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Der Hype um die Entschleunigung

Kunst von Friedrich bis Ai Weiwei

Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig

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Hussein Chalayan

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Der Hype um die Entschleunigung

Kunst von Friedrich bis Ai Weiwei

Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig

Anerkannte Institutionen moderner Kunst widmen sich zunehmend Themen, die den engen Reflexionsrahmen ihrer Disziplin sprengen, und nehmen sich stattdessen hochkomplexer Zusammenhänge an, dem Diktat des Wachstums etwa oder der Beschleunigung unseres globalisierten Lebens. Hat sich die zeitgenössische Kunst vielleicht zu bequem in der Gesellschaft eingerichtet, um zu eindringlichen Haltungen – aus sich selbst heraus – fähig zu sein?
Ein wenig beschlich einen dieser Eindruck, als das Kunstmuseum Wolfsburg seine neuste Produktion „Die Kunst der Entschleunigung. Bewegung und Ruhe in der Kunst von Caspar David Friedrich bis Ai Weiwei“ vorstellte. In vier chronologischen Abschnitten, untergliedert in 15 Kapitel und einen Prolog, schlägt die Ausstellung den Bogen vom Beginn der westlichen Industrialisierung bis zu den heutigen Megacities; dialektisch sind Aspekte enthusiastischer Geschwindigkeitsverherrlichung Momenten der Verlangsamung gegenübergestellt.
Die Zuordnung der Artefakte erfolgt über weite Strecken assoziativ, was zu ungewohnten ästhetischen Konfrontationen führt. Der Prolog „1776: Freiheit – Goethe – Dampfmaschine“ beispielsweise setzt die amerikanische Unabhängigkeitserklärung ideengeschichtlich gleich mit dem wirtschaftsli­beralen Traktat „Der Wohlstand der Nationen“ von Adam Smith und der physischen Entfesselungsdynamik der ersten Dampfmaschine. Goethe stellte der „veloziferischen“ Betriebsamkeit 1777 in den Weimarer Ilmwiesen seinen „Stein des guten Glücks“ entgegen, eine Kugel auf einem Würfel. Den Stein interpretierte er als optimale Balance (s)eines Lebens zwischen dem launischen Glück und der Unbestechlichkeit der Ruhe. Tischbein schließlich setzte den Geistesfrieden des Dichters in der Campagna selbstgewiss in Szene – am Vorabend der französischen Revolution, alle Zeichen der Zeit ignorierend. Was in der Ausstellung mit einem Video des britischen Modeschöpfers Hussein Chalayan aus dem Jahr 2003 eine ganz neue Brechung erfährt: Eine futuristische Raumkapsel saust durch Landschaften à la Tischbein, in denen statt römischer nun postindustrielle Architekturzitate die Staffage abgeben.
160 Arbeiten von 85 Künstlern – das Museum schwelgt erneut in Originalen. Glücklicherweise bleiben alle Facetten mehrdeutig, entziehen sich der messerscharfen Zuordnung in Bewegung oder Ruhe. So sind zum Beispiel ja die kinematografischen Urerfahrungen um 1900 in den Genen der architektonischen Moderne als fließende, gleichwohl behausende Räume aufs Beste synthetisiert. Die Kunst als „Frühwarnsystem“ gesellschaftlicher Zustände, um mit Museumsdirektor Markus Brüderlin zu sprechen, scheint sich holzschnittartiger Antipoden zu verweigern. Oder, wie Byung-Chul Han im Katalog bemerkt: Die Zeitkrise von heute beruht nicht auf der Beschleunigung, folglich wäre die Entschleunigung auch nicht ihre Lösung. Er proklamiert eine narrative Dimension der Zeit, die Szenografie des Sinns und der Bedeutung.

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