Bauwelt

„Man muss auch den Mut zum Fehler haben“

Zwischen 2008 und 2014 trafen Frei Otto und Rudolf Finsterwalder sich für mehrere Gespräche. Ein vor sieben Jahren geführtes Interview ist zu großen Teilen in dem Buch „Form Follows Nature“ erschienen, für das Frei Otto auch einige Beiträge verfasste. Unter gleichem Titel kuratierte Finsterwalder im Dezember 2011 mit seiner Büropartnerin Maria Finsterwalder in der Berliner Galerie Aedes eine Ausstellung (Bauwelt 3.2012). Den Ausgangspunkt für Buch und Ausstellung bildete die Auseinandersetzung mit Formen und Strukturen der Natur. Es sollte sowohl ein geschichtlicher Abriss über die Beschäftigung des Menschen mit der Natur gegeben werden als auch ein Ausblick auf weitere Möglichkeiten des Lernens von der Natur. Im Vordergrund stand das Aufzeigen der Vielfalt, die dieses Thema bietet sowie der Möglichkeiten, mit denen man sich diesem Thema widmen kann. Neben Beiträgen von Architekten ergänzten solche von Naturwissenschaftlern, Künstlern und Mathematikern das Buch und auch die Ausstellung. Seine eigene Arbeit sieht Finsterwalder ebenfalls unmittelbar von Frei Ottos Arbeit beeinflusst. Gemeinsam mit Studenten baute er in der Villa Massimo mit einfachen Mitteln einen Pavillon, der 60 Personen Platz bot. Dafür wurden jeweils zwei sich gegenüberstehende, sechs Meter lange Flacheisen (30 x 10 mm), die an einer Bodenplatte befestigt waren, gebogen und mit Schellen verbunden. Dadurch erhielt die Konstruktion ihre Stabilität. Anschließend wurde dieses Skelett mit einer dehnbaren Kunststofffolie, wie sie zur Verpackung in der Industrie verwendet wird, umwickelt. „Beinahe wie ein aufliegender Tropfen“, kommentierte Frei Otto den Pavillon. Wir baten den Architekten, aus dem 2008 mit Frei Otto geführten Interview die wesentlichen Punkte unter verschiedenen Stichwörtern zusammenzufassen.

Text: Finsterwalder, Rudolf, Stephanskirchen

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    Rudolf Finsterwalder (rechts) ist Architekt und leitet seit 2000 zusammen mit Maria Finsterwalder das Büro Finsterwalder Architekten. Zuvor arbeitete er in Berlin bei Ortner & Ortner und in Porto bei Álvaro Siva. Er ist Herausgeber des Buches „Form Follows Nature“.
    Foto: FinsterwalderArchitekten

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    Rudolf Finsterwalder (rechts) ist Architekt und leitet seit 2000 zusammen mit Maria Finsterwalder das Büro Finsterwalder Architekten. Zuvor arbeitete er in Berlin bei Ortner & Ortner und in Porto bei Álvaro Siva. Er ist Herausgeber des Buches „Form Follows Nature“.

    Foto: FinsterwalderArchitekten

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    Wie ein aufliegender Tropfen – zusammen mit Studenten realisierter Pavillon von Finsterwalder
    Foto: FinsterwalderArchitekten

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    Wie ein aufliegender Tropfen – zusammen mit Studenten realisierter Pavillon von Finsterwalder

    Foto: FinsterwalderArchitekten

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    Formfindungsmodell eines Lichtauges für den Stuttgarter Tiefbahnhof
    Foto: Martin Kunz/saai

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    Formfindungsmodell eines Lichtauges für den Stuttgarter Tiefbahnhof

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    Erste Anwendung einer Gitterschale: die Multihalle in Mannheim, 1975
    Foto: Hubert Berberich

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    Erste Anwendung einer Gitterschale: die Multihalle in Mannheim, 1975

    Foto: Hubert Berberich

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    Japanischer Pavillon auf der EXPO 2000
    Foto: Hiroyuki Hirai

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    Japanischer Pavillon auf der EXPO 2000

    Foto: Hiroyuki Hirai

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    Diplomatic Club in Riyadh, Saudi-Arabien, 1986, zusammen mit Ted Happold und Omrania
    Foto: Sebastian Redecke

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    Diplomatic Club in Riyadh, Saudi-Arabien, 1986, zusammen mit Ted Happold und Omrania

    Foto: Sebastian Redecke

„Man muss auch den Mut zum Fehler haben“

Zwischen 2008 und 2014 trafen Frei Otto und Rudolf Finsterwalder sich für mehrere Gespräche. Ein vor sieben Jahren geführtes Interview ist zu großen Teilen in dem Buch „Form Follows Nature“ erschienen, für das Frei Otto auch einige Beiträge verfasste. Unter gleichem Titel kuratierte Finsterwalder im Dezember 2011 mit seiner Büropartnerin Maria Finsterwalder in der Berliner Galerie Aedes eine Ausstellung (Bauwelt 3.2012). Den Ausgangspunkt für Buch und Ausstellung bildete die Auseinandersetzung mit Formen und Strukturen der Natur. Es sollte sowohl ein geschichtlicher Abriss über die Beschäftigung des Menschen mit der Natur gegeben werden als auch ein Ausblick auf weitere Möglichkeiten des Lernens von der Natur. Im Vordergrund stand das Aufzeigen der Vielfalt, die dieses Thema bietet sowie der Möglichkeiten, mit denen man sich diesem Thema widmen kann. Neben Beiträgen von Architekten ergänzten solche von Naturwissenschaftlern, Künstlern und Mathematikern das Buch und auch die Ausstellung. Seine eigene Arbeit sieht Finsterwalder ebenfalls unmittelbar von Frei Ottos Arbeit beeinflusst. Gemeinsam mit Studenten baute er in der Villa Massimo mit einfachen Mitteln einen Pavillon, der 60 Personen Platz bot. Dafür wurden jeweils zwei sich gegenüberstehende, sechs Meter lange Flacheisen (30 x 10 mm), die an einer Bodenplatte befestigt waren, gebogen und mit Schellen verbunden. Dadurch erhielt die Konstruktion ihre Stabilität. Anschließend wurde dieses Skelett mit einer dehnbaren Kunststofffolie, wie sie zur Verpackung in der Industrie verwendet wird, umwickelt. „Beinahe wie ein aufliegender Tropfen“, kommentierte Frei Otto den Pavillon. Wir baten den Architekten, aus dem 2008 mit Frei Otto geführten Interview die wesentlichen Punkte unter verschiedenen Stichwörtern zusammenzufassen.

Text: Finsterwalder, Rudolf, Stephanskirchen

Vorbild Natur
Welche Erkenntnisse haben Sie aus der Beschäftigung mit der Natur gezogen?
Die Natur ist äußerst komplex. Uns interessieren Prozesse, die mit der Gestaltentstehung in der nichtlebenden Natur (z.B. Flüssigkeiten, Steine, Gase) und der lebenden Natur (Pflanzen, Tiere) zu tun haben, die von Schwerkraft, Festigkeit und tragfähigen Konstruktionen abhängen, wobei unser Augenmerk Entwicklungsprozessen gilt.
Ist der Mensch gezwungen, zu vereinfachen und eigene Wege zu finden, weil er diese über Jahrmillionen gewachsene Komplexität nicht erreichen kann?
Nein, das Konstruieren durch den Menschen fängt erst richtig an. Für mich ist die Geschichte des Konstruierens wichtiger als die Architekturgeschichte.
Sie haben so vergängliche Dinge wie Wassertropfen untersucht und daraus Erkenntnisse
für Bauwerke und Konstruktionen gewonnen.
Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, warum nicht nur die Oberflächenspannung eine Form bestimmt, sondern vor allem Netze die Gestalt in der lebenden Natur bewirken. Mit den Studien über die Entstehung eines Wassertropfens haben wir die Suche nach Erklärungsmodellen zur biologischen Gestaltentstehung begonnen. Komplexe Dinge wie eine Muschelschale sind viel schwieriger zu untersuchen. Der Paläontologe Adolf Seilacher legte mir zwei Schneckenschalen auf den Tisch und gemeinsam überlegten wir, ob man durch mechanische Prüfungen herausfinden könne, welche der beiden lebensfähiger sei.
Was haben Sie herausgefunden?
Wir fanden keine Prüfmethode zur Beantwortung dieser Frage. Seilacher vermutete, dass eine der beiden Arten in der Kreidezeit nur deshalb ausgestorben sei, weil ihre Schale nicht so gut war. Die Erhärtung dieser Objekte ist irgendwann erfolgt, als die Weichtiere wahrscheinlich schon hoch entwickelt waren. Die lebende Natur entstand im gewichtslosen Bereich, im Wasser. Es gab dann eine Entwicklung in der Entstehung der weichen Lebewesen, bei der auch harte Teile erzeugt wurden. Die Entstehung der weichen Lebewesen ist älter als die der harten. Ohne die Entstehungsgeschichte der Weichen sind also solche mit teilweisen Erhärtungen nicht denkbar. Kein Lebewesen ist total hart, nicht einmal eine Auster, die durch viel Materialansammlung statisch am Meeresboden liegt. Der lebende Teil ist weich.

Ließen sich diese Erkenntnisse in eine Konstruktion übertragen?
Bei der Aufgabe, eine riesige unterirdische Halle zu bauen, begann unser Konzept mit einer flüssig-weichen Struktur, die dann als Gewölbe erhärten sollte. Wenn man eine Form gefunden hat, die durch eine Linie gleicher Krümmung in einer druckbeanspruchten Fläche mit einem Druckstab beschrieben wird, Gewölbe genannt, ist es möglich, die gleiche Form in bereits auf der Erde existierenden natürlichen Steinformationen wie z.B. in den USA am Paulssee oder in Utah wiederzuerkennen.
Ist nicht jede Höhle oder Kaverne eine solche Schale?
Die Innenfläche einer Höhle kann als Schalentragwerk bezeichnet werden, aber nicht alle natürlichen Höhlen sind stabile Tragwerke. Viele neigen z.B. dazu, bei Erdbeben einzufallen.
Es könnte also sein, dass Sie etwas entwickelt haben, was in der Natur nicht existiert.
Ja! Wichtig ist, dass eine Form entsteht, die allen Angriffen der nichtlebenden Natur begegnen kann.
Können Sie konkrete Beispiele aus Ihrer Arbeit dazu nennen?
Die Lichtaugen für den unterirdischen Stuttgarter Hauptbahnhof sind wohl das extremste Beispiel, da die meisten anderen Formen in der nichtlebenden Natur bekannt sind: Schüttkegel, Düne oder Deich. Möglicherweise lässt sich diese Form auch in der lebenden Natur finden, beispielsweise bei der Spongiosa, dem Schwamm.
Bionik, Nachhaltigkeit & Ökologie
Inwiefern haben Sie sich in Ihrer Arbeit von der Natur als Lehrmeister emanzipiert, wie etwa Frank Lloyd Wright? Für ihn war zunächst „Form Follows Nature“, oder, wie er es nennt, „Organic Architecture“, ein wichtiger Leitsatz.
Für Wright war vor allem die Idee des ganzheitlichen Denkens, das sich auf alle Bereiche des Lebens bezog, wichtig. Ich war immer Beobachter und habe technische Erfindungen in der Natur wiedergefunden.
Das Darwin-Jahr 2009 bot den Anlass für Diskussionen über die Theorie der bedingungslosen Optimierung in der Natur.
Es gibt eine Optimierung, aber nicht bedingungslos. Wenn man versucht, den heutigen Darwinismus wissenschaftlich zu betrachten, so entwickelt sich ein Lebewesen aus dem Vorhergehenden und ermöglicht einer Art die Chance zum Überleben. Als man festgestellt hat, dass es nicht allein das Überleben des Stärkeren gibt, hat man den Begriff „fit“ eingeführt, der die geistigen Fähigkeiten zum Teil mit einschließt. Ich habe Hemmungen, wenn alle sagen: Die Millionen Jahre Entwicklungszeit der lebenden Natur brauchen wir nur zu nutzen – schon haben wir eine bessere Umwelt. Unsere Zeit ist gefärbt durch die Worte Ökologie und Nachhaltigkeit. Der früheste Ursprung des Wortes Nachhaltigkeit stammt von einem Oberforstmeister, der bei August dem Starken arbeitete. Er hatte Holz an die Bergwerke zu liefern und setzte beim König durch, dass nur so viel Holz geschlagen wird, wie nachwächst, sprich wie nachgehalten werden kann. Genau darüber haben Richard Burton und ich nachgedacht, als wir für den Bau einer Holzbauschule frisches Stangenholz, das wieder nachwächst, verwendeten. Dafür haben wir dann einen Preis für Nachhaltigkeit im Städtebau bekommen.
Die Begriffe Ökologie und Nachhaltigkeit müssen klar definiert sein.
Ich werde in der Literatur zur Bionik in aller Welt als Kronzeuge angeführt. Man kann sich einfach nicht vorstellen, dass sich zwar bei manchen meiner Leichtbauten formale Analogien zu Objekten der lebenden Natur aufdrängen, dass sie aber ohne Vorbild entwickelt und Ähnlichkeiten in der Natur erst nachträglich festgestellt wurden. Es ist wichtig, Begriffe wie Ökologie oder Nachhaltigkeit und auch den Modebegriff Bio-nik zu hinterfragen. In der heutigen Gesellschaft ist die Denkweise vorherrschend: Was in der Natur ist, ist gut! Die Themen Ökologie oder Bionik werden als Garant für gute Arbeitsergebnisse angesehen. Das ist logisch! Man erfährt bereits in der Schulbiologie von der Entwicklung der Arten und des Menschen. Daraus scheint der Rückschluss zu entstehen, dass heute lebende Objekte optimal seien und Vorbild für Konstruk-tionen des Menschen sein können. Aber man muss immer zum kritischen Hinterfragen anregen!
Frei Ottos Methode
Die Grundlagen werden in der Architekturlehre nicht mehr vermittelt. Und statt in die Forschung zu investieren, liegt der Fokus auf der Anwendung.
Wer kann schon das menschliche Tun in der Gesellschaft als Ganzes begreifen? Für mich ist auch die von Menschen geschaffene Kunst ein Teil der Natur. In der Akademie der Künste, Berlin, gibt es die Auffassung, dass Kunst politisch ist. Aber man kann die freie Kunst auch so sehen, dass sie das Einzige im menschlichen Leben ist, was nicht politisch ist. Die Baukunst im öffentlichen Raum ist aber immer politisch. Als Teil des menschlichen Tuns hat Baukunst zwar auch eine Beziehung zur Natur, aber der Einfluss der Politik kann so stark werden, dass er die Kunst beengt.
Warum wird Ihre Arbeit heute so wenig fortgeführt?
Die meisten Architekten wollen heute bauen, Ideen umsetzen und sie nicht wissenschaftlich weiterführen. Sie scheuen den mühseligen Weg der Forschung.
Aber nur so konnten Bauten wie in München oder Montreal realisiert werden. Die Projekte verfolgen einen wirklich revolutionären Ansatz.
Wir stellten der Fachwelt zum ersten Mal weit spannende, wetterfeste, textile Konstruktionen vor – als Fortführung des uralten Zeltbaus – mit einem guten Team von Architekten, Ingenieuren und Ausführenden. Zeltbauten sind in ihrer Tragwirkung auch als Schalen zu bezeichnen, die jedoch durch ihre Neigung zum Ausknicken, Ausbeulen, beim Bau größere Schwierigkeiten machen. Lange Zeit meinte man, dass das hyper-bolische Paraboloid die Lösung sei, bis ich entdeckte, dass die Schwachstelle entlang der sogenannten geraden Erzeugenden liegt. Mit dem Kontinuum haben wir diese vermieden, d.h. mit einem Objekt, das an jeder Stelle gekrümmt ist, obwohl eine Sattelfläche an zwei Linien gerade Schnitte hat. Meine erste Realisation einer weit spannenden Schale war die Multihalle Mannheim 1971–75. Letztendlich kann man sagen, die Tendenz zur Selbsterzeugung der Form zu verstehen ist schwer. Es gehört beinahe ein Lebenswerk dazu, um die Natürlichkeit der Schale zu begreifen, die das Ergebnis eines Prozesses ist.
Die Konstruktion der Multihalle ist so weit entwickelt, dass man erwartete, sie in der nichtlebenden Natur zu finden.
Ja, besonders da sie eine sehr wirtschaftliche Lösung ist. Mit dieser Vermutung stehen wir am Anfang einer neuen Erkenntnisgeschichte. Man kann aber nicht einfach sagen: Folgt den Formen der Natur, dann macht ihr schöne Bauten!
Es ist unglaublich, was für Anstrengungen unternommen werden, damit Gebäude „natürlich“ aussehen. Eigentlich passiert oft das Gegenteil: Sie sind zutiefst „unnatürlich“. Wenn nicht der Anspruch verfolgt wird, ganzheitlich zu denken, Konstruktion, Architektur und Funktion zusammen zu bringen, wenn der Formwille dominiert, dann ist es keine Architektur, dann ist es Design.
Der Unterschied zwischen Design und Architektur ist seit den Zwanziger Jahren ein Thema. Am Ende einer ehrlichen, funktionalen Arbeit kann durchaus ein Objekt stehen, das als schön empfunden wird. Allein mit dem Willen zur Schönheit wird man sie nicht erreichen. Wenn wir ehrlich gearbeitet haben, bekommen wir sie manchmal geschenkt.
Mies hat keine konstruktive Ehrlichkeit propagiert und sich dennoch intensiv damit auseinander gesetzt. Heute werden an den Unis Projekte anhand von 3D-Bildern nach dem Prinzip „Try and Error“ entwickelt. Meistens sind sie dann nur aus einer Perspektive schön.
Mich interessiert vor allem die Frage, was gut ist und ob die Begriffe „gut“ und „schön“ voneinander abhängen, weniger der alte Leitsatz: „form follows function“. An den amerikanischen Unis endet eine Diskussion oft mit dem nicht zu widersprechenden „but I like it“. Es hat viele Lehrer gegeben, die dieses Mögen auf ihre Fahne schrieben, so auch Minoru Yamasaki, der, wie auch ich, 1958 an der Washington University in St.Louis lehrte. Ich habe mich damals mit Yamasaki über technische und auch ästhetische Schwächen der Entwurfsmodelle für die zwei Türme des World Trade Centers in New York gestritten. Daran musste ich nach der furchtbaren Zerstörung der Türme 2001 denken.
Symmetrie/Asymmetrie
Hegel sah in der Symmetrie und Harmonie der Natur das Maximum an Schönheit, Adorno sah sie im Gegensatz in einer zufälligen Störung der Perfektion. Welche Rolle spielten Symmetrie und Asymmetrie bei Ihren Konstruktionen?
Bei asymmetrischen Membranbauten oder -netzen spielen Ungenauigkeiten eine geringere Rolle als bei symmetrischen. Bei einer Form wie dem Tanzbrunnen, der sechs Spiegelachsen hat und damit zwölf Teile, kann sich ein kleiner Fehler im Zuschnitt zu einem fatalen Fehler im Gesamten addieren. Ich bin der Meinung, dass die Symmetrie bei meinen wichtigsten Bauten, dem Eingangsbogen und dem Tanzbrunnen für die Bundesgartenschau in Köln 1957, richtig war. Bei der Entscheidung für oder gegen Symmetrie spielt die Herstellungsmethode eine wichtige Rolle. Menschliche Funktionen zwingen selten zur Symmetrie, menschliche Bedürfnisse verlangen keine perfekte Symmetrie an Bauten, wohl aber zuweilen eine gewisse Dosierung von Gleichmaß. Das Spiel zwischen Asymmetrie und Symmetrie oder Gleichmaß bleibt interessant und ist Basis des Entwerfens von Architektur.Das, was man in der Natur als schön empfindet, ist dieses Gleichmaß, das sich Wiederholende, Regelhafte, was einem Objekt innewohnt.
Schwer zu verstehen ist Gleichmaß im Ungleichmaß von Schalen und Membranen. Die gleichmäßig, gestützte Fläche im Entwurf für den neuen Stuttgarter Tiefbahnhof (2000) ist sowohl ein Beispiel für Ungleichmaß als auch für Gleichmaß. Man kann sie aus gleichen Teilen zusammensetzen und daraus ein Kontinuum herstellen, das sich beispielsweise bei der Konstruktion der Gitterschale von selbst einstellt und insgesamt die Form einer Minimalfläche bildet. Diese Fläche ist an keinem Punkt direkt gekrümmt, dennoch ist sie insgesamt gekrümmt. Gelungene Anwendungen von Minimalflächen gelten heute als hohe Kunst des Schalen- und Gewölbebaus in der Architektur.
Wie ist es bei der Multihalle in Mannheim, Ihrer ersten Anwendung eines Kontinuums, ist sie symmetrisch?
Sie ist insofern symmetrisch, als der Holzgitterrost ein Gleichmaß von 50 Zentimetern aufweist. Sie ist weitgehend ein Kontinuum und eine Minimalfläche. Bei solchen Gitterschalen sind alle Krümmungen elastisch. Ohne die äußere Dachhaut lässt sich die Schale flach zusammenfalten und mit geringem Volumen transportieren. Genau so haben wir es auch mit dem Pavillon für die Expo 1967 in Montreal gemacht.
Shigeru Ban hat bei einem kleinen Dach Latten zum Gitterrost verbunden, das Ganze angehoben und dann die Knoten fixiert.
So haben wir es für den Japanischen Pavillon auf der EXPO 2000 in Hannover erarbeitet.
Transdisziplinäre Zusammenarbeit
Wie kam es zu ihrer Zusammenarbeit mit Experten anderer Fachrichtungen?
Es waren eigentlich die Biologen, die gemerkt haben, dass wir mit den Bedingungen für die Entwicklung von Membranen und Flächentragwerken die gleichen Strukturen hatten, wie bei der Entstehung von Objekten in der lebenden Natur. Durch die Neugier für Pneus, Zelte, Leichtbauten kamen solche Ergebnisse zutage, jedoch ungezielt.
Außergewöhnlich war, dass verschiedene Disziplinen zusammen gearbeitet haben. Inzwischen wird zu wenig fachübergreifend gearbeitet, es gibt zu viel Spezialisierung.
Es kann nur gute Ergebnisse geben, wenn sich Interessierte aus verschiedenen Disziplinen auf die Arbeiten der anderen einlassen.
In der Villa Massimo in Rom war für mich der Austausch mit den anderen Disziplinen sehr fruchtbar, weil man merkt, dass die anderen an ähnlichen Dingen arbeiten wie man selbst.
Gute Forschungsergebnisse sind oft vom Zufall abhängig, ergeben sich manchmal allein aus freundschaftlichen Gesprächen oder auch aus konkurrierenden Ansichten.
Man müsste in Deutschland fachübergreifende Arbeiten fördern. Gibt es heute ähnliche Einrichtungen wie das Stuttgarter Institut für leichte Flächentragwerke?
Eigentlich nicht. Man muss auch den Mut zum Fehler haben. Wenn etwas mehr als zur Hälfte richtig ist, dann lohnt es sich weiter zu arbeiten.
Es gibt eine Theorie des Scheiterns: Lieber grandios scheitern, als nie etwas versucht zu haben. Ohne dieses Risiko hätte es viele Inno-vationen wie Ihre Pionierleistungen nicht gegeben.
Es gab schon einen langen Entwicklungsgang vor unseren Forschungen. Die Ursprünge sind Tausende Jahre alt.
Fakten
Architekten Frei Otto (1925-2015)
aus Bauwelt 20.2015
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