Bauwelt

Reparaturen für die Zukunft

Zu Besuch in der Ausstellung „Critical Care. Architektur für einen Planeten in der Krise“ im AzW

Text: Lüdtke, Insa, Berlin

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    seit 2006: Kibera Public Space Projekt von der Kounkuey Design Initiative
    Foto: Jesús Porras; © Kounkuey Design Initiative

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Reparaturen für die Zukunft

Zu Besuch in der Ausstellung „Critical Care. Architektur für einen Planeten in der Krise“ im AzW

Text: Lüdtke, Insa, Berlin

Seit Greta Thunberg ist der globale Klimawandel in aller Munde, obwohl Wissenschaftler schon in den 1970er Jahren auf die Gefahren hinwiesen und den Nachweis erbracht hatten, dass der Mensch für den dramatischen Wandel verantwortlich ist. Mittlerweile können wir ihn hautnah am eigenen Leib erleben: Ein Temperaturrekord jagt den Nächsten – mit katastrophalen Folgen für unsere Lebensräume. Waldbrände, Überschwemmungen und Dürren wirken sich direkt auf unser Habitat aus. An den Wänden des ehemaligen Pferdestalls, in dem die Sonderausstellungsfläche des AzW untergebracht ist, sind LED-Bänder angebracht mit umlaufenden Katastrophenmeldungen zur Lage des Planeten.
Diese nimmt das Architekturzentrum Wien (AzW) in den Fokus mit der Ausstellung „Critical Care“, konzipiert von den Kuratorinnen Angelika Fitz und Elke Krasny. Der gewählte Titel kann dabei auf zweierlei Weise interpretiert werden. Zum einen benennt er eben diesen gefährlichen Zustand, in dem sich die Erde aus verschiedenen Gründen befindet. Zum anderen verweisen die Kuratorinnen auf den kritischen Zustand eines Patienten mit geringen Überlebenschancen, der dringend der Intensivpflege bedarf. Denn der Begriff „Critical Care“ bedeutet sowohl „Intensivstation“ als auch „Sorgetragen“. Genau diesen Aspekt vertiefen Fitz und Krasny mit den ausgestellten Arbeiten und mit dem Anspruch zu beweisen, dass Architektur und Urbanismus dafür sorgen können, den Planeten „wiederzubeleben“.
Anders als eine Intensivstation, deren klinische Aura auf die meisten Menschen abstoßend wirkt, lädt die Schau den Besucher ein, Lösungen zu kennenzulernen, die sich mit der kritischen Situation praktisch auseinandersetzen. Die Ausstellungsarchitektur wirkt schlicht, aber nahbar: Fotos und Texte werden auf Pappwabenplatten präsentiert; Tische und Hocker sind auch aus dem Recyclingmaterial gefertigt und verteilen sich lose in der Ausstellung. Wer möchte kann sich so konzentriert in jedes Projekt vertiefen – Tablets und Monitore mit begleitenden Videoaufnahmen beziehen interaktiv das lokale Umfeld eines jeden Projekts ein.
Die Ausstellung versammelt 21 – im 21. Jahrhundert – realisierte architektonische und städtebauliche Projekte aus Asien, Afrika, Europa, dem Nahen Osten, der Karibik, den USA und Lateinamerika. Thematisch wurden sie entlang von fünf sogenannten Ansetzen des Sorgentragens und Kümmerns gruppiert. Beispielsweise wird unter dem Titel „Sorgetragen für Wasser sowie Grund und Boden“ ein von Estudio Teddy Cruz + Fonna Forman erarbeitetes grenzübergreifendes ökologisches Konzept gezeigt, dass eine neue Vorstellung von Staatsbürgerschaft für das Grenzgebiet zwischen den USA und Mexiko thematisiert. Exemplarisch für „Sorgetragen für den öffentlichen Raum“ wird auf die Stadtverwaltung in Barcelona verwiesen, die mit der Einführung des „Superblock Modells“ den Menschen den Straßenraum zurückgibt und gleichzeitig den privaten Verkehr um 21 Prozent reduziert.
Ein Projekt der Architektin Yasmeen Lari steht für das „Sorgetragen für Fertigkeiten und Kenntnisse“: Lari bildet mit ihrer Heritage Foundation „Barefoot Entrepreneurs“ Architekten und Laien darin aus, in traditioneller Lehm- und Bambusbauweise flutbeständige Häuser und Infrastrukturen zu bauen. Über 40.000 sichere, kostengünstige und äußerst CO2-arme Gebäude wurden seit 2012 realisiert. Lacaton & Vassal haben gemeinsam mit Frédéric Druot und Christophe Hutin einen modernistischen Großwohnbau in Paris saniert und durch großzügig davorgesetzte Wintergärten seinen Wohnwert erhöht, der unter dem Stichwort „Sorgetragen für Reparatur“ vertieft werden kann. Unter „Sorgetragen für lokale Produktion“ wird als ein Beispiel die Arbeit der Kounkuye Design Initiative gezeigt. Sie entwickelt gemeinsam mit Grassroots Organisationen produktive öffentliche Räume in Kibera (Nairobi), um ökologische Anliegen, sanitäre Einrichtungen, lokale Alternativ-Ökonomien und Sicherheit miteinander zu verbinden. 

Jedes der 21 Fallbeispiele basiert auf der erfolgreichen Ausarbeitung einer konkreten Herausforderung, sei es im städtischen oder im ländlichen Raum. In jedem Projekt werden auf einer prototypischen Ebene die Verhältnisse zwischen Arbeit, Ökonomie, Ökologie und Gesellschaft neu sortiert: erdbebensichere und nachhaltige Dorfentwicklung in China, Überschwemmungsschutz durch traditionelle CO2-arme Bautechniken in Pakistan und Bangladesch, Umnutzungen modernistischer Bauten in Brasilien und Europa, ein ökologischer Community Land Trust in Puerto Rico, die Revitalisierung historischer Bewässerungssysteme in Spanien, Konzepte für öffentliche Räume und durchmischte Quartiere in Wien, London und Nairobi. Die Ausstellung appelliert damit an das unbedingt notwendige Engagement jedes Einzelnen wie auch an das gemeinsame Sorgetragen für unseren Planeten und damit letztlich auch an eine neue Form der Kollaboration von Architekt, Bauherr und Nutzer – Rollenklärung inklusive.
Die Ausstellung Critical Care. Architektur für einen Planeten in der Krise ist bis zum 9. September im Architekturzentrum Wien (AzW) zu sehen.


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