich ihren Reiz. Das Château verschwand, um dem „ITT-Turm“ Platz zu machen. ITT mit Sitz in New York war damals der größte Mischkonzern der Welt und siedelte seine Europazentrale in Brüssel an. Paul Van den Boeynants, der in wechselnden Funktionen zu dieser Zeit wichtigste und einflussreichste Politiker des Landes, hatte den Bau des Turms 1972 persönlich durchgesetzt – eine windige Person, die 1986 wegen Betrugs und Steuerhinterziehung verurteilt wurde. Das düstere Hochhaus, das die ehemalige Zisterzienserabtei de la Cambre überragt, rief schon bei der Planung größere Proteste im Viertel hervor. Viele Häuser des Stadtquartiers trugen wochenlang Trauerbeflaggung. Auch ich malte die belgische Flagge mit schwarzer Trauerschleife auf einen großen Kartonbogen, hängte sie dann aber nicht ans Balkongeländer. Mit 17 verließ ich die Stadt und schloss meine Schulzeit in Göttingen ab.   Neue Erfahrungen   Ich fahre gerne nach Brüssel. Im letzten Jahr gab es erneut eine Gelegenheit, sich an diese mein späteres Interesse an Architektur so prägende Zeit zu erinnern. Ich war Mitglied der Auswahlkommission für das Planungsteam des Neubaus vom Jüdischen Museum in Belgien. Das Museum befindet sich seit 2005 in ei­ner Seitenstraße des alten Grand Sablon von Brüssel, nur wenige Schritte vom früheren Maison du Peuple entfernt. Zur Dauerausstellung des Museums gehören neben einer bedeutenden Plakat- und Fotosammlung die alte Schule Beth Israel und ein vergoldetes Relief des Bildhauers Ossip Zadkine von 1932, dass sich früher einmal über der Leinwand des Brüsseler Kinos Me­tropole befunden hatte. Das Kino wurde 1992 geschlossen. Bei der Durchsicht der Unterlagen, die mich vor der Sitzung der Kommission erreichten, stellte ich mit großem Erstaunen fest, dass der Bauherr noch wenige Tage vor dem europaweiten Bewerbungsverfahren davon ausgegangen war, für den Museumsneubau das bestehende Gebäude, die ehemalige „Deutsche Mädchenschule“ in Belgien aus dem Jahr 1900, komplett abzureißen. Nach den vielen Erlebnissen in meiner Kindheit konnte ich nicht verstehen, dass die Stadt dies nach so langer Zeit und den vielen inzwischen gesammelten Erfahrungen zuließ und auch der Bauherr kein Interesse am Altbau zeigte. Den Unterlagen war zu entnehmen, dass man unter Mitwirkung von Museumsfachleuten schließlich doch noch zur Einsicht gekommen war: Den Teilnehmern wurde nun zur Auflage gemacht, die hoch aufragende Fassade zur Straße in ihren wichtigsten Teilen zu bewahren. Mehr aber auch nicht. Bei der zweiten Sitzung im Juni einigte sich die Kommission darauf, das Projekt des belgischen Planungsteams Matador mit ADN und Archiscénographie zur weiteren Bearbeitung vorzuschlagen. Das Gremium der jüdischen Gemeinde unter Leitung des Architekten Jacques Aron und die staatlichen Stellen nahmen dies wohlwollend auf. Die Architekten Matador schlagen unter anderem vor, nach einer teilweisen Entkernung des Hauptgebäudes sechs vertikale, bis zum Dach reichende schlanke Einbauten als „Idioblogs“ einzufügen. Diese schachtartigen Einbauten sollen sehr flexibel als Ausstellungsbauteile zu nutzen sein und für eine spannungsvolle Lichtführung sorgen. Viel Beachtung fand auch die Arbeit des Züricher Büros Holzer Kobler, das mit Daniel Libeskind u.a. beim Bau des Jüdischen Museums in San Francisco und beim Militärhistorischen Museum Dresden zusammengearbeitet hatte. Vor allem die Geste des neuen Dachs als deutliches Zeichen im Stadtraum gilt es hervorzuheben. Ich habe auch bei anderen Gelegenheiten die Erfahrung machen müssen, dass in der Stadt meiner Kindheit eine starke Lobby von Projektentwicklern, Investoren und Brüsseler Politikern präsent ist, ohne die bei wichtigen Bauvorhaben keine Vergabe möglich ist. Besonders die Neubauten der Europäischen Union führen dies eindrucksvoll vor Augen. Niemand spricht von diesen Großbauten, da sie architektonisch belanglos, und mit Blick auf ihre Bedeutung teilweise beschämend hässlich sind. Mit Ausnahme des „Berlaymont“, des ersten wichtigen Europa-Gebäudes der sechziger Jahre, sind die in Konsortien eingebundene Erbauer unbekannt. In Brüssel würden sich Wettbewerbsverfahren mit den Besten aller Staaten der Union wunderbar anbieten. Doch an keiner Stelle war in den letzten Jahrzehnten die Bereitschaft vorhanden, hier mit Bauaufgaben für ein vereintes Europa ein architektonisch großes Werk zu vollenden. 




Adresse Brüssel


aus Bauwelt 1-2.2012
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