Bauwelt

100 Jahre Überformung

Istanbul 1910–2010

Text: Bartels, Olaf, Hamburg

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Cemal Emden

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Cemal Emden


100 Jahre Überformung

Istanbul 1910–2010

Text: Bartels, Olaf, Hamburg

Die drei Ebenen des Zentrums für zeitgenössische Kunst auf dem Gelände von „Santralinstanbul“ sind prall gefüllt mit Fotos, Texten, Plänen, Modellen und Videopräsentationen zur Stadtentwicklungs- und Architekturgeschichte Istanbuls der letzten hundert Jahre.
Das Ausstellungsgebäude (Architekten: Nevzat Sayın und Emre Arolat), das vor zwei Jahren gemeinsam mit einem Energiemuseum und dem neuen Campus für die Bilgi-Universität auf dem Areal eines alten Kraftwerks eröffnet wurde, ist selbst ein anschauliches Beispiel für „Istanbul 1910–2010“. Das Kraftwerk hat 1910 seinen Betrieb aufgenommen und bis in die 80er Jahre große Teile Istanbuls mit Strom versorgt. Zur Bauzeit lag es außerhalb der Stadt. Heute ist es ein wichtiges Kultur- und Bildungs­zentrum im Stadtteil Alibeyköy, der längst nicht mehr am Rand von Istanbul liegt.
Ein Kuratorenteam von Professoren der Architekturfakultät hat die Ausstellung unter der Leitung von Dekan Ihsan Bilgin konzipiert. Sie beschreibt, in vier Zeitabschnitte gegliedert, die Entwicklung Istanbuls als eine der beständigen Überformung und des zeitweise immensen Wachstums. 1910 bis 1930 erlebt die Stadt den Zerfall des Osmanischen Reiches und schließlich die Gründung der Türkischen Republik. Zwischen 1930 und 1950 sinkt die Bedeutung der Stadt: Ankara ist die neue Hauptstadt der Tür­kei, Istanbul verliert wichtige Regierungsinstitutionen und Unternehmenszentralen. Die Ausgrenzung und Vertreibung nichtmuslimischer Bewohner führt zum Leerstand ganzer Stadtviertel. Gleichzeitig entsteht mit neuen Theatern, großen öffentlichen Plätzen, Boulevards und Parks das republikanische Istanbul. Die Zeit von 1950 bis 1983 ist von ungeheurer Dynamik bestimmt. Es ist die Phase der industriellen Entwicklung in der Türkei. Istanbuls Einwohnerzahl explodiert geradezu. Die Zuwanderer können auf herkömmlichen Wegen, seien sie genossenschaftlich, staatlich oder privat organisiert, nicht mehr mit Wohnraum versorgt werden. Die in Selbsthilfe errichteten Gecekondular haben Hochkonjunktur. Die Stadt entwickelt sich in dieser Zeit weitgehend ohne Architekten und Stadtplaner. Der letzten Abschnitt der Schau (1983 bis heute) schließlich zeigt eine Stadtentwicklung, die unter den Druck der Globalisierung geraten ist – einen Druck, den nicht zuletzt der heutige türkische Ministerpräsident und frühe­re Istanbuler Bürgermeister, Recep Tayyip Erdoğan, mit seiner wirtschaftlichen Öffnungspolitik und durchgreifenden Enteignungsgesetzgebung aktiv unterstützt. Die Stadt befindet sich erneut inmitten eines enormen Umwälzungsprozesses, für den die Stadtverwaltung mit ihrem eigens gegründeten Planungsbüro diesmal allerdings die Leitlinien vorgibt.
Als einer der für die übergreifenden Themen zuständigen Kuratoren hat Murat Güvenç in jahrelanger Recherche geografische, ökonomische und soziale Daten zusammengetragen, die in der Ausstellung auf elektronisch erstellten Stadtkarten interaktiv präsentiert werden. Aus altem Kartenmaterial hat er zudem ein anschauliches Modell der Stadt in der Zeit zwischen den Weltkriegen anfertigen lassen. So begleitet er die Entwicklung der letzten hundert Jahre quasi mit geschichtlichen Längsschnitten und mit Tiefenbohrungen.
Die Ausstellung beleuchtet nicht nur einen enormen Zeitraum, sondern zeigt auch die Vielschichtigkeit der Stadtentwicklung auf. Die Kuratoren haben von der Planungs- und Architekturgeschichte mit ihren gesellschaftlichen, politischen und ökonomi­schen Hintergründen bis in das alltägliche Leben der Stadtbewohner hinein geforscht. Eine ungeheure Dichte an Informationen wird präsentiert, die der Besucher allerdings mit entsprechendem Leseaufwand bewältigen muss. „Istanbul 1910–2010“ soll den Grundstock für ein von der Stadtverwaltung geplantes Stadtmuseum bilden.

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