Freiheit im Schlusslichtland
Ulrich Brinkmann empfiehlt einen wertschätzenden Blick auf die Dystopien der deutschen Gegenwart.
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
Freiheit im Schlusslichtland
Ulrich Brinkmann empfiehlt einen wertschätzenden Blick auf die Dystopien der deutschen Gegenwart.
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
Beispiel 2: Rückfahrt mit der Bahn aus den Niederlanden, mit Zwischenstopp in Herne. Wo zuvor alle Menschen glücklich, dynamisch, durchtrainiert, gesund ernährt und hoch effizient jeden Quadratzentimeter Land zu einer einzigen Hochleistungsmaschinerie programmieren – alles smart und chic, wohin man kommt, selbst die Vorortbahnhöfe in Industriestädten stehen da wie aus dem Ei gepellt -, weht sofort nach Grenzübertritt der Anhauch von Verwahrlosung, Stillstand und Niedergang. Im Bahnhof Herne wähne ich mich endgültig in die fünfziger Jahre zurückgebeamt; rieche den Qualm der unzähligen Zigaretten, der sich hier in Jahrzehnten ins Mörtelwerk der Klinkermauern gesetzt hat, sehe die von tausenden Arbeiterstiefeln ausgetretenen Werksteinstufen in der Abendsonne, frage mich, wie viele Henkelmänner hier schon gegen die gusseisernen Stützen geschlagen sein mögen, die das hölzerne Bahnsteigdach tragen. Und erkenne plötzlich die Möglichkeitsräume in all dem vom Zeitgeist unberührt Gebliebenen. Deutschlands Westen wartet, auf Entdecker, Ideen, Gestalter.
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