Bauwelt

Wegbereiter der Abstraktion

Ornament­grafik im Kunstmuseum Wolfsburg

Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig

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Foto (Auschnitt): Claus Cordes, Bildarchiv herzog-Anton-Ulrich-Museum Braunschweig

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Wegbereiter der Abstraktion

Ornament­grafik im Kunstmuseum Wolfsburg

Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig

Unter dem Generalthema „Auf der Suche nach der Moderne im 21. Jahrhundert“ unternimmt das Kunstmuseum Wolfsburg immer wieder „Sondierbohrungen“ in die vormoderne Kunst. Diesmal wagt man den Sprung zurück in den Zeitraum vom 15. bis ins 18. Jahrhundert und in ein Genre jenseits der Hochkunst – Blätter der Ornamentgrafik.
Die These, der das Museum anhand von 100 Holzschnitten und Stichen von Dürer bis Piranesi nachgeht: Zwar hätten die Arbeiten natürlich als Vorlagenblätter für Architekturelemente, Kunsthandwerk und Raumausstattungen fungiert, und gelegentlich wurden sie auch unmittelbar als solche verwendet (etwa die Rapporte der Granatapfeltapete, eines anonymen, ungefähr DIN A3 großen Holzschnitts aus dem 16. Jahrhundert). Doch sei das längst nicht alles. Vielmehr sei die Ornamentgrafik ein Experimentierfeld gewesen, in dem sich die reine Form des Ornaments verselbständigte; die angewandten künstlerischen Prinzipien wie Variation oder Wiederholung hätten geholfen, der Abstraktion den Weg zu ebnen. Damit sei das Ornament eben nicht das sprichwörtliche Verbrechen plebejischer Gesinnung, das Adolf Loos 1908 polemisch brandmarkte, sondern, als frühe Tendenz zum Ungegenständlichen, die Emanzipation der Kunst aus ihrem mimetischen Grundprogramm.

Was erwartet einen also in der Schau? Zunächst einmal eine kompakte Ausstellungsarchitektur aus kleinen Kabinetten, in dunklen Tönen des Farbklaviers von Le Corbusier gefasst. Wegen der Lichtempfindlichkeit der Exponate beschränkt sich die Beleuchtungsstärke auf gedämpfte 50 Lux, was wohltuend die konzentrierte Atmosphäre unterstreicht. Denn Konzentration benötigt man, um mit der Lupe in die teils winzigen, nuancenreichen Blätter einzutauchen, in eine „erstaunliche Welt, die nicht immer jugendfrei ist“, wie Museumsdirektor Markus Brüderlin es ausdrückt. Am Beginn stehen sechs Blätter der axialsymmetrischen Knoten von Albrecht Dürer nach Leonardo da Vinci. Die sich kunstvoll verflechtenden Schnüre verdeutlichen exemplarisch die plastische Qualität der Ornamentgrafik. Feine Schatten und minutiöse geometrische Überlagerungen entfalten eine reliefartige Tiefenwirkung.

Die raumsuggerierende Kraft ist das durchgehende Merkmal aller Darstellungen. Komplizierte Durchdringungen, Körperschatten, Schlagschatten und weiße Höhungen liefern Lektionen darstellender Geometrie in Bestform. Als Sujets liegen Architekturphantasien, tektonische Elemente wie Kandelaber, Baluster, Kapitelle und Gebrauchsgegenstände wie Vasen oder Konsoltische nahe. In ihrer grafischen Ausformulierung kumulieren die Themen zu komplexen szenischen, mitunter erotisch angehauchten
Erfindungen, deren Merkmale sich in Klassifikationen von Schnecken- oder Bandelwerk, von Rocaille bis Groteske kaum erschöpfend fassen lassen. Auch manche Skurrilität findet sich, etwa Enea Vicos Darstellung einer Kanne mit einem Griff in Gestalt eines aus ihr trinkenden Hundes.

In der dreidimensionalen Materialisierung allerdings, das offenbart eine große fotografische Reproduktion von François de Cuvilliés Spiegelsaal der Amalienburg in München, schwindet der plastische Assoziationsreichtum des Ornaments: Es verflacht zu dekorativem Stuckwerk.

Die Exponate sind größtenteils Leihgaben des Braunschweiger Herzog-Anton-Ulrich-Museums. Zur Mitte der Ausstellungslaufzeit werden sie aus konservatorischen Gründen ausgetauscht. Seit September sind sie durch einen Exkurs in das grafische Werk von Frank Stella erweitert, dem das Haus eine Retrospektive widmet. Stellas Weg vom Minimalen zum Maximalen schöpfe aus der raumbildnerischen Qualität des Ornaments, so das Credo der Kuratoren.

Architekten allerdings werden in einem Aktualitätsvakuum zurückgelassen. Eine neue Ornamentsucht ist in ihrer Disziplin ja nicht zu übersehen: Aufgedrucktes, Eingeätztes, Ausgestanztes, allgegenwärtig auf Fassaden und im raumbildenden Ausbau. Schlummert in diesen Bau-Tattoos abermals ein befreiendes Aufbegehren? Ist die Raumhülle womöglich das letztmögliche künstlerische Derivat in ansonsten wirtschaftlich optimierten Baugefügen? Das moderne Ornament, erneut als bekleidende Flachware – die Granatapfeltapete des 21. Jahrhunderts?
Fakten
Architekten Loos, Adolf (1870-1933); Corbusier, Le (1887-1965); Dürer, Albrecht (1471-1428); da Vinci, Leonardo (1452-1519)
aus Bauwelt 37.2012
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