Bauwelt

Gutshof in Ninikowo


Wie Fragmente zusammenfinden: Im polnischen Ninikowo sichern vergleichsweise kleine Handgriffe einen alten, verfallenden Kuhstall, der so zum Atelier werden konnte. Ein Einordnungsversuch


Text: Czupkiewicz, Aleksandra, Breslau


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    Das Dorf Ninikowo liegt an der Ostsee im Nordwesten Polens. Die Umnutzung des Kuhstalls in ein Atelier war gleichzeitig auch eine Erste-Hilfe-Maßnahme.
    Foto: Future Documentation

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    Das Dorf Ninikowo liegt an der Ostsee im Nordwesten Polens. Die Umnutzung des Kuhstalls in ein Atelier war gleichzeitig auch eine Erste-Hilfe-Maßnahme.

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    Drei skulpturale Betonstützen verstärken den löchrigen Fachwerkgiebel, der keine tragende Funktion mehr hat.
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    Drei skulpturale Betonstützen verstärken den löchrigen Fachwerkgiebel, der keine tragende Funktion mehr hat.

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    Auch die Außenwände müssen keine Lasten stemmen – die eingesetzte Betonplatte wird von neun Pfeilern getragen.
    Foto: Future Documentation

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    Auch die Außenwände müssen keine Lasten stemmen – die eingesetzte Betonplatte wird von neun Pfeilern getragen.

    Foto: Future Documentation

Wenige Kilometer von der Ostseeküste entfernt, etwa auf halber Strecke zwischen Świnoujście (Swinemünde) und Kołobrzeg (Kolberg) liegt das Dörfchen Ninikowo. Die lineare Bebauung entlang der Straße wird nur durch eine historische Parkanlage, ein ehemaliges Gutshof-Ensemble sowie einen Obstgarten unterbrochen. Hier – scheinbar mitten im Nirgendwo, zumindest auf der Landkarte – und im Geiste der von Schriftsteller Alfred Jarry halb scherzhaft, halb ernst gemeinten Formulierung In Polen, das heißt Nirgendwo, beschloss der deutsche Künstler Manfred Pernice in Zusammenarbeit mit Arno Brandlhuber sein Atelier zu errichten.
Von den ursprünglich U-förmig angeordneten Gebäuden aus dem 19. Jahrhundert, deren Mitte von Süden aus zugänglich war, sind heute nur noch das axial platzierte Herrenhaus sowie die Reste der westlichen Scheune und des östlichen Kuhstalls erhalten. Trotz dieser bruchstückhaften Teile bleibt die Komposition dank der alten Bäume hinter dem Herrenhaus, der Baumreihen entlang der Scheune und des Obstgartens am Kuhstall lesbar und bietet in ihrer Gänze recht angenehme natürliche Voraussetzungen für künstlerisches Arbeiten.
Der Eingriff von Pernice und Brandlhuber verhalf dem gemauerten Kuhstall, der ursprünglich eine universelle, archetypische Silhouette aufwies, zu einer unerwarteten Gestalt: Das eingestürzte Satteldach wurde durch eine flache Betonplatte ersetzt, die auf neun neuen Pfeilern ruht. Die Giebelwände behielten ihren ursprünglichen Umriss, wobei der nördliche Giebel teilweise aus ursprünglicher Baumasse besteht, während der südliche, verfallen, mit freiliegender Holzkonstruktion und nur stellenweise mit Ziegeln ausgemauert, durch drei Betonstützen stabilisiert wird. Diese Komposition stammt von Pernice. Durch die bauzeitlichen rundbogigen Fenster- und Türöffnungen sowie neue runde Oberlichter fällt Tageslicht in das innen liegen-
de Atelier.
Es ist ein archaisches Projekt: Die Wände sind rau, Ziegel fehlen an manchen Stellen, anders-wo verschließt eine Faserplatte eine Öffnung oder flattert blaue Bauplane hinter der Giebelwand. Alt und Neu sind durch Form und Materialität gleichzeitig ablesbar und dennoch ambivalent: Das Bild wirkt unvollendet, als stünden weitere Entwicklungen bevor. Diese Ästhetik ist so ausgeprägt, dass sie nicht unerwähnt bleiben kann. Stellte die Zeitschrift ARCH+ im Geist ih-rer Sommerausgabe 2015, die der flämischen Architektur gewidmet war, eine Liste der Normcore-Architektur in Polen zusammen, stünde Ninikowo gewiss darauf. Normcore, so ist im Vorwort jener Ausgabe zu lesen, huldigt der Normalität, der Einfachheit und Alltäglichkeit, ist zugleich jedoch „hardcore und radikal“ in seinem Widerstand gegen Trends.
Der Eingriff in Ninikowo lässt sich aus unterschiedlichen architekturtheoretischen Perspektiven lesen. Konzeptionell steht er der Haltung der Brutalisten nahe. Architekturkritiker Reyner Banham schrieb brutalistischer Architektur 1955 in seinem Essay The New Brutalism drei Merkmale zu: ihre Einprägsamkeit als Bild, die klare Darstellung der Struktur und ihre Wertschätzung für vorgefundene Materialien. Der Bau in Ninikowo erfüllt all das. Die größte Aufmerksamkeit erregt in diesem Zusammenhang Pernices erste Skulptur im neuen Atelier: die Betonstützen, die den verfallenden südlichen Giebel abfangen. Auf der Website der Schweizer Galerie Mai 36, wo der Künstler 2022 ausstellte, heißt es: „Er arbeitet typischerweise mit einfachen Materialien wie Sperrholz oder Spanplatten – oder generell Dingen, die man im Baumarkt oder auf der Straße findet.“
Alltägliche Gegenstände fanden auch in der Arte Povera Verwendung. Sie lehnte die hohe Kunst ab und suchte Schönheit in weniger elaborierten, aber authentischen Mitteln und Botschaften. In Pernices brutaler Komposition ist eine ähnliche Spannung erkennbar wie in Giovanni Anselmos Werk Torsione von 1968: Stoff, der von einer in die Wand verankerten Stahlstange verdreht wird, wobei die Kraft nicht durch bildhauerische Darstellung, sondern durch tatsächliche physische Spannung sichtbar wird. Nach einem vergleichbaren Prinzip wirken in Ninikowo die neuen Betonstützen und der hölzerne Rahmen des verfallenden Giebels zusammen.
Manche mögen sagen, es handle sich um Fassadismus, um Kulissenarchitektur – hätte diese Wand nicht weniger primitiv, weniger spektakulär abgestützt werden können? Oder geht es eben gerade um Drama und Spektakel statt Zurückhaltung? Auch die Postmoderne suchte ähnliche Effekte des Schocks und der Überraschung. Als James Wines, Gründer des Kunst- und Architekturstudios SITE in New York, einige Gebäude für die amerikanische Mall-Kette BEST entwarf, entstanden Gebäude, die weit mehr an Spannung innehatten als die Bauaufgabe es vermuten ließe. Selbst aus einem vorbeifahrenden Auto heraus war die beunruhigende Deformierung der Kubaturen wahrnehmbar: etwa die Eingangsfassade des Hauses in Towson, Maryland, die sich, vertikal nach hinten kippend, von oben in ihre vermeintlich richtige Position zu bewegen scheint, oder jene in Houston, Texas, und Sacramento, Kalifornien, die, obgleich Neubauten, bewusst wie Ruinen gestaltet sind.
Schon aufgrund des kleineren Maßstabs subtiler war Robert Venturi, der gelegentlich die Fassaden seiner Architektur mit Illusionen überlagerte. Beim winzigen, unrealisiert gebliebenen Hersey House in Massachusetts oder der Haas Garage in Pennsylvania beispielsweise platzierte er Öffnungen, die nicht den tatsächlichen Fenstern entsprachen, in doppelten Fassaden. Manchmal verlieh er bestimmten Elementen übertriebene Dimensionen – höher, größer, stärker als notwendig –, etwa im ebenfalls nie gebauten Frug House in New Jersey von 1966, dessen Kamin nahezu doppelt so hoch hätte sein sollen wie üblich.
Auch ohne diese Schwerpunktsetzung könnte der alte Kuhstall in Ninikowo oder ähnlichen polnischen Dörfern schlicht unfertig erscheinen – mutmaßlich aus Geldmangel. Es sei denn, man versetzt sich zurück in die Romantik: als Ruinen in der polnischen Literatur unter anderem Reflexionen über die Vergänglichkeit bedeuteten, wie in Adam Mickiewicz’ Ruinen der Burg von Balaklava, in denen menschliche Werke fragil sind, während die Natur fortbesteht. Schließlich ist vom Gutshof-Ensemble in Ninikowo heute weniger erhalten als von den natürlichen Strukturen, die es umgeben. Oder vielleicht ließe sich das Gebäude, im Sinne romantischer Ruinenästhetik oder jener Theorien, die den ästhetischen Wert zukünftiger Ruinen hervorheben, als bewusst auf zukünftigen Verfall hin entworfen lesen.
Ist Arno Brandlhubers Projekt also Normcore? Ist es eine Rückkehr zum Brutalismus, gemischt mit Arte Povera und postmodernen Echos? Ist es als ästhetisierte Ruine inmitten von Grün vorstellbar – und was würde es symbolisieren? Wahrscheinlich liegt die Stärke des Projekts gerade darin, dass es keine eindeutige Lesart zulässt.
Aus dem Englischen: ck



Fakten
Architekten b+ und Manfred Pernice, Berlin
Adresse Ninikowo 3, 72-300 Ninikowo, Polen


aus Bauwelt 01.2026
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