Bauwelt

„Miesianer zu sein, heißt nicht, etwas zu kopieren“

Rethinking Mies: Eine Podiumsdiskussion

Text: Aret, Wiel, Maastricht; Campo Baeza, Alberto, Madrid; Kerez, Christian, Zürich; Mönningner, Michael, Braunschweig

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„Miesianer zu sein, heißt nicht, etwas zu kopieren“

Rethinking Mies: Eine Podiumsdiskussion

Text: Aret, Wiel, Maastricht; Campo Baeza, Alberto, Madrid; Kerez, Christian, Zürich; Mönningner, Michael, Braunschweig

Aachen, Citykirche St. Nikolaus, 27. Oktober: die Architekten Alberto Campo Baeza, Wiel Arets, Christian Kerez und als Moderator Michael Mönninger diskutieren über Mies.
Michael Mönninger | Mies hat die wirtschafts- und marktkapitalistische Architektur amerikanischer Großbüros wie SOM inspiriert, zugleich ist er das Idol einer progressiven Architektenschaft, die emanzipatorischen und aufklärerischen Idealen folgt. Wie ist dieser wirtschaftskapitalistische Mies mit heutigen Sehnsüchten und Potentialen vereinbar?
Christian Kerez | Ich denke, da gibt es viele Missverständnisse: Auch Le Corbusier hatte viele Schüler, die seinem Ruf nie gerecht wurden. Die Entwürfe von Mies sind radikal, und in dem Sinne setzen sie sich über viele Vorgaben hinweg, oft sind es ideale Architekturen, die sich nicht in ihrer Ganzheit vervielfältigen lassen, auch weil sie keine große Anpassungsfähigkeit besitzen, nicht domestizierbar, anwendbar sind. Mies ist kein Label, sondern ein Autor.
Also war er nicht das Vorbild für das Corporate America, sondern ist nur schlecht kopiert worden? Herr Arets, wie sehen Sie diese Spannung zwischen dem Inspirator des Wirtschaftsbauens und dem Aufklärer?
Wiel Arets | Mies hat gelehrt, dass man seinen Schülern nicht erklären soll, was man macht. Es stimmt, was Sie sagen: Viele Häuser sehen wie Mies-Imitationen aus. Das hat damit zu tun, dass die Architektur von Mies als eine ziemlich einfache Architektur erscheint, die in Wahrheit aber komplex. So etwas zu kopieren ist unmöglich. SOM haben nicht bloß Kopien gebaut, sie haben eine bestimmte Sprache entwickelt und sich damit von Mies getrennt – wahrscheinlich ihre besten Arbeiten. Ich würde jedem raten: Geh deinen eigenen Weg, und ich glaube, dass hat Mies auch gelehrt. Mies ist seinen eigenen Weg gegangen.
Haben Sie keine Sorge, dass es eines Tages heißt: „Occupy Mies Buildings!“, weil zwischen Wall Street und Mies’ Architektur eine direkte Beziehung hergestellt werden kann.
Arets | Wie Christian sagt: Mies ist kein Label und kann nie eines werden. Seine Arbeit war einfach zu gut, zu komplex.
Alberto Campo Baeza | Wir sind nicht hier, um einem Kadaver zu applaudieren, sondern wir versuchen herauszufinden, wer Mies war. Ich hörte häufig, ob als Kritik oder als Vorwurf, et­was von mir sei „miesianisch“. Ich war froh dar­über, denn ich fühlte mich verstanden. Wir sind Miesianer, natürlich! Aber Miesianer zu sein, heißt nicht, etwas zu kopieren, einem Muster zu folgen, miesianisch im formalen Sinne zu sein. Es gibt drei Aspekte, die zusammen­fassen, wie oder wer Mies war. Erstens, er war präzise; zweitens, er war ein Forscher; drittens, er war ein Schöpfer. Mies nutzte immer die neuesten Technologien, um neue Wege zu ermöglichen. Er nutzte die Konstruktion als Mittel, um die Tore für eine neue Architektur zu öffnen. Der dritte Aspekt ist vielleicht am schwierigsten begreifen: Mies war Schöpfer – auch in dem Bewusstsein, dass das, was er schuf, seinen Tod überdauern würde.
Welcher von Mies van der Rohes Entwürfen spielt für Sie die zentrale Rolle oder welche Methode, welche Entwurfshaltung, welcher Prozess der Ideenfindung bei ihm hat für Sie heute noch einen leitenden Wert?
Kerez | Mir gefallen alle Gebäude von Mies, auch die schlechten. Manche werden aus seinem Lebenswerk ausgeblendet, sie sind aber wichtig,  um zu verstehen, dass dieses Werk kein herme­tisches stilistisches System darstellt, sondern experimentell und lebendig ist.
Arets | Mir ist seine Haltung wichtig. So sorgfältig Mies seine Arbeit gemacht hat, so sorgfältig hat er auch seine kurzen Texte geschrieben, alles was er gemacht hat, hat er sorgfältig gemacht, aber immer mit einem Konzept, einer Haltung, mit etwas, dass autobiographisch begründet ist. Aber das ist nicht nur bei Mies so. Auch bei Jean-Luc Godard oder Paul Valéry frage ich mich nicht: Was ist deren bestes Werk?
Heißt das, dass Sie Mies als Prototyp der Architektur des wirtschaftskapitalistischen Corporate America akzeptieren? Seine Kompatibilität mit dem großen Mainstream der Architektur dieses Jahrhunderts, die von Amerika ausgehend den International Style und unsere gesamte Moderne geprägt hat?
Arets | Wenn ich ein Produkt sehe, interessiert mich, wer der Mensch hinter diesem Produkt ist. Mich interessiert weniger, was das Produkt sonst noch angeregt hat oder warum andere versuchen, dieses Produkt zu kopieren.
Als Architekt können Sie vielleicht sagen, der soziale Gebrauch und die Konnotation, die symbolische Aufladung, interessieren Sie nicht, aber wir als Historiker, als Theoretiker müssen diese Frage zumindest aufwerfen dürfen. Herr Campo Baeza, welche Entwurfshaltung, welcher Prozess zählt, wenn es nicht um das Bild geht?
Campo Baeza | Ich stimme mit Wiel überein: Es ist eine moderne Attitüde, über Kapitalismus zu streiten, oder darüber, dass von Mies geschaffene Formen durch den Kapitalismus benutzt wurden. Wenn man sich auf diese Weise nähert, bewundere ich Myron Goldsmith oder Graig Elwood als Architekten, die Miesianer waren und seine Formensprache sehr gut genutzt haben, um dem Kapitalismus zu dienen. Sie machten ebenfalls wundervolle Sachen. Wir bewundern bei Mies am meisten, dass er die Vernunft als wesentliches Mittel nutzte, um Architektur zu machen. Als Goya seine „Caprichos“ schuf, malte er das Bild „Der Schlaf der Vernunft gebiert Un­geheuer“. Wenn die Vernunft schläft, produziert man Monster. In unserer zeitgenössische Architektur haben wir viele Architekten, die Teil des Starsystems sind und die Vernunft vergessen – oder hat sie sich vielleicht nur schlafen gelegt? Jedenfalls bauen sie Monster.
War Mies nicht auch ein Stararchitekt?
Campo Baeza | Mies nutzte die Vernunft als Haupt­instrument seiner Architektur; ein vollkommen klares Bewusstsein, das geniale Dinge, Meisterstücke erschaffen hat.
Wir haben in diesem Symposium auch etwas über die Medien- und Filmstrategien von Mies erfahren und darüber, wie er sie genutzt hat, um einen gewissen Starkult zu erzeugen, um sich zu einer unangreifbaren Ikone zu machen, auch um sein Werk abzusichern. Ist der heutige Kult um den Stararchitekten nicht ein letztes Verteidigungsgefecht der Autonomie der Architektur, um gegen den Wirtschaftswahnsinn, gegen die absolute Effizienz-Ökonomie noch ein bisschen Qualität durchzusetzen, jene Qualität, die Mies uns eigentlich gelehrt hat?
Kerez | In den zehn, fünfzehn Jahren, in denen ich als Architekt arbeite, hat der Umfang an Normen und Vorschriften bei Bauaufgaben zugenommen. Das Phänomen des Stararchitekten hat viel damit zu tun, dass neben all diesen Einschränkungen und dieser Bedrängtheit der Architektur quasi eine Sehnsucht da ist, durch individuelle Autorenschaft „erlöserhaft“ aus all diesen Alltagsvorgaben auszubrechen. Um noch einmal auf die Vorbildrolle von Mies zurück­zu­kommen: Letztendlich ist jedes Vorbild benutzbar oder vervielfältigbar. Wenn wir heute den Mainstream anschauen, können wir einen enormen Erfinderzwang oder Originalitätswahn feststellen. Dass solche Investorenarchitektur genauso langweilig bleibt, kann man den Protagonisten der Gegenwartsarchitektur anhängen, es ist aber ein Phänomen, das unabhängig von seinen Erzeugern existiert.
Ein kleines, einsilbiges Wort taucht in seinem Werk überhaupt nicht auf: „Stadt“. Das Denken über die Stadt habe ich in seinen Schriften nicht gefunden. Ist die Stadt das, was übrig bleibt, wenn Mies seine platonischen Idealkörper platziert hat? Wie kommt es, dass er die Stadt nie thematisiert?
Arets | Wie kein anderer Architekt hat Mies wie ein Chirurg in der Stadt gearbeitet. Sein Seagram Building ist ein überaus urbanes Statement, die Art, wie er in die Stadt eingegriffen hat, ist unheimlich stark, einer der explizitesten Eingriffe, die ein Architekt in die Stadt gemacht hat und der so präzise und so interessant ist, dass wir uns jetzt noch wundern. Wie hat er das gemacht? Wie hat er den Raum geschaffen? Und das sieht man bei der Neuen Nationalgalerie, das sieht man eigentlich bei jedem Haus, das er platziert. Er recherchiert die Lage so, dass sein Eingriff an jedem Ort, in jedem Projekt, das wir kennen, phänomenal ist. Vielleicht hat er das Wort „Stadt“ nicht benutzt, aber es war in seiner Arbeit verkörpert. Vielleicht war für ihn Architektur Städtebau und Städtebau auch Architektur. Es gibt vielleicht nur zwei „einfache“ Vorbilder für Architekten: Palladio und Mies. Architekten, die ihre Sprache mit jedem Projekt erweitert haben.
Le Corbusier hat seine Sprache viel häufiger geändert als wir glauben. Bei Mies hingegen sieht man vom Barcelona-Pavillon bis zum Seagram Building eine kontinuierliche Fortentwicklung der Sprache.
Also, wenn das Seagram Building Mies’ Beitrag zum Städtebau des 20. Jahrhunderts ist, dann müssen wir noch mehr zusammensuchen.
Campo Baeza | Ich wusste nicht, dass Mies niemals das Wort Stadt geschrieben hat. Aber ich meine, er schrieb es in Großbuchstaben, als er das Seagram Building baute, denn es ist eine großartige Weise, auf diese Frage zu antworten.
Kerez | Wenn ich sehe, was heute über die Stadt geschrieben wird, dann sind das keine Phantasien mehr, etwa wie die Stadt sich neu erschaffen lässt oder wie sie kontrollierbarer wird. Viel eher geht es um die Faszination, dass die Stadt ein Phänomen ist, das die Möglichkeiten des Einzelnen übersteigt. Ich glaube, in einer solchen Stadtlandschaft hat Mies Ideale geschaffen oder einzelne idealtypische Lösungen, die sich letztendlich auch auf eine Stadtvorstellung übertragen lassen könnten, aber sich sehr wahrscheinlich auch totlaufen würden in der Wiederholung eines meisterhaften Ausnahmebeispiels.
Fakten
Architekten Mies van der Rohe, Ludwig (1886-1969)
aus Bauwelt 44.2011
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