Bauwelt

Globalisierte Stadtplanung à la française

Text: Fromont, Françoise; Redecke, Sebastian, Berlin

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Globalisierte Stadtplanung à la française

Text: Fromont, Françoise; Redecke, Sebastian, Berlin

Anfang der neunziger Jahre machten die Renault-Werke in Billancourt endgültig dicht. Das Neubaugebiet entsteht nicht den Strukturen der früheren Hallen, sondern unterliegt einem strikten Regelwerk, das dem Immobilienmarkt Folge leistet. Wegen der Nähe zu Paris und der Lage an der Seine sind die Wohnungen sehr begehrt. Eine eigene Identität sucht man bei dem Quartier vergebens.
Seit nunmehr zwei Jahrzehnten füllt die Seine-Insel Seguin mit einem gescheiterten Umnutzungsplan nach dem anderen die Seiten der Feuilletons. Die dadurch ausgelösten De­batten sind beileibe nicht ausgestanden. Mittlerweile sind alle Gebäude auf dem gut 11 Hektar großen Areal abgetragen. Das Gelände wird von einem vorläufigen Park nach einem Entwurf von Michel Desvigne bespielt und harrt seiner Neubebauung. Verantwortlich für die aktuellen Planungen ist Jean Nouvel, im Juni stellte er den letzten Stand der Presse vor. Ein ursprünglich angekündigter Park ist zugunsten eines riesigen Glashauses inmitten vereinzelter Grünflächen weggefallen, hinzu kamen fünf etwa hundert Meter hohe Bürotürme, die für die Finanzierung der zahlreichen öffentlichen Einrichtungen sorgen und, so Nouvel, eine der neuen „Skylines für Grand Paris“ bilden sollen (Stadtbauwelt 24.2009). Stoff genug, um die lokalen politischen Kontroversen aufflammen zu lassen und die Diskussionen in den Medien erneut anzuheizen. Und wieder ließen kritische Stimmen, die die Machbarkeit eines solchen Programms auf dem im Abseits gelegenen Areal anzweifeln, nicht auf sich warten.
Das Trapez
Ganz ohne Skandal und Gezänk entstehen dagegen derzeit die Bauten auf dem „Trapez“ gegenüber der Insel. Der westliche Bauabschnitt des neuen Quartiers auf der mehr als 30 Hektar großen Hauptparzelle der Industriebrache wurde kürzlich mit der Fertigstellung der Fassade des Tour Horizons abgeschlossen. Der Bau von Nouvel ist ein Wahrzeichen für ein Quartier, dessen stadtplanerischer Entwurf allen Konventionen eines „Projet urbain à la française“ gerecht wird: In diesem Neubaugebiet wurden so gut wie alle Spuren der ehemaligen industriellen Nutzung sorgfältig bereinigt. Für eines der Überbleibsel, der von Claude Vasconi 1984 errichtete Renault-Hallenbau „57 Métal“, läuft derzeit der Denkmalschutz-Antrag.
Ein im Jahr 2000 verabschiedeter Masterplan ordnet das Areal neu. Grundlage bildet eine Wegeführung, die die Straßenzüge der umliegenden Quartiere verlängert und ergänzt. Ausschlaggebend dabei waren zwei Hauptprinzipien, nämlich die Einbettung in den Gesamtplan der Stadt und die Einführung einer typologischen Hierarchie. Ein neuer „urbaner Boule­vard“, der Cours de l’Île Seguin, bildet jetzt die zentrale Achse mit der 2008 fertiggestellten Pont Renault als Abschluss. Das restliche Wegenetz unterteilt das Gelände in großräumige Parzellen, sogenannte „Macro-Lots“. Jede dieser Parzellen wurde einem anderen Architekturbüro zur Gesamtkoordination übertragen: Neben der Erstellung von Planungsunterlagen nach Maßgabe der durch den übergeordneten Gesamtbebauungsplan vorgeschriebenen Blockkanten, Traufhöhen und Bebauungsdichten arbeiten die Büros das Regelwerk für eine Bebauung weiter aus und organisieren die für die Umsetzung notwendigen Ausschreibungen. Diese Schritte werden in en­ger Zusammenarbeit mit dem Dachmanagment des Ensembles ausgeführt, einer PPP-Verwaltungsgesellschaft, zu der sich vier Investoren des Projekts zusammengeschlossen haben. Mehr als einhundert Architekten sind so in das Projekt eingebunden – ganz im Sinne des übergeordneten Mottos, das in allen Konzeptpapieren prominent kommuniziert wird: Ziel ist die Schaffung der „nachhaltigen Stadt“ durch die Kombination architektonischer Handschriften, für die ein urbanes Raster den festen Rahmen bildet.
Mit solch einer – vereinfachten – Darstellung des Verfahrens und dem dahinterstehenden Anspruch lässt sich das Bild recht gut erfassen, welches das neue Quartier heute bietet. Das Prinzip der Parzellen schlägt sich in extrem verdichteten Block­inseln nieder, einige davon mit einer GFZ von mehr als 4,0, ein Faktor, der beinahe schon an das Paris der Haussmann-Ära heranreicht. Sie reihen sich auf Sockeln mit Tiefgaragen entlang der Straßenzüge aneinander und sind gelegentlich durch „wertiges“ Äußeres garniert.
Gegen derart ungünstige Vorgaben können auch die besten Architekten nicht an. Gebäudeerschließungen halten sich gewissenhaft an die unverbrüchliche Grundregel des straßenseitigen Zugangs. Dementsprechend verkommen die Innenseiten der Blocks zu Hinterhöfen – einen Alltagsnutzen sucht man, trotz der Grünpflanzen, die die Gartenbauer hier großzügig verteilen, vergeblich. Die Höfe sind zum Teil so eng, dass die Bewohner die Vorhänge als Sichtschutz vor ihren großen Fensterfronten stets geschlossen halten müssen.
Auf Schritt und Tritt stößt man auf derartige kontextuelle Widersprüchlichkeit. Hinter dem breiten Bebauungsgürtel „Front de Seine“, der entlang der Straße am Ufer des Flusses hochgezogen wird, liegt der öffentliche Park. Die Seite gegenüber säumt der breite Bebauungsgürtel „Front de Parc“. Der Entwurf basiere, so die Grünplaner vom Büro TER, auf einem poetischen Konzept, das auf die Seine Bezug nimmt. Ziel ist es, eine „Renaturierung des Geländes im Nachgang seiner industriellen Vergangenheit anzustoßen“ – ganz im Sinne eines der Leitsätze des Projekts: „Die Stadt mit ihrem Fluss versöhnen.“ Dementsprechend erhalten die Parzellen des Parks die Form lang gestreckter „Themeninseln“, die durch eine Art Wadis voneinander abgesetzt sind. Diese Wadis sind teils trocken, teils mit Wasser gefüllt, ganz so, als würde hier ein toter Arm der Seine verlaufen. Am Parkeingang wird das Konzept auf Lehrtafeln erläutert; an die Stelle einer realen sozio-kulturellen Geschichte, die man vermuten könnte, setzt man auf eine fiktive „natürliche“ Vergangenheit. Das ist Absicht. Nirgend­­wo nämlich bekommt man den echten Fluss zu sehen, obwohl die Seine ganz in der Nähe vorbei fließt und dem Quartier seinen Namen gibt. Der Fluss ist vom Park durch eine Mauer aus hohen Gebäuden, die das Ufer besetzen, abgeschnitten. Steht man auf dem Cours de l’Île de Seguin, wird die Seine durch den breit zum Pont Renault ansteigenden Fahrdamm verdeckt, der den eigentlich gewollten Blick auf das Wasser verbaut. An der Grenze zwischen dem ersten und einem künftigen zweiten Baupabschnitt des Parks verspricht der Plan einen „Belvedere zur Seine“. Abwarten.
Die Straßen und Alleen erhielten Namen aus der Politik und der Industriegeschichte. Ehemalige lokale Abgeordnete teilen sich die Ehre mit Firmenvorständen oder Ingenieuren von Renault. Es gibt sogar eine Rue Robert Doisneau. Der Fotograf, der mit Motiven der Pariser Vorstadt berühmte wurde, war in den dreißiger Jahren einige Zeit für den Autobauer tä­tig. Ein solches „Theming“ von Straßennamen ist ein typisches Verfahren wenn es darum geht, in ein neues Quartier die Erinnerung an das Gewesene einzubringen, ein Ersatz für die Geschichte, von der so gut wie keine konkreten Relikte (Topo­grafie, Orientierung und Maßstäblichkeit der Parzellierung oder historische Bauten ) im städtebaulichen Entwurf berücksichtigt wurden.
Die Struktur des Billancourt-Ensembles liest sich daher wie ein ferner Abkömmling jener Grundsätze, mit denen die französische Postmoderne den Kanon der „Ville Haussmannienne“ zur unumstößlichen Referenz für Städteplanung erhob. Seither drängt sich dieser, im Grunde an Paris orientierte, urbane Typus in unterschiedlichen Varianten als eine Art Denkmodell auf, sobald es darum geht, eine beliebige industrielle Brache oder Hafenanlage, also eigentlich jedes vorstädtische Gelände, in ein „Stück Stadt“ zu verwandeln.
Das Finanzprodukt
Unter dem Vorzeichen einer Kritik an der Moderne und im Namen einer Wiedereinführung urbaner Konventionen einer „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ wurde ein städtebauliches Genre hervorgebracht, das sich von Lille (Euralille 2), über Marseille (Euroméditerranée) bis Lyon Confluence beinahe überall finden lässt. Allerdings ergaben sich seit jenen Anfängen einige Verschiebungen in der Maßstäblichkeit. Die Globalisierung ließ die Nachfrage nach identitätsstiftenden Architektur-Highlights wachsen. Vor allem aber krempelte der Aufschwung des Geldkapitalismus die finanziellen Grundlagen im Immobilien- und Baubereich um. In Frankreich ist die Welt des Hoch- und Tiefbaus inzwischen auf einige wenige Großinvestoren geschrumpft, die sich den Markt untereinander aufteilen; dass sie ihre Aktivitäten auch auf Anlageobjekte ausgedehnt haben, macht sie umso effektiver. Zudem haben die mit dem Kauf von Mietwohnungen gewährten Steuernachlässe aus dem Wohnbereich ein attraktives Finanzprodukt gemacht. Das Angebot an neu gebauten Wohnimmobilien muss sich an der wachsenden Nachfrage nach Wohnraum mit Standardgrundrissen orientieren, der mit dem Ziel der Vermietung erworben wird. Die zunehmende Bedeutung ökologischer Gesichtspunkte und die immer dringlicher werdenden Forde­rungen von privaten Auftraggebern und der Bauindustrie, die Grundsätze nachhaltigen Bauens in die Agenda zu übernehmen, haben den Umfang an technischen wie „weltanschaulichen“ Auflagen, denen Bauprojekte gerecht zu werden haben, dramatisch erweitert.
Der Themenpark
Die Stadtplanung à la française hat sich in eher überzogener Hinsicht diesen neuen Gegebenheiten angepasst. Die bauliche Verdichtung, damals im Gegenentwurf zu den weiten Freiflächen großer Wohnkomplexe als Garantie für „Urbanität“ propagiert, eignet sich nur allzu gut für die Anforderungen an eine steigende Rentabilität von Baugrund. Die von der öffentlichen Hand finanzierten Gemeinschaftseinrichtungen, die ursprünglich als bester Garant für ein als unumstößlich angesehenes Mischnutzungskonzept galten, dienen jetzt einer Aufwertung für Mietwohnungen von Investoren. Der Park, seit dreißig Jahren Basis-Baustein jedes neuen Erschließungsgebiets, ist zum Themenpark mutiert, zu einer Ersatzveranstaltung im Sinne einer ökologischen Seele und einer „urbanen Identität“, ist zum Öko-Deckmäntelchen geworden für eine unkomplizierte Erfüllung von Auflagen: Auffangen und Speichern von Regenwasser. Er gibt die Kulisse für „Biodiversität“.
Selbst Nouvels Turm entspricht einem Element, das seit Beginn in das Programm gehört. In den achtziger und neunziger Jahren wurden die großen Bauvorhaben in Paris, die ersten Schaubeispiele für den Umbau der Städte, durch ein kleineres oder größeres, in jedem Fall architektonisch aufwändiges Gebäude ergänzt. Zumeist für eine kulturelle Nutzung bestimmt, waren deren Bau- und Funktionsprogramm als Zentren für Aktivitäten im künftigen Viertel ausgelegt, die auch Interessierte von außerhalb des Viertels anziehen sollten. Ein Beispiel ist etwa das frühere American Center von Frank O. Gehry in Paris-Bercy oder Dominique Perraults Nationalbibliothek am Rive Gauche. Nun übernimmt der Turm diese Rolle, allerdings mit gänzlich verändertem Nutzungsprogramm und für eine andere Klientel: De facto verbindet der Turm kommerzielle Nutzungen im Sockel mit Büros auf den mittleren Geschossen. Als Echo auf die industrielle Vergangenheit des Ortes, einem nahezu manischen Stichwort, rufen hier Akzente der Fassaden den „kontextuellen Zusammenhang“ auf. Hinzu kommen in der verglasten oberen Partie weitere Büros mit Fernblick; Träger ist der Investor Hines.
Man fragt sich, ob man diese Anpassungsfähigkeit des Städtebau-Konzepts als weiteren Beweis für seine Qualitäten lesen kann. Oder sollte man stattdessen den normativen Charakter, die urbane Groteske, die das Modell hervorbringt, beklagen? Eine Begehung stimmt hinsichtlich der Rolle der Architektur in diesem zugleich retrovertierten und globalisierten städtebaulichen Gefüge nachdenklich.
Die Oberfläche
Was bleibt – jenseits von Bauvorhaben außerhalb der Schablonen, die den internationalen Stars vorbehalten sind – für die Handlanger, die ein städtisches Umfeld fabrizieren sollen, was ja das eigentliche und ursprüngliche Ziel von Stadtplanung ist? Einerseits sind sie durch den Markt ihrer Rolle als Planer für Wohnungen enthoben, andererseits sind sie durch unzählige Auflagen und kostentechnische, bautechnische und ökologische Vorschriften gegängelt, die Architekten für das Bauen eigentlich überflüssig machen. Ihre neue Hauptaufgabe besteht vor allem im Entwerfen origineller Fassaden, die jedem Projekt eine oberflächliche Eigenständigkeit verschaffen. In einem Interview brüstete sich kürzlich ein Architekt mit einem großen Sieg für seine Parzelle in Billancourt: Er habe es fertiggebracht, dem Investor gold-, silber- und kupferfarbenen Putz schmackhaft zu machen – passend zu den Jagdszenen an den Balkongeländern und Fensterbrüstungen (Seite 26).
Die weitere städtebauliche Entwicklung vom Trapez wird sich unabwendbar nach denselben Prinzipien fortstricken. Die Erneuerung des Quartiers Pont de Sèvres, einer westlich angrenzenden „Wohnburg“ aus den siebziger Jahren, steht noch aus. Beim Gang durch den Komplex ertappt man sich mehr als nur einmal bei einer gewissen Wehmut: Manche der hier gebauten Ideale waren gar nicht so schlecht (Seite 36).
Aus dem Französischen von Agnes Kloocke
Jean Nouvels Insel Seguin
Vor zwölf Jahren klang alles noch ganz anders: Jean Nouvel war erbost über den geplanten Abriss der Renault-Werkhallen auf der Insel. In seinem viel beachteten Protestbrief mit dem Titel „Boulogne mordet Billancourt“ („Le Monde“ vom 6. März 1999) war zu lesen: „Nun soll also die Insel Seguin geschleift werden. Wenn das geschieht, dann tragen Sie die Schuld! Sie, der Bürgermeister von Boulogne ... haben es in die Wege geleitet, Sie, der Generaldirektor von Renault, haben die Insel geopfert, und Sie, verehrte Frau Kulturministerin, haben das Vorha­-ben genehmigt.“ Und weiter: „Nehmen Sie sich ein Beispiel an Giovanni Agnelli. Was hat er aus Lingotto in Turin gemacht!“ (Bauwelt 3.2002)
Heute steckt ausgerechnet Jean Nouvel mit seinen Partnern mitten drin in einem gewal­tigen Neubauprojekt auf der Insel. Er hat den Auftrag für die städtebauliche Gesamtplanung des leergeräumten Eilands bekommen. Im Juni präsentierte er den neusten Stand. Seine fünf Bürohochhäuser sollen auf 100 m Höhe reduziert werden. Ansonsten ist ein Unterhaltungsprogramm auf der Insel geplant, mit Shopping, Kino, Theater, Clubs, Galerien. Bei der Vermarktung seiner Projekte nimmt Nouvels Darstellungskunst seit ein paar Jahren sonderbare Züge an. Die Präsentation ist wieder einmal geschickt in ein grünes Szenario eingebettet. Man gewinnt fast den Eindruck, sich in einer unberührten Naturlandschaft zu befinden. Nouvels Bauten sind kaum greifbar. Der neue Bürgermeister hatte im Wahlkampf eine geringere Bebauungsdichte versprochen. Mitte Mai ist Thierry Solère, der zweite Bürgermeister, mit der Bemerkung „C’est panique à bord“ (in Anspielung der Schiffsform der Insel) zurückgetreten. Er war mit der großen Bebaungsdichte auf der Insel, die im Lauf der Jahre von ursprünglich 175.000 auf 335.000 Quadratmeter angestiegen war und nun kaum wieder reduziert wurde, nicht einverstanden. Auch die Nachbargemeinde Meudon, südlich der Seine, ist noch immer in Unruhe und klagt an, da man befürchtet, bald eine Wand vor sich zu haben. Sebastian Redecke
Fakten
Architekten SAEM; Nouvel, Jean, Paris
aus Bauwelt 27-28.2011
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