Bauwelt

Der 9-Milliarden-Personen-Haushalt

Das tägliche Essen verursacht ein Drittel unseres ökologischen Fuß­abdrucks. Grund genug, sich die Beziehung von Ernährung, Haus, Stadt und Welt genau anzusehen

Text: Oswalt, Philipp, Berlin; Barthel, Stephan, Berlin; von Mende, Julia, Berlin; Schmidt, Anne, Berlin

Der 9-Milliarden-Personen-Haushalt

Das tägliche Essen verursacht ein Drittel unseres ökologischen Fuß­abdrucks. Grund genug, sich die Beziehung von Ernährung, Haus, Stadt und Welt genau anzusehen

Text: Oswalt, Philipp, Berlin; Barthel, Stephan, Berlin; von Mende, Julia, Berlin; Schmidt, Anne, Berlin

Der Atmosphärenchemiker und Nobelpreisträger Paul Crutzen und der Biologe Eugene Stoermer stellten vor 16 Jahren die These auf, das Erdzeitalter des Holozän sei durch das Anthropozän abgelöst worden: Der Mensch verändert die Erde im globalen Maßstab, er ist zu einem geologischen Faktor geworden. Inzwischen sind manche vom Menschen verursachte Veränderungen umfänglicher als die natürlichen. Das betrifft nicht nur den Klimawandel. Mehr als drei Viertel der eisfreien Landoberfläche sind vom Menschen verändert, mehr als 90 Prozent allen Pflanzenwachstums findet in Systemen statt, die der Mensch beeinflusst, mehr als 90 Prozent der Biomasse aller lebenden Säugetiere werden vom Menschen und seinen Haustieren gestellt, Millionen Tonnen von Kunststoffmüll enden jährlich in den Weltmeeren usw. Der Gegensatz zwischen Mensch und Natur hebt sich auf. Das, was wir Natur nennen, ist mehr und mehr vom Menschen gemacht oder überformt. Diese enorme Wirkungsmacht des Menschen geht aber einher mit der Bedingtheit des Menschen. Denn der Mensch ist nicht autonom – er ist Teil des Habitats der Erde. Umso mehr schlägt seine Wirkungsmacht auf ihn selbst zurück.
Planlose Transformation
Das Anthropozän folgt keinem großen Plan, das „Zeitalter des Menschen“ ist die Akkumulation der Nebenfolgen des Handelns von Milliarden Menschen. Wir alle sind Co-Produzenten des globalen Wandels, der als solcher nicht intendiert ist, sondern aus Nebenwirkung mensch­licher Aktivitäten mit anderen Zielsetzungen hervorgeht. Bei den Handlungsentscheidungen werden diese Nebenwirkungen nicht wahrgenommen, mehr noch, sie sind in herkömmlicher Weise nicht wahrnehmbar.
Nehmen wir die menschliche Ernährung als Beispiel: Ein Drittel des ökologischen Fußabdrucks der Europäer wird durch das tägliche Essen verursacht. Jeder von uns gestaltet mit seinem Essverhalten den Globus mit. So klein der Beitrag im Einzelnen ist, so wirkungsmäch­-tig trägt in der Summe aller die Ernährung der Menschheit zum globalen Wandel bei. Doch wenn ich einen Joghurt, eine Wurst oder einen Schokoriegel kaufe und esse, kann ich an dem Lebensmittel selbst nicht erkennen, ob sein Konsum zur Klimaerwärmung, zur Vernichtung von Tropenwäldern, zum Artensterben oder zur Verwüstung von Ackerland beiträgt. Der Konsum treibt die Produktion an, aber der Konsument hat keinen Bezug zur Produktion und kann die Folgen seines Tuns nicht überschauen.
Aus dem Auge, aus dem Sinn. Zwar erhalten wir fast täglich Nachrichten über den Klimawandel und Umweltgefährdungen, aber das ab­strakte Wissen darum hat das Verhalten bislang kaum verändert. Selbst bei einfachen Sachverhalten wie Autofahrten und Flugreisen ist das der Fall. Umso mehr bei der Ernährung, wo wir die Wahl zwischen Hunderten von Lebensmitteln haben und schon die Beurteilung eines einzelnen Lebensmittels komplex ist. So ist ein heimisches Lebensmittel nicht per se einem aus Übersee vorzuziehen. Ein argentinisches Weiderind schneidet besser ab als ein deutsches Masttier, und bei Äpfeln macht es einen Unterschied, ob man sie im Herbst kauft oder im Frühjahr, wenn das heimische Obst mit enormem Energieaufwand für die Kühlung einige Monate gelagert wurden. Die Produktion eines Kilos Tomaten kann je nach Herstellungsart und -ort und nach Saison 35 Gramm klimaschädliches CO2 verursacht haben, oder die dreihundertfache Menge. Wie viel es ist, sieht man der Tomate nicht an.
Die Welt – ein Haushalt
Vor der Industrialisierung wurde ein guter Teil der Lebensmittel regional hergestellt, und es gab Stoffkreisläufe, die keine Abfälle kannten, weil es für alles eine sinnvolle Weiterverwendung gab. Heute sind die Energie- und Stoffkreisläufe überwiegend global. Die ganze Welt ist ein einziger Haushalt, der gegenwärtig von 7 Milliarden Menschen gemeinsam geführt und genutzt wird. Um 1700 waren es 600 Millionen Menschen, 1900 1,6 Milliarden, und 2050 sollen es ca. 9 Milliarden sein. Neben allen Schwierigkeiten ist es ein großer Erfolg moderner Landwirtschaft, dass es gelungen ist, mit immer weniger Landfläche und Arbeitskraft je Person genügend Lebensmittel für eine in 350 Jahren auf das fünfzehnfache angewachsene Weltbevölkerung zu produzieren. Die enorme Veränderung der Bevölkerungsdichte wirkt sich aber auf die Lebensstile aus. So wie es für die Lebensweise einen Unterschied macht, ob in derselben Wohnung zwei oder acht Menschen wohnen, so wirkt sich die Existenz der anderen der Weltgemeinschaft auf unsere Lebensweise aus – und umgekehrt: Die Welt ist ein Haushalt.
Küche, Haus, Stadt und Welt
Mit der Ernährung setzt sich jeder Mensch unmittelbar körperlich mit der Umwelt ins Verhältnis, energetisch wie stofflich. Der Bauwelt-Thementeil „Anthropozänküche“ geht der Gestaltung dieser Mensch-Umwelt-Beziehung in dreierlei Weise nach: Der erste Beitrag legt am Beispiel Berlins dar, wie sich die menschliche Ernährung in den letzten 300 Jahren verändert hat. Der Wandel der Lebensmittelauswahl, Ort und Art ihrer Produktion und Verarbeitung, Vertrieb und Lagerung, Zubereitung und Verzehr gehen einher mit der Veränderung von Küche, Wohnung, Stadt und Region. Neue Gebäude­typen, Stadtstrukturen und Infrastrukturen entstehen mit den neuen Ernährungsformen – und umgekehrt; sie bedingen sich gegenseitig. In einer dreihundertjährigen Co-Evolution haben sich Ernährung, Haus, Stadt und Welt miteinander gewandelt.
Der zweite Beitrag nimmt die globale Perspektive ein. Er wirft einen Blick auf die Globalisierung der Lebensmittelversorgung heute und zeigt auf, woher unsere Nahrung kommt.
Der dritte Beitrag stellt Projekte vor, die neue Formen des urbanen Haushaltens praktizieren und nachhaltige Modelle von Stoff- und Energiekreisläufen umsetzen. Seit einigen Jahren erfreut sich das Thema von Ernährung und Stadt international großer Aufmerksamkeit. Eine Vielzahl von Projekten ist entstanden, die Produktion, Verarbeitung und Recycling von Essen in neuer Form in den städtischen Raum zurückholen, öffentlich machen und inszenieren.
Die Inhalte für die „Anthropozänküche“ entstanden im Wesentlichen im Teilprojekt „Stadt“ des Basisprojekts „Die Anthropozänküche: Das Labor der Verknüpfung von Haus und Welt“ am Exzellenzcluster „Interdisziplinäres Labor Bild Wissen Gestaltung“ der Humboldt-Universität zu Berlin 2014/2015 1. Ergänzend hierzu gab es im Sommersemester 2015 ein Recherchestudio, Vertiefungsprojekte und eine Masterarbeit am Fachgebiet Architekturtheorie und Entwerfen an der Universität Kassel.
Anderthalb Jahre haben wir uns mit dem Zusammenhang von Ernährung, Haus, Stadt und Welt befasst – zu einfachen Antworten und Lösungen führte das nicht. Zwar ist die heutige, nicht nachhaltige Ernährungsweise unmittelbar mit der Ausbildung moderner Gebäudetypen, Siedlungs- und Infrastrukturen verbunden, die neue Formen der räumlichen Organisation von Nahrungsproduktion, -verarbeitung und -konsum ermöglichen. Doch es wäre irreführend, die Globalisierung dieser Prozesse als das Kernpro­blem anzusehen.
Die großräumliche Organisation der menschlichen Ernährung reicht historisch weit zurück. Bereits die frühen Großstädte des Altertums waren auf Grundnahrungsmittel aus weiter Ferne angewiesen. So war Nordafrika die Kornkammer des Römischen Reiches, von hier aus versorgte sich die Stadt Rom mit Getreide.
Die heutigen Ansätze zu regionaler Ernährung und kleinräumlichen Versorgungsstrukturen sind keineswegs per se umweltverträglich und nachhaltig. Denn der Anteil der Transporte am ökologischen Fußabdruck heutiger Ernährung ist mit weniger als 5 Prozent ziemlich gering. Entscheidend sind die Produktionsprozesse (ca. 70 Prozent des Fußabdrucks) und die Essens­zubereitung (ca. 20 Prozent des Fußabdrucks). Anders betrachtet sind auch der Ernährungs­-stil – hoher Fleischkonsum – und die enormen Verluste an Lebensmitteln entlang der gesamten Prozesskette maßgeblich.
Sind die räumlichen Strukturen auch nicht direkt entscheidend, spielen sie indirekt eine wesentliche Rolle: Weil sie eine Grundlage bilden für die Entfremdung des Menschen von seiner materiell-energetischen Praxis. Vor der Industrialisierung schlugen sich wesentliche Folgen der Ernährungspraxis in der alltäglichen Lebenswelt der Menschen nieder, sei es die Verschmutzung von Wasser und Luft oder der Verödung von Feldern und Wäldern. Heute ist dies in weite Ferne gerückt, vollständig außerhalb des eigenen Blicks – zeitlich wie räumlich.
Krise der Repräsentation
Wir haben es mit einer Krise der Repräsentation zu tun, wenn die eigene Lebenswelt nicht die Folgen des eigenen Handelns spiegelt. Zwar fehlt es uns nicht an medial vermittelten Informationen, doch wirken sich die kaum auf das individuelle Handeln aus. Mehr noch: Selbst wenn ich meine persönliche Einstellung geändert habe, schlägt sich das noch lange nicht wirksam in einem umweltfreundlicheren Verhalten nieder.
Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung hat vor einigen Jahren in einer Analyse gezeigt, dass die Sinus-Gruppe der wohlhabenden „Postmaterialisten“, die dem Klimaschutz positiv gegenübersteht, mehr als doppelt so viele Treibhausgase pro Person verursacht als die Gruppe der deutlich ärmeren „Konsum-Materialisten“, die den Klimaschutz eher ablehnt. We­niger die persönlichen Werte als die persönlich verfügbaren finanziellen Ressourcen prägen das Verhalten. Wären die Umweltkosten in die Preise von Konsumprodukten einbezogen, wür­-de sich das auf das Verhalten auswirken. Doch diese Kosten sind ausgeklammert. Das Preis­system führt zu einer Fehlrepräsentation auf Kosten der Umwelt und der Gemeinschaft.
Mit dem Anthroprozän steht die Menschheit vor einer schwierigen neuen Aufgabe: Neun bis zehn Milliarden Menschen müssen gemeinsam einen Haushalt führen. Hierbei ist Politik (als Gestaltung des Gemeinwesens) von Ästhetik (als Gestaltung von Wahrnehmung) nicht zu trennen. Weder ist eine Gestaltung ohne politische Dimension denkbar, noch eine Politik ohne gestalterisch-ästhetische Dimension. Dabei müssen wir lernen, sorgfältiger hinter die Dinge zu schauen. Nicht selten erweisen sich die in Gestalterkreisen und den Medien gehypten Modelle als symbolische Ersatzhandlungen, die die Kernfragen nicht berühren, schlimmer noch, sie oft genug verdecken. Offensichtlich ist dies bei den beliebten Renderings der zahllosen unrealisierten „Vertical Farming“-Hochhausprojekte. Aber selbst positive Beispiele können mit übermäßigem Erfolg problematische Aspekte entwickeln.
Nehmen wir den vielpublizierten Prinzessinnengarten in Berlin-Kreuzberg. Als öffentlicher und sozialer Ort ist er erfolgreich. Aber trägt er wirklich zu einer nachhaltigeren Ernährung bei? Kritisch besehen, ist der Prinzessinnengarten eine partizipative Eventgastronomie für die Gruppe der ökologisch orientierten Postmaterialisten. Das „Urban Gardening“, das dort betrieben wird, kann bestenfalls einen minimalen Teil der an Ort und Stelle konsumierten Lebensmittel bereitstellen. Soweit es mit den dortigen Lern- und Bildungsangeboten gelänge, für das Problem einer umweltbewussten Ernährung zu sensibilisieren, wäre dies ein Gewinn. Soweit die Szenerie aber nur dazu diente, den Lebensstil der Postmaterialisten mit ihrem hehren Wertekontext zu kultivieren, wäre die Wirkung kontraproduktiv. Bilder und Inszenierung, Ästhetik und Repräsentation sind unverzichtbar, aber wir müssen sie kritisch hinterfragen.
1 Zum Basisprojekt gehört zudem das Teilprojekt Küche von Prof. Dr. Joachim Krausse und Karl W. Grosse und das Teilprojekt Welt von Prof. Dr. Reinhold Leinfelder, Alexandra Hamann, Jens Kirstein und Marc Schleunitz
Projektgruppe „Die Anthropozänküche – Das Labor der Verknüpfung von Haus und Welt“/Teilprojekt „Stadt“ am Exzellenzcluster „Bild Wissen Gestaltung. Ein interdisziplinäres Labor“ an der Humboldt-Universität zu Berlin: Philipp Oswalt (Projektleitung), Stephan Barthel, Julia von Mende, Anne Schmidt mit Ilaria Cesari (Statistiken Global), Jochen Jürgensen (Statistiken Berlin), Andreas Gefe (Illustrationen) und 1kilo (Infografik). Dank insbesondere an Wolfgang Schäffner, Deborah Zehnder und Steffen Noleppa. Das Exzellenzcluster wird finanziert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen der Exzellenzinitiative.

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