Bauwelt

Auf den Wegen des Rabbi Eisik

Forschen mit Jan Pieper

Text: Pieper, Jan, Berlin

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Der Autor und sein Team bei der Bauaufnahme in der Villa Imperiale bei Pesaro

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Während der Forschung an der Villa Imperiale

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Während der Forschung an der Villa Imperiale


Auf den Wegen des Rabbi Eisik

Forschen mit Jan Pieper

Text: Pieper, Jan, Berlin

Der Autor beschreibt, wie er seine Themen und seine Methoden der Betrachtung der Baugeschichte gefunden hat. An der RWTH Aachen war es sein Ziel, den angehenden Architekten die Relevanz historischer Bauten für das eigene Tun näherzubringen. Dabei waren viele Studenten in seine Forschungsprojekte fest eingebunden.
Die Chassidim erzählen sich die Geschichte vom frommen Rabbi Eisik aus Krakau, der träumte, auf ihn warte im fernen Prag ein großer Schatz unter der Brücke, die zum Schloss des böhmischen Königs führt. Unverzüglich machte er sich auf den Weg, und endlich angekommen begann er unter der Brücke zu graben, dabei aber wurde er entdeckt und aufgegriffen. Um seine Haut zu retten, erzählte er dem Wächter seinen Traum, der aber lachte nur und sagte, er selbst habe geträumt, im fernen Krakau läge ein Schatz für ihn im Garten des Rabbi Eisik unter der rotblühenden Kastanie bereit. Aber auf dergleichen könne man ja nichts geben, das täten eben nur Narren, wie Rabbi Eisik einer sei, und der solle nun flugs seiner Wege gehen, bevor er sich eines anderen besinne. Umgehend kehrte der Rabbi nach Krakau zurück, grub unter der rotblühenden Kastanie in seinem Garten nach und fand dort, wie vom Wächter geträumt, den großen Schatz.
So ähnlich könnte man die Wege beschreiben, auf denen ich zu meiner Art der Baugeschichte gekommen bin – ohne Umschweife zwar, aber doch auf Umwegen, die mich über lange Reisen in ferne Kulturen zurück zur europäischen Architektur geführt haben. Und ein weiterer Umweg in diesem Sinne war auch meine Arbeit als Architekt im Dienste von Gottfried Böhm, der gewiss zu den wenigen unserer Zeit gehört, die man noch im traditionell ganzheitlichen Sinne des Wortes als „Baumeister“ bezeichnen muss. Die kritische Auseinandersetzung mit seiner Architektur und seiner Schule – insbesondere der sechziger und siebziger Jahre – hat mich schrittweise von der Praxis des architektonischen Entwerfens entfernt und immer tiefer in die Theorie und Geschichte der Architektur eindringen lassen.
Andere Inhalte, andere Methoden
Aufgrund dieser eher ungewöhnlichen Annäherung an die historische Architektur unterschied sich das Lehr- und Forschungsprogramm, das ich schon fertig im Gepäck hatte, als ich 1988 auf den Lehrstuhl für Architektur- und Stadtbaugeschichte der TU Berlin berufen wurde, in Vielem von dem, was zu der Zeit im Fach Baugeschichte an den Architekturfakultäten der meisten deutschen Hochschulen gelehrt und geforscht wurde. Ich will gar nicht behaupten, dass dieses Programm fachlich besser gewesen wäre als andere, beispielsweise kunsthistorisch oder sozialgeschichtlich fundierte Ansätze, aber ich bin mir sicher, dass es sich sehr viel unmittelbarer an der konkreten Erfahrungswelt des entwerfenden Architekten orientierte. Noch heute bin ich davon überzeugt, dass dieses Programm in besonderem Maße geeignet ist, angehenden Architekten die Relevanz der Baugeschichte für das eigene Tun näherzubringen, da es nicht die historische, sondern die architektonische Perspektive zum Ausgangspunkt der Betrachtung macht.
Das Besondere meines Lehr- und Forschungsansatzes betraf sowohl die Inhalte wie die Methoden des Fachs. Inhaltlich unterschied sich die Lehre vor allem darin, dass sie kulturvergleichend angelegt war und nicht ausschließlich auf die europäische, deutsche oder gar regionale Architekturgeschichte abstellte. Natürlich hielt ich eine einführende Vorlesung, die als „Historische Bautypologie und architektonische Formenlehre“ den Kanon der europäischen Baugeschichte vermittelte, allerdings eher typologisch als stilgeschichtlich orientiert. Aber daneben gab es – und in meinem Verständnis gleichberechtigt – Seminare zur außereuropäischen Baugeschichte, die die elementaren Baugedanken über die Kulturen hinweg in einer vergleichenden Architekturgeschichte zu erfassen suchten.
Eine zweite Eigenart meiner architekturgeschichtlichen Lehre lag darin, dass sie nicht epochenfixiert war, sondern sich auf die überzeitlichen Themen und Topoi der Architektur bezog, die in den verschiedenen Epochen lediglich nach den technischen Möglichkeiten und mit den besonderen Ausdrucksmitteln der Zeit bearbeitet werden. Damit war diese Baugeschichte nicht primär als ein Bildungsfach für Architekten konzipiert, das die historischen Ursprünge des Aktuellen offenlegen und das „Gegenwärtige als ein Gewordenes“ darstellen wollte, sondern es war ein Zugang, der auf ein systematisches Verständnis von Architektur als kulturelles Phänomen ausgerichtet war.
Und als drittes schließlich habe ich immer darauf insistiert, dass es bei der Baugeschichte für Architekten weniger darum geht, die Architektur einer Zeit als Quelle der je zeitspezifischen Anschauungen, Befindlichkeiten, technischen Möglichkeiten und der gesellschaftlichen Verfassung zu verstehen, sondern als eine zwar historische, aber zugleich exemplarische Gestaltung der immer gleichen Aufgabe des künstlerischen Bauens, nämlich der architektonischen Darstellung, Deutung und Sinngebung der sichtbaren und der vorgestellten Welt. Die Baugeschichte ist aus dieser Perspektive nichts anderes als ein systematisches Erfassen des architektonischen Kerns in der Stilhülse der historischen Form.
Allein das Bauwerk
Die methodischen Besonderheiten des Programms, das ich 1988 mit nach Berlin brachte, betrafen naturgemäß vor allem die Forschung, weniger die Lehre, diese eigentlich nur insoweit, als das Lehrprogramm auf eigenen Forschungsarbeiten aufbaute und zudem sehr zahlreich Studenten in die Forschungsprojekte mit eingebunden waren. An erster Stelle ist dabei der methodische Grundsatz zu nennen, dass alle meine Forschungsarbeiten immer vom Bauwerk selbst ausgehen, das sowohl als primäre Quelle seiner Geschichte als auch als Schlüssel zu seiner ideellen und formalen Konzeption begriffen wird. Natürlich werden im Forschungsprozess auch alle verfügbaren Schrift- und Bildquellen zu Rate gezogen, aber am Anfang steht immer die akribische Dokumentation des Gebauten in einer umfassenden Bauaufnahme und der bauforscherischen Spurensuche im materiellen Bestand. Messend und zeichnend zum Verstehen vorzudringen, dies ist das Credo des Forschungsansatzes, den ich über Jahre hinweg verfolgt habe und der den philologischen Methoden des Historikers damit ein im eigentlichen Sinne baugeschichtliches Erkenntnisinstrument voranstellt.
Die ursprünglich von der Archäologie entwickelte Bauforschung hat der Baugeschichte als wissenschaftlicher Disziplin spätestens seit den achtziger Jahren den größten methodischen Fortschritt beschert und die Zahl der Forscher, die sich dieses Rüstzeugs bedienen, ist seither ständig gewachsen. Gleichwohl werden die Methoden der historischen Bauforschung in der Regel ausschließlich auf die Klärung von Genese und Chronologie eines Bauwerks angewendet. Die Methode kann jedoch erheblich mehr leisten, sie ist auch geeignet, zum Verständnis der ikonologischen Konzeption und Programmatik eines historischen Bauwerks beizutragen, wie dies mein Aufsatz über die künstliche Ruine der Villa Imperiale belegt (Seite 14). Es war deshalb von Anfang an mein Ziel, mit den Methoden der historischen Bauforschung am konkreten Objekt die Verständnisebene der architektonischen Bedeutungsforschung zu erreichen. In dieser Verbindung der Mikroskopie der historischen Bauforschung am einzelnen Bauwerk mit der Makroskopie der architektonischen Themenkunde und Toposforschung sehe ich eine zweite methodische Besonderheit meines Forschungsansatzes.
Eine dritte schließlich liegt darin, das einzelne Bauwerk oder ein städtebauliches Ensemble immer auch daraufhin zu untersuchen, inwieweit es exemplarisch für seine Zeit zu nehmen ist und worin demgegenüber seine historische Einmaligkeit besteht. Meine monographisch angelegten Forschungsprojekte sind deshalb zugleich systematisch angelegte Versuche, neben der auf das einzelne Bauwerk bezogenen Detailforschung immer auch einen Beitrag zum Verständnis der Epoche insgesamt zu leisten. Dies deuten schon die Titel an – beispielsweise „Pienza. Der Entwurf einer humanistischen Weltsicht“ (1997) oder „Maulnesen-Tonnerrois. Ein Kon­strukt aus dem Geiste des Manierismus“ (2007) –, die über den engeren Gegenstand hinaus auf die gesamte Epoche abzielen, schließlich auch auf eine überzeitliche Thematik.
Gottfried Böhm
Dieses Programm, das ich von 1988 an systematisch in Lehre und Forschung weiterentwickelt und präzisiert habe, ist natürlich nicht vom Himmel gefallen, sondern es ist auf ähnlichen Umwegen gefunden worden, wie der Schatz des Rabbi Eisik in der eingangs geschilderten Episode aus den Geschichten der Chassidim. Dieses Programm ist in einer sehr langen Vorbereitungszeit entstanden, die bis in meine Studienjahre an der TU Berlin (1964–67) zurückreicht. Meine wichtigsten Lehrer dort waren Ernst Heinrich und Oswald Mathias Ungers. Heinrich begeisterte mich mit der Authentizität des Ausgräbers und seinen grandiosen Vorlesungen zur Baugeschichte, Ungers mit der Brillanz seines typologischen Denkens für die Architektur. Als die eigentliche Vorbereitungszeit auf meinen späteren akademischen Beruf jedoch sehe ich die zehn Jahre an, die ich nach einem Studienwechsel an die RWTH Aachen (1968–70) als Architekt im Umkreis von Gottfried Böhm tätig war. 1970 hatte ich bei Böhm in Aachen mein Architekturdiplom erworben, erste praktische Erfahrung als Architekt sammelte ich in England als Junior Architect des Buckinghamshire County Council in Aylesbury, 1973 begann ich dann als freier Mitarbeiter in Böhms Architekturbüro in Köln-Marienburg.
Gottfried Böhm war für mich eine der Leitfiguren der Architekturszene der sechziger und siebziger Jahre und seine kristallinen Entwürfe – etwa für die Wallfahrtskirche in Neviges oder das Rathaus in Bensberg – gehören gewiss zu den herausragenden Bauten dieser Zeit. Ich bin deshalb nicht nur im Kölner Büro sehr gern für ihn tätig gewesen, sondern habe auch sofort zugesagt, als er mir 1974 eine Stelle als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an seinem Aachener Lehrstuhl anbot. Bis 1983 habe ich dort gearbeitet.
Der Aachener Lehrstuhl war wie ein Architekturbüro organisiert, das allerdings nicht auf die Realisierung baureifer Projekte abzielte, sondern auf die systematische Entwicklung von architektonischen Konzeptionen, die oft in spätere Realisierungen eingeflossen sind. Hier wurden zahllose Architekturwettbewerbe erarbeitet, in denen beispielsweise die passageartig organisierten Raumsysteme des Wallraff-Richartz-Museums in Köln oder der Dortmunder Universität erfunden wurden (1977/78), die beide unrealisiert geblieben sind, aber in späteren Projekten wie etwa der Hauptverwaltung von Züblin (1981/85) in Stuttgart nachwirkten.
Diese linearen Strukturen sind charakteristisch für die zweite Hauptphase in Böhms Gesamtwerk, in der gläserne transitorische Räume mit einer grandiosen Lichtregie die schweren Betonmonolithe der sechziger Jahre als Leitmotiv ablösen. Böhms expressive Architektursprache dieser Jahre, die mit den Elementarformen der Kristalle, Assoziationen an die Welt des Montanen oder der Materialisierung des Lichts in gläsernen Raumhüllen spielt, zwang zur kritischen Auseinandersetzung mit der Frage nach der zeichenhaften Bedeutung von Architektur. Diese Frage stellte sich umso dringlicher, als die Architektur als ein System von ohne weiteres verständlicher Zeichen, ja eine kollektiv geteilte Lesbarkeit voraussetzt, die im zeitgenössischen Kontext der siebziger Jahre natürlich nicht mehr in wie auch immer gearteten allgemeinverbindlichen Weltsichten gefunden werden konnte. Hierfür musste es andere Quellen geben, und ich bin der Frage nach den Ursachen und Voraussetzungen für die Lesbarkeit architektonischer Zeichen und Gesten unter den Bedingen der Heterotopie der Gegenwart systematisch nachgegangen, fast zehn Jahre lang und mit immer neuen Herangehensweisen. Darüber habe ich am Ende die Themen meiner bauhistorischen und architekturtheoretischen Forschungsarbeiten gefunden, die sich vor allem mit der Rolle der Architektur als Bedeutungsträger und als Medium der Sinnstiftung befassen, mit den anthropologischen Grundlagen der architektonischen Zeichensysteme in unterschiedlichen Kulturen, mit der Frage nach der Mimesis und den Metamorphosen der architektonischen Formenwelt.
Ich bin diese Fragen immer wieder ausgehend von dem konkreten architektonischen Umfeld aus angegangen, in welchem ich als Mitarbeiter von Gottfried Böhm tätig war, aus der Perspektive des Architekten also. Paradoxerweise hat mich dieser Prozess immer weiter von der Praxis des Architektenberufes entfernt und immer tiefer in die Theorie der Architektur eindringen lassen und damit notwendigerweise auch in die Geschichte der Architektur, denn nach einer bis in die Antike zurückreichenden Tradition argumentiert alle Architekturtheorie vornehmlich historisch. So bin ich über meine Arbeit als Architekt immer weiter von der architektonischen Praxis abgerückt, bis ich am Ende zum Bauhistoriker geworden bin, obwohl ich eigentlich immer nur Architekt sein und bleiben wollte.
Asien
Dieser Prozess beschreibt einen der Wege, die ich gegangen bin, um zu meinen architektonischen Themen und baugeschichtlichen Forschungen zu gelangen. Aber es gab noch andere, regelrechte Umwege, die dennoch am Ende umso sicherer zum Ziel geführt haben. Dass die Auseinandersetzung mit der Frage nach den modernen Möglichkeiten und Grenzen der zeichenhaften Bedeutung von Architektur so gründlich ausfiel, hängt mit der anschaulichen Erfahrung dieser Zusammenhänge in der intensiven Begegnung mit der Architektur außereuropäischer Kultur zusammen, die mir mitten in meinem Architekturstudium zuteil wurde. Ich habe 1967/68 ein Jahr lang die hinduistisch und buddhistisch geprägten Länder Süd- und Ostasiens bereisen können und diese Zeit betrachte ich als das prägende Ereignis meiner Studienzeit. Denn die Begegnung mit fremden – und damals in Teilen noch vorindustriell lebenden und wirtschaftenden Kulturen – hat mir sehr eindrücklich die Rolle des künstlerischen Bauens als Sinnstifter und Bedeutungsträger vor Augen geführt.
Meine asiatische Reise begann direkt nach dem Vordiplom an der TU Berlin. Das Grundstudium der Architektur ist ja notwendigerweise ein Paukstudium, das das Gedächtnis mehr herausfordert als den Geist, und man muss sich erst durch die dicke Grießbreimauer aus Baustoffkunde, Baurecht, Gebäudetechnik, Baukonstruktionslehre usw. hindurchfressen, bevor man schließlich im Hauptstudium zur Architektur gelangt. Jedenfalls glaubte ich zu diesem Zeitpunkt, das Studium erst einmal unterbrechen zu müssen, um den Blick wieder für das Wesentliche frei zu bekommen. Zudem hatte ich zusammen mit einem japanischen Freund, den die Familie nach Japan zurückgerufen hatte, um ihn dort zu verheiraten, Reisepläne geschmiedet. Da er es mit der Heirat nicht allzu eilig hatte, überlegten wir, so weit wie möglich auf dem Landweg nach Osten zu reisen, erst von Singapur gab es ein Schiff der französisch-kolonialen Paketbootlinie Messageries Maritimes, die „Cambodge“, die uns in der billigsten Klasse – quasi im Maschinenraum – nach Yokohama bringen sollte.
Als wir aufbrachen, hatten wir nicht die geringste Ahnung, wie und auf welchen Wegen wir dorthin gelangen würden, denn es gab ja noch keine organisierte Ferntouristik außerhalb des eben erst einsetzenden Flugverkehrs. Also fuhren wir mit der Bahn nach Istanbul, dann mit einem Postschiff die Schwarzmeerküste entlang bis Trabzon, schließlich mit lokalen Bussen durch die Osttürkei nach Persien, weiter durch Afghanistan und über den Khaiber-Pass nach Pakistan, schließlich nach Indien.
Das andere Verständnis
Diesen ersten Teil der Reise habe ich noch ganz mit den Augen des jungen Architekturstudenten erlebt, der den beschränkten Ausschnitt der Architektur, den ihm das Grundstudium vermittelt hatte, schon für das Ganze nahm. Meine Reiseskizzenbücher aus diesen ersten Monaten der Reise sind voll von technischen Details, sie zeigen die Wölbsysteme persischer Lehmbauten aus der Gegend von Maschad, Pfosten-Riegel-Konstruktionen von Häusern am Kaspischen Meer, die Rippenkonstruktion der Kuppel der Hauptmoschee von Kabul, die heute zerstört ist (Zeichnung Seite 25), Traufpunkte von newarischen Satteldächern usw. Aber schon bald darauf gab es ganz unerwartete und für mich so prägende Eindrücke, dass sie mein ganzes Verständnis von Architektur gründlich verändern sollten.
Als wir Indien erreichten, brach der Sieben-Tage-Krieg zwischen Israel und Ägypten aus, der Suezkanal war durch gesunkene Schiffe blockiert und wir erhielten die Nachricht, dass die Messageries Maritimes ihren Dienst nach Fernost vorläufig eingestellt hatten. Wir saßen also in Indien fest, und dies mitten im Monsun. Um dem zu entkommen, fuhren wir quer durch den Subkontinent nach Madras, von wo uns ein Schiff nach Penang vor der malaysischen Küste bringen sollte. In Madras angekommen, wurde mir von dem noch ganz kolonial denkenden Beamten der Reederei mitgeteilt, dass mein japanischer Freund als Asiate Decksklasse reisen könnte, ich als Europäer aber eine Kabine zu nehmen habe, so seien nun einmal die Regeln. Da ich dies degoutant fand und ich mir obendrein die Kabine auch nicht leisten konnte, beschlossen wir, auf getrennten Wegen nach Singapur zu reisen, er mit dem Schiff nach Malaysia, ich irgendwie überland, mit der Absicht, uns an Bord der „Cambodge“ wieder zu treffen, sobald die Messageries Maritimes ihren Fernostdienst wieder aufnehmen würden.
So machte ich mich auf den Weg nach Norden, in der Hoffnung auf dem Umweg über Kalkutta, Burma und Thailand nach Singapur zu gelangen. Nach Monaten kam ich dort auch tatsächlich an, wir haben uns auch wie geplant, aber dennoch unerwartet an Bord der „Cambodge“ wieder getroffen und sind dann über Hongkong und die Philippinen nach Japan gefahren. Drei Monate bin ich in Japan geblieben und dann habe ich den ganzen weiten Weg noch einmal zurück gemacht, über Taiwan, die Philippinen und die Sunda-Inseln, Bali, Java und Sumatra, schließlich zurück nach Indien bis nach Afghanistan und am Ende dann – als in Berlin meine Exmatrikulation drohte – mit einem afghanischen Flugzeug nach Taschkent und von dort zurück über Moskau nach Berlin. Der absolute Höhepunkt dieser Reise war ein längerer Aufenthalt in Nepal, insbesondere im Hochtal von Kathmandu – und dort begann ich auch, zum ersten Mal tiefere Einblicke in die architektonische Kultur dieses Landes zu gewinnen.
Stadtkultur
Das Tal von Kathmandu lag zu dieser Zeit noch ganz in einem unwirklichen Dornröschenschlaf, unberührt von den industriellen Zerstörungen und den Verwerfungen einer massenhaften Zuwanderung, die dies alles inzwischen vernichtet hat. Damals lagen die drei Städte des Tales, Kathmandu, Bhaktapur und Patan noch als kompakte städtebauliche Großformen vor der grandiosen Kulisse des Himalaya, als architektonische Stadtkörper, die sich scharf umrissen gegen die Reisterrassen des Umlandes absetzten, sie lagen in der Landschaft ganz ähnlich wie die vorindustriellen Städte Europas auf den Stichen Merians, Hoefnagels oder Braun und Hogenbergs. Mit dem ersten Blick auf die Stadt Kathmandu begriff ich, was für ein großes Privileg es war, diese vorindustrielle Stadtkultur als überaus lebendige Gegenwart mit eigenen Augen sehen und erleben zu dürfen. Die sechziger Jahre waren wohl das letzte Jahrzehnt in der Geschichte, wo man sich noch in einigen wenigen und ganz entlegenen Winkeln der Erde einen lebendigen Begriff davon machen konnte, was die vorindustrielle Stadtkultur des hinduistisch und buddhistisch geprägten Südasiens darstellte – was „Stadt“ überhaupt einmal bedeutet hat.
Denn diese Städte waren nicht nur physisch intakt, sondern auch in ihrem sozio-kulturellen Gefüge. Ein besonders ins Auge fallendes Merkmal dieses Stadttyps war ein entwickeltes Umgangs- und Prozessionswesen, wie es in dieser Form wohl nur in diesem Kulturkreis entstehen konnte: In hunderten von rituellen Umschreitungen wurden diese Städte nach einem festen Kalender, in Übereinstimmung mit den landwirtschaftlichen Produktionszyklen und unter Berücksichtigung bemerkenswerter astronomischer Konstellationen auf kompliziert ineinander gewundenen Wegen umkreist und umgangen. Die Choreographie dieser Rituale lag ebenfalls bis ins Detail fest, wobei ein wohlüberlegter Plan zu erkennen war, der das gesamte Jahr umspannte und sich dabei auf wechselnde topographische Ziele im näheren und weiteren Umland der Stadt bezog.
Schon damals habe ich erste baugeschichtliche Untersuchungen zum Zusammenhang von Stadt und Ritual durchgeführt, zu einem Thema also, das mich später noch sehr viel umfassender auch in der europäischen Baugeschichte beschäftigen sollte. In den Städten des Kathmandutales habe ich zum ersten Mal die kulturelle Bedeutung solcher Stadtrituale verstanden, die vor allem darin liegt, dass sie die räumliche Struktur der Stadt deuten, sie in größere Sinnzusammenhänge einbinden und ihre Geschichte affirmativ in Erinnerung rufen. Dabei spielen insbesondere die Schauplätze historischer oder mythischer Ereignisse in der Topographie des Umlandes eine besondere Rolle, die im Zuge der rituellen Umschreitungen des städtischen Territoriums aufgesucht werden und damit zur Stadt in Beziehung gesetzt werden.
Ulrich Conrads
Aus der Aufarbeitung meiner Begegnung mit der newarischen Stadtkultur ist meine erste Publikation überhaupt hervorgegangen, die 1975 auf Englisch erschien und die Ulrich Conrads 1976 auf Deutsch in der Bauwelt 30.1976 herausbrachte: Die drei Städte im Nepal-Tal – Stadtkultur einer archaischen Welt. Mit dieser Veröffentlichung begann meine jahrzehntelange Verbindung mit dieser Zeitschrift, mit Ulrich Conrads als ihrem Chefredakteur, der mich schließlich 1985 in sein wohl großartigstes publizistisches Unternehmen mit einbezog, in die Herausgeberrunde des „Daidalos“. In beiden Zeitschriften habe ich viele Jahre lang in regelmäßigen Abständen meine kleineren Schriften publiziert. Der Daidalos ging 1998 unter und damit das wichtigste deutschsprachige Forum für eine ganzheitliche Betrachtung von „Architektur. Kunst. Kultur“, wie die Zeitschrift im Untertitel hieß.
In Indien habe ich nicht nur den Typus der Hindu-Stadt kennengelernt, der eben zwei Erscheinungsformen hat – die physische, räumliche und dauerhafte architektonische Struktur und die ephemere, dynamische und zyklische der Stadtrituale – sondern auch den anglo-indischen Siedlungstyp der zwei Jahrhunderte währenden britischen Kolonialherrschaft. Beide Stadttypen stehen räumlich in einem pointierten und kulturell durchaus gewollten Gegensatz zueinander, die Hindustadt ist von jeher architektonisch kompakt, introvertiert und steinern, der koloniale Siedlungstyp dagegen schon seit dem 18. Jahrhundert eigentlich unstädtisch als weitläufige Parklandschaft mit frei stehenden neopalladianischen Bauten angelegt.
VW-Bus
Als ich 1970 mein Architekturstudium beendete, beschloss ich, über dieses Nebeneinander von zwei architektonisch so grundverschiedenen Welten eine Dissertation zu verfassen. Dafür ging ich für drei Jahre nach London, um die Quellenforschung in den Archiven des India Office, des British Museum und der Royal Geographic Society durchzuführen, ich vertiefte auch meine architektur- und kunsthistorischen Studien als Stipendiat des British Council durch ein Aufbaustudium in „Arts and History“ an der Architectural Association und der Londoner Universität, vor allem aber reiste ich noch einmal für ein Jahr nach Indien. Diesmal machte ich die Reise im VW-Bus, durchquerte wieder Persien und Afghanistan, diesmal wiederum auf ganz neuen Routen über den Bolan-Pass und quer durch Belutschistan. Danach fuhr ich kreuz und quer durch Indien, das ich dabei sehr gründlich kennenlernte, von Kashmir bis Kanyakumari besuchte ich die anglo-indischen Stationen mit ihren wie verloren in der indischen Landschaft dastehenden neopalladianischen Architekturen und tropisch überwucherten oder von der Wüste zurückgeholten englischen Landschaftsgärten.
Die Dissertation erschien 1974 unter dem Titel „Die angloindische Station. Hindu-Stadtkultur und Kolonialstadtwesen als Konfrontation östlicher und westlicher Geisteswelten“. Die Arbeit wurde von zwei Wegbereitern der orientalischen Architekturgeschichte begleitet, von Eleanor von Erdberg-Consten (1907–2002), die jahrzehntelang an der Seite des Mongoleiforschers Hermann Consten in China gelebt und geforscht hatte, und von Klaus Fischer (1919–1993), einem der besten Kenner der indischen Baugeschichte und der Erste, der die steinernen Balken- und Plattenkonstruktionen der indischen Architektur erforscht hat. Durch diese Arbeit und auf den damit verbundenen Reisen durch Indien hatte ich natürlich nicht nur das koloniale architektonische Erbe, sondern auch die einheimische indische Stadtkultur gründlich und in ihren wichtigsten regionalen Ausprägungen kennengelernt. Besonders interessierte mich der Typus der Hindu-Pilgerstadt, der durch eine augenfällige Einbeziehung von Natur­elementen in das architektonische Gefüge des Stadtraums gekennzeichnet ist. Diese Verbindung von Natur und Architektur liegt bei diesem Stadttypus nahe, da das Pilgerwesen meistens auf die Verehrung von Erscheinungsorten des Numinosen in der Natur gerichtet ist, auf heilige Berge, Höhlen, Gewässer, Bäume usw. Die indische Architektur hat über die Jahrhunderte hinweg eine unglaubliche Formenvielfalt in der räumlichen Fassung, Darstellung und Überhöhung dieser von der Natur aus numinosen Orte entwickelt. Aus diesen Beobachtungen entstand das Projekt, unter dem typologischen Dach der Hindu-Pilgerstadt den architektonischen Fassungen der Natur in Stadtarchitektur und sakralem Einzelbauwerk eine systematische Studie zu widmen.
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft stattete mich zur Durchführung dieses Vorhabens mit einem Habilitandenstipendium aus, Gottfried Böhm, der meine Forschungsreisen an die Peripherie der Architektur dankenswerterweise immer unterstützt hat, stimmte meiner Beurlaubung als Wissenschaftlicher Mitarbeiter zu, und wieder verbrachte ich fast ein ganzes Jahr 1977/78 in Indien.
Versteinerung mobiler Architektur
Zum Abschluss der Arbeit 1978 war ich zu einem gründlichen Kenner der indischen hinduistischen, buddhistischen und indo-islamischen Architektur geworden. Dabei muss ich sagen – und dies ist fast schon ein Bekenntnis für jemanden, der sich so intensiv mit der architektonischen Kultur dieses Raumes befasst hat –, dass mich die Stilgeschichte der indischen Architektur nie besonders interessiert hat. Ich habe vielmehr immer eine gewisse Distanz zu den stilistischen Eigenarten dieser Architektur gehalten, zu der überbordenden Fülle der Skulptur, zu den wenig tektonisch gedachten Konstruktionen, zur weitgehenden Abwesenheit von großartigen Innenräumen oder gar perspektivischer Raumfluchten, wie sie die großen Epochen der europäischen Baugeschichte kennzeichnen. Was mich aber absolut in den Bann gezogen hat, waren die eigenartigen Grenzüberschreitungen der indischen Architektur, die oft zwischen Skulptur und Architektur hin- und herschwankt, die scheinbare Versteinerungen mobiler Architekturen kennt, die in Stoffwechseln vom Holz zum Stein, von textilen Bekleidungen zu metallischen schwelgt, die sich überhaupt von jeder nur denkbaren Form in eine andere verwandeln kann.
Und ebenso nachhaltig haben mich die Typologien dieser Architektur beschäftigt, die Monolithe, die eingebauten Berge, die künstlichen Höhlen, die architektonischen Fassungen von Wasser, Bäumen und anderen Naturelementen. Auch auf diesem Wege habe ich zu den architektonischen Themen gefunden, die ich über Jahre hinweg in der europäischen Baugeschichte verfolgt habe. Aus meinen Forschungen zu den indischen Stadtritualen ist am Ende mein Buch „Das Labyrinthische“ (1987) hervorgegangen, ein breit angelegter Versuch, die wechselseitigen Beziehungen zwischen der dauerhaften Architektur des Stadtraums und den ephemeren Choreographien der rituellen Umschreitungen in den allgemeinen Zusammenbau von Raum und Bewegung zu stellen, die schon der Labyrinthmythos zum Thema gemacht hat und in den sie architekturtheoretisch hineingehören. Zugleich ging es darum, die architektonische Qualität des Labyrinthischen, die sich ungeachtet ihrer umgangssprachlichen Geläufigkeit einsilbigen Definitionen entzieht, aus einer historischen und kulturvergleichenden Perspektive heraus schärfer zu fassen. Mit dieser Schrift habe ich mich 1983 am Institut für Kunstgeschichte der RWTH Aachen bei Hans Holländer habilitiert.
Renaissance
Zu Beginn der 1980er Jahre habe ich mich schrittweise aus der indischen Baugeschichte zurückgezogen, als mir allmählich zur Gewissheit wurde, dass ich mit einer so exotischen Spezialisierung niemals an einer deutschen Universität Fuß fassen würde. Gleichwohl standen meine indischen Erfahrungen auch bei meinen Forschungen zu unserer eigenen Baugeschichte, vor allem zur italienischen und französischen Renaissance, immer im Hintergrund. Meine erste große Arbeit zu einem Thema der europäischen Baugeschichte war die Monographie zur Renaissance-Idealstadt Pius’ II., „Pienza. Der Entwurf einer humanistischen Weltsicht“. In diesem Buch geht es zunächst um die Baugeschichte und Typologie dieser ungewöhnlichen Stadt, dann aber auch um ihre topischen Besonderheiten: Um die Beziehung des städtischen Binnenraumes zur Landschaft, um die verborgene Geometrie der wie zufällig hingeworfenen Verdrehung der Bauten rings um die Piazza, um den Papstpalast mit seinem hängenden Garten, um die collagenartige Struktur der Kirche und um deren Fassade, die sich mittags an den Äquinoktien als Schatten auf der Streifenteilung der Piazza abbildet (Bauwelt 45.1986).
Meine Forschungen zu Pienza begannen 1978 mit der Entdeckung dieser Schattenprojektion auf der Piazza an dem wichtigsten Schlüsseltermin des Kirchenjahres, dem Frühjahrs-Äquinoktium. Dass ich dieses Schattenbild der Kirchenfassade auf der Piazza überhaupt wahrgenommen habe und auch sofort wusste, dass es sich dabei nicht um eine Laune der Natur handeln kann, sondern nur um eine genau durchdachte und präzis berechnete programmatische Absicht, verdanke ich meinen indischen Erfahrungen. Ich habe im Frühjahr 1978 auf dem Rückweg von Indien in Italien Station gemacht, da ich damals nicht vom subtropischen Kontinentalklima direkt in das kühle Deutschland zurückkehren wollte. Dabei habe ich Pienza besucht, das ich bis dahin nur aus der Literatur kannte, und zufällig kam ich zur Mittagszeit um das Frühjahrs-Äquinoktium auf die Piazza, wo sich gerade der Schatten formierte. Mir war sofort klar, was dies bedeutete, denn ich hatte mich in den vorausgegangenen Monaten mit den Orientationen hinduistischer Tempelanlagen in den indischen Pilgerstädten befasst, und deshalb wusste ich genau, welchen Kalküls es bei der Projektion und welcher Genauigkeit es bei der Ausführung bedarf, wenn das Schauspiel des Äquinoktial-Schattenwurfs so exakt inszeniert werden soll wie auf der Piazza von Pienza.
Als ich diesen Zusammenhang in der Literatur nachlesen wollte, stellte ich fest, dass dieser zentrale Aspekt der Idealstadt Pienza völlig unbekannt war. Ich hatte also eine genuine Entdeckung gemacht, deren Hintergründe es nunmehr auszuloten galt, und dies war der Anfang einer langen Reihe von Forschungsarbeiten zur Baugeschichte der Renaissance.
Unschwer lassen sich darin immer wieder die Themen ausmachen, auf die ich zuerst über die vergleichende Architekturgeschichte gestoßen bin, auf einem Umweg vielleicht, der für mich aber umso sicherer zum Ziel geführt hat.

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