Bauwelt

Die neue Landlust ist elitärer als die Suburbanisie­rung der Siebziger

Wächst die Bevöl­kerung im ländlichen Raum wieder? Und wer kommt da? Tim Rieniets, Mit­herausgeber des Atlas der schrumpfenden Städte, blickt mit uns auf die aktuellen Wanderungsbewegungen.

Text: Crone, Benedikt; Stumm, Alexander, Berlin

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    Tim Rieniets ist Professor für Stadt- und Raumentwicklung in einer diversifizierten Gesellschaft an der Leibniz Universität Hannover.
    Foto: Julian Martitz

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    Tim Rieniets ist Professor für Stadt- und Raumentwicklung in einer diversifizierten Gesellschaft an der Leibniz Universität Hannover.

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    Wie Filmstills alltäglicher Situationen der Vorstadt wirken die Bilder Night­gardeners des belgischen Künstlers Jan Pypers und evozieren zugleich die Frage, was als nächstes passieren wird.
    Foto: Jan Pypers

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    Pypers arbeitet mit maßstabs­­ge­treuen Modellen und be­arbeitet die Fotogra­fien anschließend digital.
    Foto: Jan Pypers

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    Pypers arbeitet mit maßstabs­­ge­treuen Modellen und be­arbeitet die Fotogra­fien anschließend digital.

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Die neue Landlust ist elitärer als die Suburbanisie­rung der Siebziger

Wächst die Bevöl­kerung im ländlichen Raum wieder? Und wer kommt da? Tim Rieniets, Mit­herausgeber des Atlas der schrumpfenden Städte, blickt mit uns auf die aktuellen Wanderungsbewegungen.

Text: Crone, Benedikt; Stumm, Alexander, Berlin

Sie haben sich in den 2000er Jahren an einem Forschungsprojekt des Architekturtheoretikers Philipp Oswalt zu schrumpfenden Städten beteiligt. Was versprachen Sie sich von dem Blick auf Orte, die an Bevölkerung verlieren?
Tim Rieniets: Wir haben uns schrumpfende Städte auf der ganzen Welt und zu verschiedenen Zeiten angesehen. Das sollte helfen, in der damaligen Debatte um die schrumpfenden Städte in Ostdeutschland darzulegen, dass es sich hierbei nicht um ein historisches Novum handelte. Wir konnten zeigen, dass schrumpfende Städte in allen Epochen und allen Weltregionen existiert haben. Aber die Ursachen für die Bevölkerungsverluste waren durchaus unterschiedlich. Auch die Umstände, die nach der Wiedervereinigung dazu geführt haben, dass viele Städte in Ostdeutschland über 20 Prozent ihrer Einwohner verloren haben, waren einmalig.

Welche Ursachen für das Schrumpfen gab und gibt es?
In Ostdeutschland ereignete sich damals ein erdrutschartiger Wegzug von Teilen der Bevölkerung in den Westen. Das hat das demografische Geschehen für viele Jahre dominiert. Aber daneben gab es noch andere Trends, die im Osten wie im Westen die Schrumpfung von Städten zur Folge hatten. Zum Beispiel die Suburbanisierung, die in Westdeutschland schon seit den 1970ern den Wegzug substanzieller Bevölkerungsteile aus den Kernstädten zur Folge hatte. Oder der Strukturwandel, der im Saarland und im Ruhrgebiet zu demografischen Verwerfungen führte. Außerdem gab es in Deutschland, wie in vielen anderen Industrienationen, Sterbeüberschüsse. Wo das nicht durch Zuwanderung kompensiert werden kann, kommt es zu Bevölkerungsrückgängen. Alles in allem konnten wir feststellen, dass das 20. Jahrhundert nicht, wie es immer kolportiert wird, nur von Wachstum dominiert war. Das 20. Jahrhundert war auch eine Zeit inten­siver Schrumpfungsprozesse. Denn das Wachstum, das die aufstrebenden Industrienationen erlebten, ist ja nicht nur durch Geburten oder Zuwanderung zu erklären, sondern auch durch interne Wanderungsbewegungen. Zum Beispiel haben Menschen ländliche Räume verlassen, um in die wachsenden Städte zu ziehen und dabei schrumpfende Dörfer zurückgelassen.
In Ihrer Arbeit wird ein ambivalentes Bild des Schrumpfens gezeichnet, es wurde nicht per se negativ dargestellt. Auch Chancen sollten Leerstand und Wegzug bieten – was fast nach einem Euphemismus damaliger Stadtplaner und Politiker klingt. Wie definieren Sie schrumpfende Städte? Allein über Bevölkerungsrückgang?

Wir haben zunächst demografische Zahlen als Indikator genutzt, aber auch andere Faktoren betrachtet, wie Leerstände oder Veränderungen in den Altersstrukturen. Unser Ziel war aber nicht, das demografische Geschehen zu erklären. Wir wollten vor allem neue Perspektiven auf das Phänomen der Schrumpfung anbieten, denn die politische Debatte war damals sehr technokratisch: Der Immobilienmarkt in Ostdeutschland sollte durch den Abriss großer Wohnungsbestände bereinigt werden – das war’s! Das erschien uns aber nicht ausreichend, um der Situation gerecht werden zu können. Denn wie wir zeigen konnten, zeichnen sich schrumpfende Städte nicht nur durch Bevölkerungsverluste und Leerstände aus, in schrumpfenden Städten kann eine ganz eigene Form von Urbanität und kultureller Produktion entstehen. Gerade durch die Freiräume, die heute in den meisten Großstädten längst verschwunden sind.
Leerstände wecken unweigerlich Assoziationen an die Dynamik der damalig Musik- und Kreativszene. Man denke nur an Detroit oder Liverpool.
Absolut! Auch das heutige Berlin mit seiner ausgedehnten Club- und Partyszene wäre ohne die vielen Leerstände, die es dort nach der Wiedervereinigung gab, undenkbar. Aber Leerstand allein macht noch keine Kultur. Eine Stadt muss auch groß genug sein, damit Angebot und Nachfrage entstehen können. In einer ländlichen Gemeinde, wo man nur begrenzt Austausch pflegen kann, ist nicht zu erwarten, dass ein Leerstand große Innovationen hervorbringt.
Die Studie des Berlin Instituts, die wir eingangs dieser Ausgabe wiedergeben, spricht von einer neuen Landlust, einem Wegzug aus Großstädten in die Peripherie und aufs Land. Erkennen Sie ebenfalls eine solche Trendumkehr?
Die in der Studie publizierten Zahlen belegen, dass Wanderungsbewegungen tatsächlich in eine andere Richtung gehen als noch vor zehn Jahren. Aber es handelt sich um moderate Bewegungen, die sich im niedrigen Prozent- oder sogar Promillebereich befinden. Ein paar hundert oder tausend Menschen mehr, die heute von einer großen Stadt aufs Land ziehen, haben keine spürbaren Effekte auf den Immobilienmarkt oder auf die überlasteten Infrastrukturen. Aber umgekehrt kann der Zuzug von 50 oder 100 Menschen in ein kleines Dorf erhebliche Auswirkungen haben. Das bleibt im Stadtbild und im Dorfleben nicht ohne Folgen.
Ob es sich dabei um einen anhaltenden Trend handelt, lässt sich aber noch nicht sagen. Zunächst müssen wir besser verstehen, welche Auswirkungen die Corona-Pandemie auf das Wanderungsverhalten der Menschen hatte. Womöglich haben gewisse Ängste in den vergangenen zweieinhalb Jahren dazu geführt, dass Menschen vermehrt aus den Städten raus wollten, aber auch nicht den Sprung ins Ausland gewagt haben. Es hat auch mentale Gründe gegeben, die zu einem Rückzug ins Private geführt haben. Die Menschen mussten während der Corona-Krise ja nicht nur ihr Mobilitätsverhalten anpassen, sie haben auch ihr Lebensgefühl angepasst. Man konnte eine gewisse biedermeierliche Rückbesinnung auf Haus und Familie beobachten, die meiner Meinung nach bis heute Einfluss auf das Wohn- und Wanderungsverhalten der Leute hat. Alles in allem glaube ich aber, dass sich die neue Landlust weniger in der Realität abbildet als im Zeitgeist. Das Land war in den vergangenen Jahren ein beliebtes Sujet in der deutschen Literatur und auch im Film. Dazu kommt der anhaltende Erfolg von Zeitschriften wie Landlust und Landliebe. Und auch die Nachhaltigkeitsdebatte mag ihren Anteil daran haben, dass die Sehnsucht nach einem naturnahen Leben gestiegen ist.
De facto wollen wieder mehr Menschen aus der Innenstadt in ländliche Räume ziehen.

Seit der industriellen Transformation tragen wir eine romantische Sehnsucht nach ländlichen Lebensverhältnissen in uns. Das lässt sich damit erklären, dass wir die Widersprüche, die diese tiefgreifende Transformation hervorgerufen hat, bis heute nicht auflösen konnten. Vor der Industrialisierung lebten 80 Prozent der Menschen in ländlichen Gemeinden und 20 Prozent in Städten, ein Jahrhundert später war es umgekehrt. Unser Kulturgut ist aber noch voller Bezüge zur vorindustriellen Zeit – egal ob in Märchen und Geschichten, in der Volksmusik, im Brauchtum oder in Freizeitaktivitäten wie Gärtnern, Wandern oder Haustierhaltung. Darum ist unser Werteverständnis so stark durch solche vorindus­triell-ländlichen Bilder geprägt, aber die Lebenswirklichkeit der meisten Menschen ist modern-städtisch. Dieser Zwiespalt mag erklären, warum eine Mehrheit der Deutschen vom Landleben träumt, aber trotzdem in Städten lebt. Jetzt ist zu dieser alten Landlust noch eine Stadtmüdigkeit hinzugekommen. Wegen Corona, wegen des angespannten Wohnungsmarktes und wegen der hohen Lebenshaltungskosten. Gleichzeitig haben wir während Corona eine Normalisierung des mobilen Arbeitens erlebt. Außerdem waren die Bauzinsen niedriger und es gab staatliche Anreize wie das Baukindergeld.
Ist es nicht eine begrüßenswerte Entwicklung, wenn sich Menschen wieder über das Land, in zuvor schrumpfende Kleinstädte und Dörfer verteilen?

Ich finde das zunächst im jetzigen Ausmaß völlig unproblematisch. Die meisten Großstädte werden den Wegzug aus der Innenstadt kaum spüren. Und wenn doch, dann zu ihrem Vorteil, weil er zur Entlastung der Immobilienmärkte und Infrastrukturen beiträgt. Auch dass die ländlichen Kommunen eine Art Vitalitätspritze bekommen, finde ich begrüßenswert. Wenn der Zuzug dazu beiträgt, dass ländliche Baukultur erhalten wird, oder dass die vermeintlichen Gegensätze zwischen Städtern und Landbewohnern entschärft werden, ist das eine gute Sache. Aber man sollte genau hinschauen, welche sozialen und ökolo­gischen Folgen das haben kann: Wenn nämlich neues Bauland ausgewiesen wird und mehr Pendlerverkehr entsteht, dann wäre das neue Landleben alles andere als nachhaltig!

Müssten gegen solche Folgeerscheinungen politische Maßnahmen ergriffen und Vorgaben aufgestellt werden?

Spätestens seitdem es der Grünen-Politiker Anton Hofreiter gewagt hat, das Einfamilienhaus in Frage zu stellen, wissen wir, dass man als Politiker oder Politikerin vorsichtig sein muss, wenn man sich gegen den hohen Flächenverbrauch oder den Pendlerverkehr ausspricht. Aber in der Sache ist das richtig: Wir dürfen unter den heu­tigen Bedingungen nicht mehr die Fehler wiederholen, die wir seit den 1970er Jahren mit ungebremster Baulandausweisung, Eigenheimzulage und Pendlerpauschale gemacht haben.

Die Wanderungszahlen der letzten Jahre zeigen, dass vor allem deutsche Staatsbürger aus der Innenstadt ins Umland und auf die Dörfer ziehen. Menschen, die aus dem Ausland zu uns kommen, ziehen dagegen weiterhin in die Innenstädte. Stehen wir vor einer verstärkten ethnischen Segregation der Gesellschaft zwischen Land und Stadt – ähnlich den Zuständen in der US-Metropole Detroit?

Bei uns gab es vergleichbare Entwicklungen, nur waren die nie so extrem wie in Detroit, wo es zu ethnischen Ausschreitungen und zum so genannten „White Flight“ kam, also der Flucht der weißen Mittelschicht aus den ethnisch gemischten Stadtteilen in die Suburbs. Auch bei uns zieht die weiße Mittelschicht seit den 1970ern in die Vororte. Flüchtlinge und ärmere Menschen mit Migrationshintergrund blieben mehrheitlich in den Städten. Die neue Landlust folgt da dem gleichen Muster. Ich muss mir nur meine Heimat ansehen, das Ruhrgebiet, das noch immer unter den Folgen des Strukturwandels leidet: Dort gibt es Menschen, die früher durch körperliche Arbeit Geld verdienen und sich einen sozialen Aufstieg ermöglichen konnten. Diese Menschen haben nun keine Arbeit mehr, aber klemmen sich auch nicht den Laptop unter den Arm und ziehen aufs Land. Denen fehlt es dafür an Kompetenzen und Mobilität. Das muss man sich klar machen: Die neue Landlust hat nichts mit ländlicher Einfachheit zu tun. Diejenigen, die diesen Schritt heute gehen, sind in der Regel hochqualifiziert, gut vernetzt und sehr mobil. In diesem Sinne ist die neue Landlust noch viel elitärer als es die Suburbanisierung der 1970er Jahre war.
Blickt man unter den Umzugswilligen auf die Gruppe, die auf dem Land alte Bauernhöfe und Wirtshäuser zu ihrem neuen Wohnsitz oder als Arbeitsstätte einer bisher eher großstäd­ti­schen Tätigkeit umbaut, findet sich die perfekte Verschränkung aus Stadt und Land. Diese Verschränkung erfolgt allerdings nicht so, wie es die Moderne beispielsweise in Form der Gartenstadt eines Ebenezer Howard einst sich gewünscht hatte. Sie passiert viel mehr informell und ungeplant, ohne einen größeren, städtebaulichen Ausdruck.
Die Menschen, die nun in Feuilletons als neue Pioniere des Landlebens porträtiert werden, haben alle durch und durch städtische Biografien. Sie gehen großstädtischen Berufen nach, sind Webdesigner, Berater oder Schriftstellerin. Sie pflegen urbane Netzwerke und haben ein städ­tisches Wahlverhalten. Ich würde so weit gehen zu sagen: Sie sind Städter geblieben, haben aber ihren Lebensmittelpunkt in den ländlichen Raum verlegt. Ihren urbanen Lebensstil können sie dort dank Auto und WLAN aufrechterhalten. Einen städtebaulichen Ausdruck hat die neue Landlust aber nicht. Zum einen, weil es sich dabei um einen sehr überschaubaren Trend handelt, der nicht im Entferntesten an das heranreicht, was die Suburbanisierung an baulicher Dynamik entfacht hat. Zum anderen, weil es Teil dieses Trends ist, ländliche Altbestände zu sanieren.
Sehen Sie dabei zumindest die potenzielle Möglichkeit, dass sich die lokalen Wahlergebnisse, die sich derzeit sehr zwischen links-grüner Innenstadt und bürgerlich-konservativer Provinz aufspalten, wieder etwas annähern und vermischen?
Das glaube ich nicht. Man müsste zunächst einmal untersuchen, wo genau die Menschen aus dem urbanen Milieu hinziehen. Ich nehme an, die werden genau hinschauen und nicht in diejenigen Gebiete ziehen, in denen sich die rechte Szene breitgemacht hat. Aber auch in einer durchschnittlichen Landgemeinde kann das urbane Milieu auf politisch Andersdenkende treffen. Da können sicherlich interessante Brücken zwischen Stadt- und Landleben geschlagen werden, wenn sich beide Seiten darauf einlassen. Aber das Wahlverhalten wird sich dadurch weder auf der einen noch der anderen Seite verändern. Dafür ist die neue Landlust demografisch gesehen viel zu unbedeutend.
Worauf sollten einst schrumpfende Gemeinden auf dem Land achten, wenn sie Interessierte anlocken wollen?
Oft hört man, das Wichtigste sei eine schnelle Internetverbindung. Aber das reicht sicherlich nicht aus. Wer in die Kleinstadt oder aufs Land zieht, wird noch mehr Bedürfnisse haben, die sich nicht übers Internet befriedigen lassen. Man möchte frische Brötchen kaufen, eine gute Kinderbetreuung haben, den Arzt seines Vertrauens oder auch ein Theater aufsuchen können. Die ländlichen Gemeinden, die sich jetzt die Augen reiben, weil sie unverhofften Zuzug bekommen haben, müssen sich bei der Angebotsvielfalt vor Ort etwas einfallen lassen, um diese Leute halten zu können. Ohne die Unterstützung der Politik – auch von Land und Bund – wird diese Angebotsvielfalt nicht möglich werden.

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Tim Rieniets ist Professor für Stadt- und Raumentwicklung in einer diversifizierten Gesellschaft an der Leibniz Universität Hannover. Er war Mitarbeiter beim Projekt „Schrumpfende Städte“ (2004–2006), Assistent und Dozent an der ETH Zürich und Gastprofessor an der TU München. Von 2013 bis 2018 war er Geschäftsführer der Landesinitiative StadtBauKultur NRW. Neben zahlreichen Schriften veröffentlichte er 2006 mit Philipp Oswalt den „Atlas der schrumpfenden Städte“.

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