Bauwelt

An den Rand gedrängt

Die Umwandlung sozialer und ökologischer Räume in Kolkata

Text: Dasgupta, Keya, Kolkata

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Zeichnung: Boris Murnig

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Foto: Günter Nest

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An den Rand gedrängt

Die Umwandlung sozialer und ökologischer Räume in Kolkata

Text: Dasgupta, Keya, Kolkata

Obwohl die Innenstadt Kolkatas genügend Raum für Entwicklung bietet, konzentriert sich das Wachstum seit Jahrzehnten in der Peripherie. Auch viele Arme siedelten sich im Umfeld der Wetlands am Ostrand der Stadt an. Seitdem die Bodenpreise für un­bebaute Gebiete rasant steigen, wird die Stadtverwaltung von verschiedenen Seiten dazu gedrängt, dort „radikal durchzugreifen“. Der hier geplante soziale Wohnungsbau erweist sich paradoxerweise nicht nur als Bedrohung für das sensible Ökosystem, sondern auch für die arme Bevölkerung
Seit Beginn der wirtschaftlichen Liberalisierung Indiens im Jahr 1992 vollziehen sich, veranlasst durch eine Reihe von Reformen und durch die Formulierung neuer entwicklungspolitischer Richtlinien, tiefgreifende Veränderungen in den Städten des Landes.
Der Bundesstaat West-Bengalen, in dem Kolkata liegt, wurde 40 Jahre lang durch eine Koalition der Linksfront regiert, die in diesem Jahr die politische Macht verlor. Gegen die liberalen wirtschaftspolitischen Reformen der Zentralregierung hat diese Koalition aber nie Widerstand geleistet, im Gegenteil. Beispielhaft dafür ist die „Vision 2025“, der 2001 verabschiedete Plan für die Metropolregion Kolkata, in dem die landesweite Reformagenda mitgetragen und dem Privatsektor eine wichtige Rolle bei der Finanzierung der Entwicklung zugewiesen wird, während der Staat seine traditionellen regulierenden und versorgenden Funktionen reduziert und nur noch als Vermittler auftritt. Eine Flut von Entwicklungsprojekten nationaler wie internationaler Organisationen prägte nach der Liberalisierung die Struktur des Stadtmanagements in Kolkata. Mit ihrer Durchführung wurden lokale Institutionen betraut, die ihre Entscheidungen unabhängig voneinander, manchmal sogar gegeneinander trafen.
Ein solch segmentiertes städtisches Management erinnert an die Situation in Dhaka, wo 42 Stellen unter 22 Ministerien die Stadtentwicklung „leiten“. Hier wie dort hat die politische Instrumentalisierung der Projekte zu einer Stagnation geführt, die ihrerseits wiederum unkontrolliertes und unkoordiniertes Wachstum verursacht. Charakteristisch für Kolkata jedoch ist, dass dieses Wachstum die Kernstadt ignorierte, obwohl sie genügend Spielraum und Standorte für Entwicklung und Investionen bot, und sich von Anfang an auf die Peripherie konzentrierte.
Die Flucht der Stadt vor dem Fluss
In „Vision 2025“ ist zu lesen, dass Kolkatas „neues Wachstum hauptsächlich außerhalb der Metropolregion kanalisiert werden soll“. Diese Maxime ist nicht etwa die Frucht reiflicher Überlegungen über geeignete Entwicklungsmodelle – die z.B. zur Entlastung der Kernregionen den Ausbau eines Netzwerks kleinerer Städte und ein lineares Wachstum unterstützen, im Gegensatz zu Modellen, die kompakte Städte befürworten –, sondern sie akzeptiert einfach einen Status quo, der sich nach der Unabhängigkeit in Kolkata ergeben hat. Seit 1951 hat sich das Bevölkerungswachstum in den Kernbezirken verlangsamt, während sich die Stadt gleichzeitig in alle Richtungen ausbreitete. Sie kehrte sich von dem alten Stadtkern am ungenutzten Flussufer des Hugli, dessen Potenzial nicht erkannt wurde, ab und suchte nach lohnenderen, bislang unbebauten Entwicklungsräumen. So wurde zum Beispiel in den siebziger Jahren die Reißbrettstadt „Salt Lake City“ im Nordosten angelegt, ergänzt vom „Eastern Metropolitan Bypass“, einer Straße, die Salt Lake City mit dem Flughafen im Norden verbindet. Da diese Verbindung gut funktionierte, konzentrierten sich nach der Wirtschaftsreform die meisten Privatinvestitionen auf die östliche Peripherie. Siedlungen für die Mittel- und obere Mittelschicht, Einkaufszentren und private Krankenhäuser verdrängten bald die zahlreichen illegalen Siedlungen der Armen.
In den sechziger Jahren wurde das gesamte West-Bengalen von gewalttätigen Unruhen erschüttert. Trotzdem blieb das über die Jahre entwickelte industrielle und kommerzielle Netzwerk in und um Kolkata auch in den Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit ein Magnet für Zuwanderer aus den infrastrukturärmeren benachbarten Bundesländern. Bis zu den siebziger Jahren hatten sich die unzähligen Zuwanderer in Kolkata in Slumsiedlungen, sogenannten „Bustees“, angesiedelt, vor allem im Kerngebiet der Stadt oder in deren unmittelbarer Umgebung. Diese wurden legalisiert und, nachdem die Linksfront an die Macht gekommen war, auch zunehmend mit Strom und Wasser versorgt. Doch infolge Platzmangels blieb der zweiten und dritten Zuwanderergeneration wiederum nichts anderes übrig, als die schmale Schwelle zwischen tolerierter und illegaler Inbesitznahme zu überschreiten und „pavement dwellers“ („Straßenrandbewohner“) zu werden oder als „Squatter“ ungenutztes Land zu besetzen.
Auf diese Weise sind im Laufe der letzten drei bis vier Jahrzehnte entlang der Peripherie von Kolkata illegale Squatter-Siedlungen entstanden, auf Randgeländen, an Kanälen, an Eisenbahngleisen und an Bürgersteigen. Bauprojekte, die in dieser Peripherie durchgeführt werden, nutzen den illegalen Status der Siedlungen, um sie zu vertreiben. Gegenwärtig wird die Stadtverwaltung von Kolkata, die Kolkata Municipal Corporation, von verschiedenen Seiten gedrängt, „radikal durchzugreifen“ – sprich, die überfüllten Siedlungen und Slums der Armen und Niedrigverdienenden am Bypass zu beseitigen, um Platz für „Sanierung“ und Erschließung zu schaffen. Grund dafür sind auch die rasant gestiegenen Bodenpreise. Ein Kottah (lokale Maßeinheit, ca. 67 m2) Land neben dem Eastern Metropolitan Bypass kostet derzeit 10 Millionen Rupien (etwa 145.000 Euro).
Kolkatas östliche Peripherie: heftig umstrittener Standort der Entwicklung
Neben den Konflikten und gesellschaftlichen Spannungen die mit der Enteignung und Umsiedlung der armen Bevölkerung entlang des Eastern Metropolitan Bypass einhergehen, gibt es auch große ökologische Probleme. Alle erwähnten Projekte entstehen in unmittelbarer Nachbarschaft der East Kolkata Wetlands und in zunehmendem Maße auch direkt darauf. Wetlands sind besondere Feuchtgebiete, halb Land, halb aquatisches System mit niedrigen Wasserständen. Sie sind ein wesentlicher Bestandteil des Ganges-Deltas und über die Tieflandgebiete von ganz Bengalen verteilt. Dhaka zum Beispiel war früher sowohl im Osten als auch im Westen von Wetlands umgeben. Salzwasserseen und Sümpfe, entstanden durch frühere Einbrüche von Gezeitenströmungen aus der Bucht von Bengalen, kennzeichnen dieses Ökosystem. Die starke Sonneneinwirkung fördert das Wachstum von Algen und Plankton, die als natürliche Reiniger des Wassers fungieren. Bis heute wird ein Drittel der Abwässer der Megastadt in den East Kolkata Wetlands auf natürliche Weise gefiltert. Algen und Plankton liefern auch Nahrung für die Fischzucht, zudem wird das Wasser für den nahegelegenen Reis- und Gemüseanbau verwendet. Kurz, die Wetlands stellen ein einzigartiges Beispiel für lokal angepasste funktionale Nutzungen dar, die Arbeitsplätze für 20.000 bis 40.000 Menschen schaffen.
Eine Entscheidung des Obersten Gerichts verbietet weitere Baumaßnahmen in dieser kostbaren Landschaft. Seit 2002 werden die East Kolkata Wetlands als ein Feuchtgebiet von internationaler Bedeutung von der Ramsar Convention on Wetlands geführt. Deren Unterzeichnerstaaten verpflichten sich, diese Gebiete zu erhalten. Ungeachtet dessen gab es im Jahr 2006 Zuschüttungen entlang des Bypass, und entgegen aller Gesetze und Richtlinien ist die Überbauung, angestachelt durch immer neue Public Private Partnerships, nach wie vor im Gange. Die kontroversen Debatten über den grundsätzlichen politischen Standpunkt, den der Staat hier beziehen soll – radikaler Baustop, Befürwortung einer kon­trollierten Entwicklung oder gar die Freigabe des Gebiets für die bauliche Erschließung mangels Alternativen für das notwendige städtische Wachstum – blieben bisher ergebnislos.
Städtische Erneuerung unter staatlicher Kontrolle?
In dieses komplexe Szenario mischt sich jetzt auch noch ein großes Projekt der Zentralregierung aus Delhi ein, das mit öffentlichen Geldern finanziert wird. Mit der „Jawaharlal Nehru National Urban Renewal Mission“ (JNNURM), einem Programm zur Stadterneuerung, das in der Anfangsphase 63 ausgewählten Städten 125 Milliarden Rupien (ca. zwei Milliarden Euro) zur Verfügung stellt, wurde eines von Indiens ehrgeizigsten Programmen innerhalb der Stadtreformagenda gestartet. Es umfasst zwei getrennte Auftragsbereiche, das UIG-Programm (Urban Infrastructure and Governance) und das BSUP-Programm (Basic Services to the Urban Poor), wobei das erste den Hauptanteil der Gelder beansprucht. Dem Programm liegt, wie viele Beobachter kritisch angemerkt haben, die Annahme zugrunde, dass Städte gegenwärtig die notwendigen Mittel zur Deckung ihres wachsenden Bedarfs nur ungenügend bereitstellen und auch beim Stadtmanagement Defizite vorliegen. Daher soll ihnen jetzt mit Finanzspritzen geholfen werden, ihre Infrastrukturmängel zu beheben – unter der Bedingung, dass sie ihre Regie­rungsführung strukturell reformieren und sie effizienter gestalten. Mit anderen Worten, Reformen im städtischen Sektor sollen jetzt an wirtschaftliche Reformen gekoppelt sein.
Damit ist die JNNURM keineswegs ein Einzelfall. Sie fügte sich nahtlos in den zehnten Fünfjahresplan (2002–2007) der Zentralregierung ein, der Wohnungsbau, Slumsanierung, Umweltverbesserung und Strukturreformen mit kommerziellem Gewinn verknüpft. Der gegenwärtig laufende Fünfjahresplan verfolgt diese Entwicklungsstrategie weiter. Zum ersten Mal in Indiens Planungsgeschichte, die stets dem Prinzip der Funktionstrennung von Zentralregierung und Bundesstaatsregierungen verpflichtet war – wobei erstere makro-ökonomische Richtlinien festlegte und letztere für die Umsetzung verantwortlich waren –, sind jetzt Zuschüsse vom Staat an teils fakultative, teils obligatorische Reformen auf lokaler Ebene gebunden.
Paradoxien der Formalisierung
Für die Umsetzung der BSUP-Projekte der JNNURM in Kolkata wählte die Stadtverwaltung eine Anzahl großer und dichtbesiedelter Slums, insbesondere in den östlichen Randgebieten, aus. Die aktuellen Sanierungsmaßnahmen bestehen hauptsächlich darin, die Siedlungen abzureißen. Anstelle der in der Regel einstöckigen Gebäude sollen mehrstöckige Wohnhäuser errichtet werden, wobei Areale, die bei dieser Sanierung übrig bleiben, für Infrastruktur genutzt werden. Von diesem „Umbau“ sind dann aber wieder vor allem die Bewohner betroffen, die ihr informelles Gewerbe auf der Straße betreiben, wie zum Beispiel Verkäufer mit ihren Karren oder Lumpensammler, für die es nach der Sanierung keinen Platz mehr geben wird.
Man könnte zahlreiche Fälle in Kolkata und in den meisten anderen Metropolen Indiens anführen, wo arme Zuwanderer sich im Verlauf der letzten vier oder fünf Jahrzehnte auf staatlichem Land niederließen und sogar in den Genuss von Grundversorgung und Wahlrecht kamen, als Teil der damals noch vorherrschenden Wohlfahrtsmentalität. Solche Szenarien gehören heute meist der Vergangenheit an. Stattdessen verfolgt man Programme, die im Gewand von „Entwicklung“ daherkommen, die Menschen tatsächlich aber ausgrenzen. Paradoxerweise wird hier die Legalisierung der illegalen Wohnverhältnisse – ein Ziel, das der Staat mit der JNNURM anstrebte – zur Bedrohung für eine besonders verletzliche Gruppe der Gesellschaft. Es fehlt der politische Wille, diese in irgendeiner Form an der Entwicklung teilhaben zu lassen.
Die Umsetzung des Programms gibt Anlass zu ernster Sorge. In Kolkata wurde noch keines der Verfahren in Gang gesetzt, die das BSUP-Programm eigentlich vorsieht. An den meisten Standorten wurden die betroffenen Bewohner weder darüber informiert, was das Sanierungsprojekt beinhaltet, noch wurden sie in die Planung einbezogen. Und nur wer eine Besitzurkunde vorweisen kann, kommt für eine Umsiedlung in Betracht. Alle anderen Siedlungsbewohner sind vom Programm ausgeschlossen. Von denjenigen, die in Miet-Wohnungen umgesiedelt werden, erwartet man, dass sie in Zukunft die Nebenkosten selber tragen. Das können oder wollen viele nicht – bislang wurde die Grundversorgung von der Stadt gebührenfrei bereitgestellt.
Ein weiteres Problem stellen die Vereinbarungen dar, die mit den zukünftigen Mietern geschlossen werden. In den meisten Fällen werden Wohnungen nur langfristig vermietet, wenn der Mieter einen Teil der Baukosten übernimmt, ohne aber irgendwelche Eigentumsrechte zu erwerben. Derlei Rechtsunsicherheit ist möglich, weil bis dato weder die Zen­tralregierung noch die Regierung des Bundesstaates die gesetzlichen Instrumente für eine Umsiedlungs- und Rehabilitierungspolitik geschaffen hat. Und genau hier stellt sich die eigentliche Frage, der alle aus dem Weg gehen: Wenn man das Thema Grundbesitz – der im übrigen als einer der Rechtsansprüche im BSUP aufgeführt wird – nicht regelt, wird die arme Stadtbevölkerung weiterhin von menschenwürdigen Wohnbedingungen ausgeschlossen bleiben.
Eine neue Politik des Raumes bahnt sich an
Allerdings ergreifen die Bürger in letzter Zeit zunehmend selbst die Initiative. Intellektuelle widmen sich in Buchveröffentlichungen und in lebhaften öffentlichen Debatten dem Thema. Und auch an der Basis wächst die kritische Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der offiziellen Pläne. Ein Beispiel dafür ist die etwa 61.000 Quadratmeter große Siedlung Hatgachhia I. Sie liegt in der Nähe des Eastern Metropolitan Bypass und grenzt an ein Gebiet mit hohen Bodenpreisen, auf dem mehrere Hotels, luxuriöse Apartmentblocks und die Science City (ein permanentes Ausstellungsgelände) stehen. Weitere Projekte sind hier in Planung. Hatgachhia I wurde im BSUP-Programm für die erste Sanierungsphase vorgemerkt. Die ehemaligen Besiedler, in der Mehrzahl Bauern, geben an, sie hätten bereits vor vierzig Jahren Parzellen zum Hausbau und Land zum Anbau gekauft. Sie kontern die Eigentumsansprüche der Stadt auf die besagten Grundstücke mit der Vorlage ihrer Steuerformulare und wehren sich so gegen die Sanierung. Eines der Bewohnerkollektive, das Hatgachhia Bustee Unnayan Committee, protestiert bereits seit Jahren. Inzwischen hat die Stadtverwaltung die Grundversorgung gekappt. Bewohner des benachbarten Gebiets, die mit dem Versprechen auf Umsiedlung ihre Wohnungen hatten räumen müssen, sind mittlerweile vor Gericht gezogen. Es gab außergerichtliche Einigungen, mehr und mehr NGOs und zivilgesellschaftliche Gruppen engagieren sich heute für Hatgachhia I.
Ähnliche Bewegungen – oft sehr lokal, ungeplant, unstrukturiert und spontan – gibt es in anderen Teilen der Stadt, aber auch in ganz West-Bengalen. Immer größere Teile der Bevölkerung fordern gegenüber der offizielle Politik ihr Recht auf Stadtraum ein. Eine Politik neuen Stils zeichnet sich hier ab, in der sich parteilich nicht gebundene Gruppen, Vereinigungen und Initiativen Betroffener mit Unterstützung von Mitgliedern der Zivilgesellschaft zusammentun und wirkungsvollen Widerstand leisten – und zwar ohne die Beteiligung der traditionellen Protagonisten politischer Repräsentation, die politischen Parteien und Gewerkschaften, und manchmal sogar in Opposition zu ihnen. 

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