Bauwelt

Höllentore, teure Zähne, Imperativ

Facetten der Wolfsburger Ausstellung „In aller Munde“

Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig

Höllentore, teure Zähne, Imperativ

Facetten der Wolfsburger Ausstellung „In aller Munde“

Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig

Säkulare Zeitgenoss:innen wissen wahrscheinlich nicht mehr viel über die christliche Vorstellung der Hölle, die reiche Metaphern- und Bildwelt, die sie hervorbrachte. Darstellungen ab dem 15. Jahrhundert, etwa in sogenannten Blockbüchern, zeigen als Eintrittssituation ins „Welteninnere“, den Ort ewiger Verdammnis, weit aufgerissene, erst tierische, in der Nachfolge von Hieronymus Bosch dann menschenhafte Mäuler. Hinter diesen Höllentoren erwartete den sündigen Mensch ein loderndes Flammenmeer, das ihm die sprichwörtlichen Höllenqualen bescherte. Aber Schrecken beflügeln bekanntlich die Fantasie: So avancierte in der profanen Architektur des Manierismus der Höllenschlund zur anthropomorph dekorierten Torsituation. Michelangelos Porta Pia, ab 1560 in Rom erbaut, zelebrierte den Austritt in die (bedrohliche?) Landschaftsweite der Campagna, das „Monsterportal“ des Malers Frederico Zuccari ab 1618 den Zugang zu seinem Palazzo, der heutigen Bibliotheca Hertziana. Am bekanntesten ist aber wohl das Riesenmaul im Sacro Bosco, dem heiligen Wald von Bomarzo nahe Roms, nach 1580 errichtet. „Lasst, die Ihr eintretet, alle Gedanken fahren“ paraphrasiert ein Schriftzug um die Öffnung, wenn frei ins Deutsche übersetzt, Dantes Idee der Vorhölle. Während der Dichter beim Übertritt allerdings alle Hoffnungen fahren ließ, führt der Schlund im Walde nun nicht ins Purgatorium sondern lud mit steinernem Tisch und Bänken zum ländlichen Gelage in seinem kühlen Inneren.
Dieser architekturgeschichtliche Exkurs in der Themenausstellung des Kunstmuseums Wolfsburg, „In aller Munde“, wendet sich direkt an Besucher:innen aus dem Bauwesen. Eine großformatige Fotografie aus Bomarzo steht am Beginn der üppigen Schau mit über 250, teils weltweit entliehenen Exponaten von 160 Künstler:innen und verweist auf den Beitrag von Horst Bredekamp und Kolja Thurner in der umfangreichen Begleitpublikation. Als Architecture Parlante reihen sich für die Präsentation weiße Ausstellungskuben wie Zähne um die zentrale „Zungenpiazza“, ausgestreckt vor der monumentalen Textilinstallation des polnischen Künstlers Piotr Uklański: ein riesiges Gaumenzäpfchen inmitten eines dichten Netzes von Gefäßen und Nerven.
Obwohl es in der aktuellen wie alten Kunst ja nicht an Darstellungen Trinkender, Essender, Stillender, Speiender oder einander Küssender mangelt, unternahm das Wolfsburg Haus unter Federführung von Kuratorin Uta Ruhkamp wohl erstmals im deutschsprachigen Raum Sondierungen in die Tiefen der Kunst- und Kulturgeschichte, der Medizin und Trivialphänomenologie zu den vielfältigen Aspekten des Mund- und Rachenraumes, seiner Rolle in der Zivilisation des Menschen, kurzum: dem Oralen in ganzer Komplexität. Derzeit Locus Horribilis, gilt der Mundraum zusammen mit dem Naseninneren als hochinfektiöser Ort der Replikation des Coronavirus und verschwindet unter entsprechender Bedeckung. Präventivmedizinisch akzeptiert, sehen gesellschaftsphilosophisch Reflektierende in der Gesichtsmaske jedoch auch ein aktuelles Beispiel für die weitere Entsozialisierung des Menschen, wird seine physiognomische Individualität doch so eines ihres wichtigsten Ausdrucksträgers beraubt. Mehr noch: Der Kulturwissenschaftler und Impulsgebers der Ausstellung, Hartmut Böhme, sieht den Mensch gar als Subjekt im Mundraum geboren, in einer zweiten, soziokulturellen Geburt.
Als bidirektionaler Transitraum ist der orale Bereich ein über Jahrmillionen verfeinertes, polyfunktionales Organ-Ensemble des menschlichen Körpers, das, lange bevor ein Mensch des kognitiven Urteils fähig ist, die Grunderfahrung aller Ästhetik liefert: den Geschmack. Der Mundraum ist die empfindsame Versuchszone, in der entschieden wird, was bei sich behalten oder wieder ausgestoßen wird, kommentiert durch Mimik und averbale Kommunikation. Er ist somit das erste Welterschließungsorgan für die elementare Scheidung zwischen Ich-Sphäre und Objekt-Universum. Mit Atmung und Geruchssinn, der Kommunikationsfähigkeit sowie der Triebdynamik in oralbegehrender und dentalaggressiver Ausrichtung misst Böhme dem Mund-Ensemble eine erstrangige Bedeutung für die Ontogenese des Individuums und die Phylogenese der Gattung bei. In der Kombination mit dem Ohr sei es ähnlich entscheidend für den evolutionären Siegeszug des Menschen wie die Allianz aus Hand und Auge. Allerdings sei die orale Selbstkonstitution stets im Schatten des „Begreifens“ mittels der Hand, nach Aristoteles „das Werkzeug für Werkzeuge“, des aufrechten Ganges und erst recht des Geistes und der Seele gestanden.
Der Mund teilte zudem das Los anderer Körperöffnungen des Menschen, als unschicklich zu gelten, nur gesittet verschlossen als harmonisch und präsentabel. Gotthold Ephraim Lessing forderte noch 1766 in seinen Gedanken über den bildnerisch offensichtlich unterdrückten Todesschrei des Laokoon in der plastischen Gruppe, dass Malerei und Skulptur aus ästhetischen Gründen auf die Darstellung von Empfindungen und Affekten zu verzichten hätten. Extreme Mimik, der zum Schrei aufgerissene Mund galten als hässlich, letzterer wegen der fehlenden akustischen Komponente ohnehin als nicht visualisierbar – bis Edvard Munch 1910 zur synästhetischen Farbexplosion griff und das Bildverbot endgültig brach.
Polare Spannungen sind feste Bestandteile aller zwölf Motivstränge der Wolfsburger Betrachtung des Oralen. Hinter dem erotischen Signum des leicht geöffneten weiblichen Mundes etwa, in der Ausstellung vertreten durch Man Rays Lippenpaar seiner Muse Lee Miller oder einer modernen Replik des Mae West Lips-Sofas von Salvador Dalí und Edward James, lauern Kastrationsangst, gar Kannibalismus. Genuss und Ekel, gieriges Schlingen und repulsives Ausspeien, Kuss und Vampirismus sind allgegenwärtige Kippmomente, wie die Exponate zeigen. Gepflegte Zähne wurden teures Distinktionsmerkmal sozialen Status, während der Zahn der Zeit an allem nagt. Seit Immanuel Kant kennen wir zudem die politische Dimension, dank seines Imperativs: Der Mensch möge sich aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien.


0 Kommentare


loading
x
loading

9.2024

Das aktuelle Heft

Bauwelt Newsletter

Das Wichtigste der Woche. Dazu: aktuelle Jobangebote, Auslobungen und Termine. Immer freitags – kostenlos und jederzeit wieder kündbar.