Bauwelt

5 Die offenen Stadtlandschaften Europas stellen eine Ressource dar, in der sich neue Lebensformen einnisten können

Text: Viganò, Paola

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    Die offene Stadtstruktur der Zukunft braucht Vorbilder: Der Park Spoor Nord in Antwerpen von Studio Secchi-Viganò
    Foto: Ian Coormans

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    Die offene Stadtstruktur der Zukunft braucht Vorbilder: Der Park Spoor Nord in Antwerpen von Studio Secchi-Viganò

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    „Wasser und Asphalt“ – Karte der Vernetzungen von Straßen und Wasserwegen im Großraum Venedig


    Zeichnung: Universität Venedig IAUV, Paola Viganò mit G.Zaccarioto, A.Gasperini und L.Gorza

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    Zeichnung: Universität Venedig IAUV, Paola Viganò mit G.Zaccarioto, A.Gasperini und L.Gorza

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    Brüssel 2040. Strategische Räume der Stadtentwicklung: Kanäle und westlich gelegene Gärten
    Zeichnung: Studio Bernardo Secchi Paola Viganò

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    Brüssel 2040. Strategische Räume der Stadtentwicklung: Kanäle und westlich gelegene Gärten

    Zeichnung: Studio Bernardo Secchi Paola Viganò

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    Brüssel 2014 – die horizontale Metropolis: neue Schul-Cluster

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    Brüssel 2040: Modelle einer urbs in horto

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    Brüssel 2040: Modelle einer urbs in horto

5 Die offenen Stadtlandschaften Europas stellen eine Ressource dar, in der sich neue Lebensformen einnisten können

Text: Viganò, Paola

Die vielfältige europäische Stadtlandschaft hat in den vergangenen Jahrzehnten ein sehr spezielles Format von Stadt hervorgebracht. Es handelt sich um eine Art Stadt-Territorium, das sich seit den sechziger Jahren immer weiter differenziert. Dazu beigetragen haben etwa die sukzessive Ausdehnung von Verkehrsbauten und andere Infrastrukturen, die heutige Form der Landwirtschaft, dicht gestreute Siedlungs-Kerne und die isotrope, also ungerichtete Verteilung von Dienstleistungs- und Verwaltungseinrichtungen auf diesem Terrain.
Ich denke, dass es sich dabei in jeder Hinsicht um produktive Landschaften handelt, die viel weniger, als man gemeinhin annimmt, ein Problem, denn ein Kapital an Raum und Natur darstellen. Und meine Hypothese lautet, dass diese Stadtlandschaften in ihrer charakteristischen Form als erneuerbare Ressource aufgefasst und gestaltet werden können. Um eine solche Annahme zu diskutieren, müssen wir uns aber von einer Reihe vorgefasster Meinungen verabschieden. Dieses „Stadt-Territorium“ ist nicht das Ergebnis einer Erweiterung der Städte in die Vorstädte hinein, also einer Suburbanisierung, meint also nicht ein Abhängigkeitsverhältnis von der Stadt. Die oft zitierten kleinen und mittelgroßen Städte Europas mit ihrer Geschichte sind ein wichtiger Teil dieses Territoriums: manchmal als gut ausgestattete Dienstleistungszentren mit Freizeit- und Erholungsqualitäten, manchmal als randständige, halb vergessene Orte, manchmal auch als hervorgehobener Schauplatz der Gentrifizierung. Politisch betrachtet, wird dieses Stadt-Territorium, das sich von den Niederlanden über Belgien und Frankreich in den Norden Deutschlands erstreckt, oft als Ergebnis von individuellen Verwertungsinteressen abgewertet. Man unterstellt ihm blinden Lokalpatriotismus und Kirchturm-Denken. In all diesen Fällen wird diese Stadtlandschaft zum rhetorischen Gegenstück der als „gut“ bezeichneten Kernstadt – sie wird als „böse“ und städtebaulich schlicht gestrickte „Gegen-Form“ wahrgenommen. Doch eben weil diese Stadtlandschaft in der Vergangenheit meist ohne Fürsprecher auskommen musste, erfand sie sich eigene Selbstbilder, oft begleitet von konservativen beziehungsweise reaktionären politischen Positionen. Die Situation ist also schwierig, trotzdem rückt diese Form der Stadt heute wieder mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit.
Wenn man die Stadtplanung der letzten Jahre in Europa betrachtet wird deutlich, dass sich immer mehr Wettbewerbe mit diesen offenen Stadtlandschaften beschäftigen. Diese werden zu einem eigenen Thema für Entwurf und neue Projekte. Ich bin überzeugt, dass wir es aktuell mit einer wichtigen Übergangsphase zu tun haben, die noch unentschieden schwankt zwischen der bisherigen Vernachlässigung und einer neuen Anerkennung.
Bei der Gestaltung solcher Areale muss man sich aber über einige Prämissen klar werden: Der Schlüssel beim Entwerfen von solchen Stadtlandschaften liegt darin, erst einmal die Rationalisierungprozesse zu verstehen, die den unterschiedlichen Formen zugrunde liegen. In diesem Zusammenhang bilden die „alten“ Stadtzentren mit ihren komplexen Raumbeziehungen nach wie vor ein wichtiges konzeptuelles und begriffliches Reservoir.
Aus ihnen lassen sich Kriterien ableiten, um gewachsene städtebauliche Raumformen, morphologische Typologien und soziale Formationen zu beschreiben. Diese Instrumente sollten auch genutzt werden, um das städtebauliche Vokabular in der Beschreibung dieser Stadtlandschaften auf die Eigenschaften auszudehnen, die heute für sie prägend sind. Zu diesen Eigenschaften gehört zum Beispiel alles, was mit der Wasserwirtschaft zu tun hat, gehören die neuen landwirtschaftlichen Techniken, unterschiedliche Formen von Mobilität, die Energieerzeugung und vieles mehr. Die zugrunde liegenden Rationalisierungsprozesse sind allerdings nicht mehr der Ausdruck für dauerhafte Zustände, sondern können sich schnell ändern, abhängig von den jeweiligen Machtverhältnissen oder den veränderten ökonomischen Nutzungserwägungen.
Wenn man diese Stadtlandschaft durch die Brille der sich ändernden ökonomischen Produktion und der Lebensformen ihrer Bewohner betrachtet, ergibt sich womöglich gerade mit Blick auf diese Unbeständigkeit eine kritische Lesart, die in die Irre führt. Denn die hier vorhandenen anpassungsfähigen Verhältnisse weisen eben auch eine Großzügigkeit auf, die neue Techniken von städtebaulichem Recycling stimulieren können und auch neue Lebensformen möglich machen.
Die offene Stadtlandschaft hält gerade in ihrer Wandlungsfähigkeit Möglichkeiten für eine Zukunft bereit, in der Migrationswellen und demografische Krisen sich in vielen europäischen Ländern auswirken werden. Es spricht nichts dagegen, diese Räume als eine Art glücklicher Ressource zu betrachten, als Grundlage, um ein neues urbanes Miteinander zu erkunden.
Die Regulierung der Nachkriegsstadt in Europa
Das Nachdenken über unterschiedliche Lebensphasen der Bewohner an einem Ort und der immer wichtigere Stellenwert der Ökologie bringen in-sofern auch die Frage nach dem „Leben an sich“ in die Debatte über die Stadtform zurück. Nicht im Sinne eines längst überholten Analogie-Konzeptes, das den biologischen Organismus als Modell für eine städtische Gesellschaftsordnung versteht, sondern als Rahmen, der die Bewohner zuerst als individuelle Lebewesen und Subjekte auffasst.
Michel Foucault hat in diesem Zusammenhang von „biopouvoir“, also von Bio-Macht gesprochen. Er bezeichnete damit „Machttechniken“, die nicht auf den Einzelnen, sondern auf die Bevölkerung als Ganzes zielen. Zu dieser Biopolitik gehören etwa die Regulierung der Fortpflanzung, Gesundheitsdaten, die Geburten- und Sterberate, die Wohnverhältnisse und vieles mehr. Ihr Ziel ist die Regulierung der Bevölkerung als Ganzes. Dies ist natürlich ein zutiefst wirtschaftlich-utilitaristischer Ansatz.
In seinen letzten Texten hat Bernardo Secchi die Rolle europäischer Stadtplanung auf der Grundlage von Foucault als Teil einer solchen Biopolitik beschrieben. Die Methoden der modernen westlichen Städteplanung zielten, so Secchi, auf einen Entwurf von Stadt und Umland „als Teil einer größeren biopolitischen Handlungsstrategie.“ Insbesondere beim Wiederaufbau der europäischen Städte nach dem Zweiten Weltkrieg kamen diese zum Tragen.
Von der autofreien Stadt zur urbs in horto: Poröse Stadt entwerfen
Dieses methodische Denken ist, von einigen Ausnahmen abgesehen, bis in die heutige Zeit gültig. Der veränderte räumliche, soziale und wirtschaftliche Kontext der heutigen Stadt fordert aber eine Neudefinition. Während Foucaults Kritik in „Sicherheit, Territorium und Bevölkerung“ noch auf die Neuordnung der urbanen Umgebung, die Verteilung der Ressourcen und auf Gesundheitsfragen abhob, sind wir heute dazu aufgerufen, ein neues urbanes Programm im Sinne von „Wie gemeinsam leben“ zu definieren.
Die europäische Stadt macht zurzeit einen Umbruch durch, der alle räumlichen Strukturen gleichermaßen betrifft. Man braucht nur eine kurze Strecke durch London zu flanieren, um sich die Unerbittlichkeit von Verdrängungsprozessen vor Augen zu führen; es springt einem sofort ins Auge, wie diese exklusiven „Nester“ des Wohnungsbaus und das Potpourri aus falscher Nostalgie funktionieren. Der positive Aspekt dieser Umbrüche ist allerdings, dass viele Dinge in Bewegung geraten sind. Nichts ist mehr von vornherein fix und festgeschrieben, noch nicht einmal im Bereich des täglichen Lebens.
Ich halte den Moment für gekommen, über grundsätzliche Veränderungen zu reflektieren und dem altbekannten Bild von Stadt ein neues gegenüberzustellen. Alles ist heute denkbar: die autofreie Stadt, Recyclingquoten von einhundert Prozent, eine Re-Industrialisierung aus kleinen Produktionsorten genauso wie das Verschwinden des wuchernden Dienstleistungssektors an den Rändern der Städt. Neue städtebauliche Entwürfe für den Umgang mit Katastrophen, etwa bei Überschwemmung oder bei Dürre, sind von uns gefordert. Wir müssen neue Mobilitätskonzepte und öffentliche Räume entwickeln, uns die Gestalt einer urbs in horto, also einer von Gärten durchwebten Stadt vorstellen können und mehr als bisher in den Kategorien von Durchlässigkeit und Porosität, Vernetzung und isotropen, ungerichteten Strukturen denken. Wie wir der wirtschaftlichen und kulturellen Krise in Europa begegnen, hängt für mich essentiel mit der Gestaltung des städtischen Raumes zusammen, die öffentlich diskutiert und gemeinsam in Angriff genommen werden muss. Das ist jedenfalls einer von wenigen möglichen Standpunkten, die wir als Architekten und Stadtplaner von unserer marginalen Position aus einnehmen können, um an einem positiven Gesellschaftsentwurf mitzuarbeiten.

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