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Public on Demand. Das Erdgeschoss als verlängertes Wohnzimmer der Stadt

Strategien für Collective Spaces

Text: Rettich, Stefan, Leipzig

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Public on Demand. Das Erdgeschoss als verlängertes Wohnzimmer der Stadt

Strategien für Collective Spaces

Text: Rettich, Stefan, Leipzig

Die viel gelobte Renaissance der Innenstadt geht auf Kosten der ebenso beliebten Freiräume. Als Sofortmaßnahme fordert unser Autor: Erdgeschosszonen freihalten und abwarten, was passiert
Die Zeit der Volvo-Muttis ist vorbei. Junge Frauen denken nicht mehr daran, sich dem Familiendiktat der Grünen Wiese unterzuordnen, und den ganzen Tag durch den suburbanen Raum zu cruisen, zur Schule, zum Einkaufen, zum Sport, in die Klavierstunde, zu Freunden und wieder zurück ins Eigenheim. Die jungen Urbanen, Männer wie Frauen, zieht es in zentrale Lagen. Das entspricht ihrem an Nachhaltigkeit ausgerichteten Lebensstil, und offenbar lassen sich dort auch ihre Vorstellungen von Beruf, Familie und Freizeit besser miteinander vereinbaren, zumal wenn man doppelt verdient und es sich leisten kann. Auch ihre Eltern plagt die Langeweile in der Zwischenstadt, nachdem die Küken ausgeflogen sind. „Empty Nester“ nennen Soziologen dieses Phänomen, und zusammen mit den jung gebliebenen und gut betuchten „Best Agern“ drängt es fast die ganze Mittelschicht einer Seniorengeneration wieder zurück in die Stadt. Endlich passiert, wonach sich Planer und Architekten der Europäischen Stadt seit mehr als einer Generation sehnen: Reurbanisierung!
Ende der Suburbanisierung
Diesen soziologischen Befund teilen auch die Geografen. Das Institut für Länderkunde etwa kommt zu dem Schluss, dass die Phase der Sub­urbanisierung, die Deutschland immerhin seit den 60er Jahren prägt, heute ein Auslaufmodell ist. Wir stehen also vor einem grundlegenden Wandel in der Regional- und Stadtentwicklung. Das liegt im Wesentlichen am Bevölkerungsrückgang. Aber die Gründe sind regional verschieden, denn der demografische Wandel bildet sich räumlich nicht homogen ab. Unterschiedliche Dynamiken auf dem Arbeitsmarkt führen zu Prozessen der Binnenmigration und zu einer regionalen Polarisierung der demografischen Entwicklung. Das hat dazu geführt, dass heute nur noch etwa dreißig Prozent der Städte Einwohner hinzugewinnen, und dort wird in der Regel versucht, das Phänomen der Suburbanisierung durch gezielte Innenentwicklung zu mildern. Selbst die großen Bevölkerungsmagneten wie München oder Hamburg wollen den Wohnungsmangel auf innerstädtischen Konversionsflächen lösen. In Hamburg sind dies neben der Hafen-City auch die Neue Mitte Altona, die auf ehemaligen Bahnanlagen entwickelt wird, und die Elbinsel Wilhelmsburg, die gerade unter dem Begriff der Metrozone planerisch mit einer IBA bearbeitet und als zentrumsnahes Gebiet für weitere Aufwertung und Nachverdichtung vorbereitet wurde. Das Wohnungsproblem über das wir reden, ist also ein Problem von den wenigen Städten in den prosperierenden metropolitanen Regionen. Es ist die Folge von deren relativer wirtschaftlicher Potenz in Kombination mit dem allgemeinen Wandel der Lebens- und Wohnstile.
Gentle Gentrification
Die neuen Reurbaniten sind keine Städter, die sonderlich an gesellschaftlicher Teilhabe interessiert sind. Es sind in der Regel besser gestellte Lebensstilgruppen und hochindividualisierte Autisten, die ihr Modell von der Grünen Wiese in die Innenstädte importieren – samt Garten. Der Sinn fürs Grüne scheint eine der wenigen sozialen Schnittstellen, denn auf Grund der knappen und teuren Grundstücke wird im Kollektiv gegärtnert oder, wie zum Beispiel in Leipzig, die bislang schrumpfende und überalterte Schrebergartenszene neu belebt. Die Vorstellung, dass eine höhere Bevölkerungsdichte automatisch eine breitere soziale Mischung mit sich bringt, hat sich schnell als naiv herausgestellt. Die neue Dichte hat mit unerwarteter Wucht zu Gentrifizierung und Verdrängung geführt und wirft ganz nebenbei ein überraschendes Licht auf die suburbane Phase: Die inneren Lagen waren sozial entspannte Gebiete mit Voids und Leerständen, die als Humus für Experimente und Start-Ups der Kreativwirtschaft genutzt werden konnten. Berlin ist sicher das beste Beispiel dafür, wie sich hier eine ganz eigene Urbanität entwickeln konnte, die weltweit für die Attraktivität der Stadt steht und die jetzt zusehends verdrängt wird. Mit der Mittelschicht ist eben auch die Spekulation wieder eingezogen. An diesen Kollateralschäden der Reurbanisierung wird sich eine neue Generation von Architekten abarbeiten – und Gegenmodelle zur Gentrifizierung oder gemilderte Strategien einer „Gentle Gentrification“4 ent­wickeln müssen, denn ganz ohne Aufwertung wird sich auf Dauer keine Stadt entwickeln lassen.
Wohnungsmarktanalysen neueren Typs befassen sich nicht nur mit Zahlen. Sie basieren in der Regel auf der Untersuchung von unterschiedlichen Wohn- und Lebensstilgruppen. Bei einer Befragung von 30.000 Haushalten in Bremen beispielsweise konnte nicht nur der Bedarf von 14.000 Wohnungen nachgewiesen werden, es wurden auch zehn Wohnstilgruppen und deren qualitative Nachfrage identifiziert.5 Kennt man die Sozialdaten und die Siedlungstypologie von Quartieren lässt sich aus der Studie ableiten, welche Gruppen in welchen Größenordnungen in welche Lagen drängen. Das ist eine zweischneidige Sache, denn in der Praxis nutzen auch Investoren die Daten um herauszufinden, in welchen Lagen die höchsten Margen für zahlungskräftige Kundschaft zu realisieren sind. Mit einem solchen Gentrifizierungsbarometer könnten Stadt und Wohnungsmarkt aber auch vorausschauend entwickelt werden. Dazu müssten aber die Immobilienbehörden von Bund, Stadt und Land nicht länger als Nachlassverwalter des öffentlichen Tafelsilbers betrachtet werden, sondern als das, was sie sind: Schlüsselstellen der Stadtentwicklung. Gerade dort sollten die besten Köpfe sitzen, Stadtentwickler mit immobilienwirtschaftlichem Sachverstand, die strategische Flächen und Immobilien in zukünftigen Gentrifizierungslagen sichten und vor dem Verkauf die richtigen Programme einschreiben oder Flächen für die öffentliche Hand ankaufen und sichern. Das muss im Übrigen nicht teuer sein. Seit Jane Jacobs gehören Gebäude verschiedenen Alters und Zustands zu den Voraussetzungen für die Mannigfaltigkeit eines Quartiers. Es ist also in jedem Fall von Vorteil, wenn Teile des kommunalen Wohnungsbestands nicht runderneuert werden, sondern als teilsanierte Wohnungen eine soziale Reserve bieten, die zudem durch geringere Investitionen den kommunalen Geldbeutel schont.
Die sensible Zone
Nimmt man die Spur der kritischen Rekonstruktion als Wegbereiterin der Reurbanisierung nochmals auf, findet man nicht nur das städtebauliche Paradigma von Hof, Block, Straße und Platz, sondern dahinter die Kritik an der Uniformität des sozialen Wohnungsbaus und den immer gleichen, staatlich festgelegten Grundrissen für die Einheitsfamilie, die es nie gab. Die Forderung nach mehr Individualität steht heute noch viel deutlicher im Raum als vor drei Jahrzehnten. Sie mit Individualisierung zu beantworten, war vielleicht der größte Fehler, der gemacht wurde. Was wir heute benötigen, sind neutrale Grundrissprogramme, die das Wohnen als Wandel begreifen. Ein zweiter Aspekt, den wir aus der zurückliegenden Debatte mitnehmen müssen, ist das Für und Wider von Siedlung und Stadt. Damit ist der zentrale Streitpunkt benannt, die Programmierung des Erdgeschosses: Soll die Schnittstelle zum öffentlichen Raum dem Wohnen vorbehalten bleiben und das ganze Haus als Monostruktur zu einem ruhigen Leben im Grünen beitragen, oder soll das Erdgeschoss eine kleinteilige, kommerzielle Zone bilden, die den sozialen Austausch befördert und den darüber liegenden Wohnkorpus im städtischen Leben verankert? Kaum jemand würde Letzteres heute verneinen, obwohl dies ein Reflex ist, der dem urbanen Alltag nicht Stand hält. Der Wandel im Einzelhandel durch Konzentra­tionsprozesse und E-Commerce ist so dramatisch, dass das klassische Ladenlokal außerhalb zen­traler Lagen heute die Ausnahme ist. Dienstleister wie Sonnenstudios, Architekturbüros und Designerläden haben die Ladenzonen längst übernommen, und immer häufiger zieht wegen steigender Wohnungsmieten auch das Wohnen dort ein, sublim, hinter transluzenten Folien. Besonders bitter ist dies bei neuen Geschosswohnungsbauten in zentralen Lagen, wo die Mieter ihre französischen Fenster mit Buchsbaumhecke und heruntergelassenen Jalousien gegen den Bürgersteig verteidigen. Den Investoren scheint dies einerlei, ein üppiges Hochparterre hat sich selbst in der Gründerzeit nur in besonders guten Lagen gerechnet.
Ebenso hat sich im Gebrauch der Großwohnsiedlungen gezeigt, dass sich das Erdgeschoss schlecht zum Wohnen eignet. Zu sehr ist man den Blicken der Anderen ausgesetzt, und zu wenig kann man von der Qualität des Geschosswohnungsbaus profitieren, von der Höhe und vom weiten Blick. Bei Sanierungen werden den Erdgeschosswohnungen deshalb oft indi­viduelle Mietergärten vorgelagert. Das macht diese Wohnungen wieder attraktiv, entwurzelt aber die Häuser vom Kontext der Nachbarschaft und höhlt die öffentliche Sphäre einer Siedlung aus. Die sensible Zone des Erdgeschosses scheint deshalb für die gerade anlaufende Nachverdichtung zu einem strategischen Baustein der Stadtentwicklung zu werden, im Neubau wie im Bestandssegment. Und dies nicht nur in den Innenstadtlagen, sondern auch in zentral gelegenen Großwohnsiedlungen, die immer stärker in den Fokus rücken.
Urbaner Konjunktiv
Zwischennutzung und die Praktiken von Raumpionieren wurden lange in ihrer Bedeutung für die Stadtentwicklung unterschätzt, dabei hat gerade diese neue Form der Urbanität maß­geb­lich als Attraktor auf die Mittelschicht gewirkt und zur Renaissance der Stadt beigetragen. Es sind gerade die früheren Schmuddel­ecken und späteren Szeneviertel, in denen heute die höchsten Renditen auf dem Immobilienmarkt erzielt werden. Ottensen, Schanzenviertel, Prenzlauer Berg, Schwabing und Haidhausen stehen auch synonym für die Verwertungsspiralen in kleineren Großstädten wie beispielsweise dem „Viertel“ in Bremen. Nicht nur aus Gründen einer „Spatial Justice“ fragt sich, warum die Verdränger nicht auf einen Teil des Raumes verzichten können, auf einen Teil, der sich im städtischen Kontext ohnehin nicht zum Wohnen eignet: die Erdgeschosszone. Könnte man nicht diese wichtigen Bruchstücke der wiederentdeckten Kernstädte freihalten, als „Voids“ in neue Wohnungsprogramme einspeisen und einfach abwarten, was passiert? Könnte nicht der Konjunktiv, die Spekulation auf das Soziale und unerwartet Kommerzielle zum urbanen Faktor der Reurbanisierung werden?
Voids als Programm
Das Freihalten des Erdgeschosses war sowohl ein Hauptprogrammpunkt der Moderne als auch eine Hauptkritik an ihr. Das liegt in erster Linie an Le Corbusier und seinem undifferenzierten Stelzentick, der das freie Erdgeschoss lediglich als Blickfenster in die Landschaft, nicht aber als Raum sozialen Austauschs und der Aneignung begriff. Entgegen dieser orthodoxen Auffassung hat sich in der Nachkriegszeit mit der sogenannten Polykatoikia eine Wohnhaustypologie entwickelt, die als Grundbaustein der modernen griechischen Stadt gilt. Es handelt sich um eine Art gestapeltes „Domino-Haus“ mit frei ausbaubaren Grundrissen, einem Staffelgeschoss und einer wichtigen Besonderheit: Eine gesetzliche Verordnung von 1955 sah den Einbau einer Stoa, also einer Art Arkade, zwingend vor. Spä­ter wurde das Gesetz noch ausgedehnt und das gesamte Erdgeschoss als Teil des für die Öffentlichkeit nutzbaren Straßenraums definiert. Die weiche Ausformung des Übergangs vom Öffentlichen zum Privaten, die flexible und facettenreiche Nutzung des Erdgeschosses ist eine direkte Folge dieser Gesetzeslage, mit erstaun­lichen Hybriden. Der Polykatoikia an der Papadiamantopoulou Straße in Athen sieht man beispielsweise nicht an, dass sich im Inneren des Hauses ein Theatersaal und ein Tagungsraum befinden.
Auch in Singapur wird diese Zone anders interpretiert und ist unter der Bezeichnung „Void Deck“ seit je fester Bestandteil des staatlichen Wohnungsbaus. Es wird in Singapur auf vielfältige Weise in den Alltag einbezogen und von den verschiedenen Ethnien unterschiedlich genutzt: So dient es zum Spiel und ist Treffpunkt von Senioren, wird aber auch für Hochzeitsfeiern von Malaien und für Beerdigungs- oder Religionszeremonien chinesischer Bewohner genutzt. Damit kommt dem „Void Deck“ eine integrative Wirkung zu, es ist zugleich als verlängertes Wohnzimmer wie auch als Schnittstelle zum semi-öffentlichen Raum der Nachbarschaft definiert.
Sicher sind diese klimatisch begünstigten Aktivitäten nicht 1:1 auf unsere Verhältnisse zu übertragen. Es zeigt sich aber, dass nachbarschaftlich nachgefragte Nutzungen gut im Erdgeschoss aufgehoben sind und zur Belebung des Viertels beitragen. Auch unsere Gesellschaft im Umbruch, die sich immer stärker von der Bezugsgröße der Familie weg entwickelt, wird sich in Zukunft stärker mit dem nächst größeren Korn, der Nachbarschaft, befassen müssen. Die Bausteine dafür und ihre richtige Mischung zu finden, ist die Aufgabe. In den Erdgeschoss­zonen von neuen Wohnungsbauten könnte der räum­liche Schlüssel für dieses Experiment liegen. Sicher ist, dass es Angebote für die Überalterung und den Austausch der Generationen bedarf. Über die neue Nachfrage der Mittelschicht könnten aber auch wieder neue Mischnutzungen wie die Integration von kleineren Handwerksbetrieben gelingen, denn wer will schon wegen jedem Brett in den Speckgürtel fahren? Doppelverdiener mit Kindern benötigen Tagesmütter und diese Betreuungsräume. Kidsplaces und Lernstationen könnten dezentrale Gegenmodelle zur Ganztagsschule bilden. Und natürlich könnte das Flüchtige der temporären, zwischengenutzten Stadt in den Erdgeschossen ein neues Zuhause finden.
Voids im aktuellen Wohnungsbau
Jüngere soziale Wohnungsbauten in Frankreich, wie etwa die kleinen grünen Zwillingstürme von Hamonic + Masson, greifen die Thematik des offenen Erdgeschosses wieder auf. Die als Nachverdichtung eines bestehenden Wohnblocks im 12. Arrondissement von Paris konzipierten Wohnhäuser werden mittels V-Stützen in der terrassierten Landschaft des Wohnhofes verankert. Eingangssituation, Gemeinschaftseinrichtungen und die frei nutzbaren Flächen unter den Häusern liefern hier ein Angebot, das sich an die gesamte Nachbarschaft richtet. Auch in der Heidelberger Bahnstadt hat man das Problem der Erdgeschosszonen erkannt und versucht zumindest, über das Anheben der Raumhöhen flexibel zu bleiben, denn die angesprochenen nachbarschaftlichen Nutzungen werden sich nicht im Fassaden- und Raumkonzept von Wohnungen unterbringen lassen.
Programmatisch interessantere Ansätze findet man derzeit aber vorwiegend im Bereich des kleinteiligen Wohnens. Ein Beispiel dafür ist das Void House in Brüssel, das Gon Zifroni und POM-ARCHI in einer Lücke zwischen zwei Reihenhäusern älteren Datums schweben lassen. Das Holzhaus, das von der Gartenseite über eine Außentreppe erschlossen wird, zeigt sich im Inneren als komplett offenes System aus parallelen, in der Höhe versetzten Ebenen. Ohne Wände oder andere Raumteiler wird das Haus zu einem freien Grundriss in der Vertikalen. Dieses Programm der Offenheit wird im Erdgeschoss radikalisiert. Über zwei einfache, schwenkbare Tore kann das Haus grundverschiedene Haltungen vermitteln. Sind die Tore geschlossen, ist der Garten privat, sind sie geöffnet, wird er zum öffentlichen Raum. Was wäre, wenn solch ein Void House keine singuläre Erscheinung wäre, sondern eine städtebauliche Regel, übertragen auf den Geschosswohnungsbau? Es wäre ein neuer Nolli-Plan, dessen Öffentlichkeit zeitlich flexibel von den Bewohnern selbst bestimmt und programmiert werden könnte.

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