Bauwelt

Holland Strip Search

Text: Bego, Rebecca; Bystrykh, Janna; Koolhaas, Rem; Petermann, Stephan; Westcott, James

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Holland Strip Search

Text: Bego, Rebecca; Bystrykh, Janna; Koolhaas, Rem; Petermann, Stephan; Westcott, James

An der Oberfläche mag das Land zum Teil noch idyllisch aussehen. Das vertraute Bild von traditionellen Bauernhöfen und historischen Dorfkernen hat aber so gut wie nichts mehr mit dem zu tun, was sich in den Gebäuden tatsächlich abspielt. Doch wenn hier kaum jemand noch von der Landwirtschaft lebt – wovon dann? Rem Koolhaas’ Forschungsgruppe AMO hat nachgefragt. Eine Inventarisierung des ländlichen Raums.
In den sogenannten entwickelten Ländern leben lediglich zwei Prozent der Bevölkerung auf dem Land auch wirklich von der Landwirtschaft, sagt die FAO, die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen. Von den enormen Umwälzungen, die hier stattfinden, haben wir nur eine vage Vorstellung. Wir wollen sie überprüfen und nachsehen, was all diejenigen denn so treiben, die nicht von der Landwirtschaft leben. Nachdem wir im ersten Schritt unseres Unterfangens die Niederlande bei Google Earth abgesucht haben, entscheiden wir uns, einen Landstrich knapp 20 Kilometer nördlich von Amsterdam zu untersuchen – einen 12 x 3 Kilometer großen Streifen Holland, der in seiner Vielfalt alles einzuschließen scheint, was Holland ausmacht: die klassische Landschaft der Polder, die Bauernhöfe und Windmühlen – die Gegend ist berühmt für ihre Käsespezialitäten Stompetoren und Beemster – allerlei Dörfer, Altes und Neues. Hier also wird sich AMO an die Inventarisierung des ländlichen Raums machen.
Was wir am Ende dort finden werden sind blühende Landschaften eines Prototyps nicht-agrarischen, ländlichen Raums – eine neue Kategorie der Landnutzung, die die EU „The intermediate“, Zwischenprodukt, nennt. Das altbekannte Land hat sich verwandelt in Heimatmuseen, Kunstgalerien, „Orte der Stille“, Yoga Studios, Still-Center, nachgenutzte Bauernhöfe. Ein ordentlicher und gepflegter Ort – wo aber das, was man sieht, so gut wie nichts mit dem zu tun hat, was sich in den Gebäuden und überhaupt auf dem Lande abspielt.
Unser Streifen wird im Norden begrenzt von der Stad van de Zon („Sonnenstadt“), einer neuen, suburbanen Stadterweiterung im Nachhaltigkeitsmodus; im Süden von einer der Festungen der Verteidigungslinie „Stellung von Amsterdam“ (UNESCO-Weltkulturerbe); im Osten durch den Beemster-Polder, seit dem Jahr 2000 ebenfalls als Welterbe gelistet; und im Westen durch Weizen-, Kartoffel- und Rübenfelder. In der südlichen Mitte unseres Landstrichs liegt die Gemeinde De Rijp, früher eine Insel, bis sie durch die Eindeichungen des 17. Jahrhunderts ringsum mit Land umgeben und keine Insel mehr war. Innerhalb dieser abgesteckten Koordinaten gehen wir von Haus zu Haus und fragen die Menschen nach ihrem Beruf. Treffen wir niemanden an, was oft der Fall ist, versuchen wir anhand von Schildern und Beschriftungen herauszufinden, wie die Pseudo-Bauernhöfe heute genutzt werden. Beim Herumschnüffeln zwischen leeren Scheunen entdecken wir das unbekannte Intermedistan, das Land dazwischen …
Als wir die Fähre über den Nordhollandsch Kanaal nehmen, den Weg, auf dem auch Touristen in die Schutzzone des UNESCO-Weltkulturerbes eingeschleust werden, bemerkt der Fährmann, dass wir heute erst die achten oder neunten Passagiere seien. Es kommt uns vor, als würden wir ein riesiges Freilichtmuseum zur saison morte betreten (im holländischen „Sommer“ nutzen 500 Touristen täglich die Fähre). Angekommen auf unserem Streifen Land, steigen wir auf die Räder und fahren durch eine vollkommen aufgeräumt wirkende Landschaft, die uns das alte Sprichwort in Erinnerung bringt: „Der liebe Gott mag die Erde erschaffen haben, Holland aber haben die Niederländer gemacht“. Die niederländische Landschaft ist ein Kunstprodukt par excellence. Jahrhundertelange Eindeichung und fortwährende Rationalisierung in der Landwirtschaft schufen das Markenzeichen Hollands, die Polderlandschaft mit ihren rechteckigen Feldern und Äckern, umschlossen von kleinen Kanälen. Diese straffe Ordnung wird hier durch ein ineinandergreifendes System staatlicher Autoritäten auf mehreren Ebenen aufrechterhalten: die Gemeinde Graft-De Rijp, die Provinz Nord-Holland, die regionale Wasserwirtschaftsverwaltung, der niederländische Staat (mit dem Ministerium für Wirtschaft, Landwirtschaft und Innovation; dem Ministerium für Bildung, Kultur und Wissenschaft; dem Ministerium für Infrastruktur, Umwelt und Raumplanung), die Europäische Union (mit ihrer Verfügungsmacht über Subventionen und Quoten), und schließlich die eher sanfte, aber weitreichenden Macht der UNESCO, die dafür sorgt, dass das Umfeld der Welterbestätten möglichst authentisch und unverändert bleibt. Das flache Land in Holland ist alles andere als ein wildes Grenzland – und wenn es der Ursprung der Niederlande ist, dann wird es politisch auch ihre Zukunft bestimmen.
Unser Streifen Land erfährt zwei gleichzeitig stattfindende, sich aber widersprechende Wandlungen. Auf der einen Seite sind es die Bauern selbst, die sie bewirken: Alt und gelangweilt, durch eine allumfassende Automatisierung von den Mühen der Arbeit befreit, beginnen sie, zu diversifizieren, sie nehmen Zweit- und Drittberufe an, in einem dauernden Auf und Ab ganz wie die Bewegungen auf dem Aktienmarkt. Bauern sind heute: Band-Mitglieder, Hafenarbeiter („Mein Bauernhof ist mein Hobby, das allerdings ein bisschen ausufert“), Taubenzüchter, Restauratoren von Oldtimern, Verleiher von Festwagen für Blumenumzüge, Händler und Verpächter von Ackerland. Überall finden wir Werbung für ihre Websites, die ohne Umschweife Ross und Reiter nennen: Witte-bruidsduiven.nl (weiße Tauben für die Braut), haardthout.nl (Kaminholz), mandenmakerij.nl (Korbmacher); rust.nu (Entspannung sofort), rundervreugd.nl (Fleischeslust).
Der Zustrom der Städter bewirkt die zweite Veränderung. Von einer vermeintlichen Aura der Authentizität angelockt, wollen sie das Landleben kosten – das aber nicht nur durch die Automatisierung in der Landwirtschaft und die Diversifikation der Bauern, sondern auch durch den Städter selbst und seine urban geprägte, nach Luxus verlangende Präsenz längst erodiert ist. Gemeinsam formen die beiden unaufhaltsamen Trends diese Landschaft des Dazwischen, ein unverbindliches Territorium, auf dem sich alles Solide in Luft aufgelöst hat.
De Rijp mit seinen 6400 Einwohnern – in der Regel gutverdienende Pendler – ist der Archetyp des unberührten holländischen Dorfes. Trotzdem stellt die Tourismusinformation, die sich in der Ratswaage aus dem 17. Jahrhundert befindet, Fotos aus den 1950er und 60er Jahren aus, als De Rijp völlig heruntergekommen war. Durch die Eindeichung zweihundert Jahre zuvor war die Stadt von der ursprünglichen Quelle ihres Reichtums, dem Herings- und Walfang, abgeschnitten worden. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts fand sich ein Weg zu erneutem Wohlstand: als Folie für die Phantasien der Pendler und der UNESCO, beide gleichermaßen gierig auf ein authentisches Land-Erlebnis. De Rijp musste sich nur selbst zum Museum machen. Zu einem Mini-Venedig. Alle Geschäfte des täglichen Bedarfs sind an den Ortsrand gezogen, haben den historischen Stadtkern vollständig den Auswärtigen ausgeliefert. Jeder in De Rijn ist neu in der Stadt; die Grundstücksmaklerin, die Bedienung in der Kantine, das Personal der Kunstgalerie und des Heringsmuseums – keiner von ihnen stammt von hier.
Als wir der Maklerin erzählen, dass wir einen Hof kaufen wollen, der noch in Betrieb ist, und fragen, was denn im Angebot sei und wie viel es kosten solle, hebt sie konsterniert die Augenbrauen. Sie handele nur mit Bauernhäusern zu Wohnzwecken (von 300.000 bis 1,5 Millionen Euro). Ihre Klientel seien Amsterdamer, die das Haus eines Bauern bewohnen, aber nicht selbst Bauern sein wollen. Das meiste aus ihrem Angebot seien entweder historisierende Neubauten oder re­staurierte Bauernhöfe mit alten Eichendielen, Luxusküchen, Gästebad und Trampolin im Garten. Wir verstehen: Während die Gestalt einer funktionsfähigen, modernen Scheune von nichts anderem als einer auf die Spitze getriebenen Effizienz diktiert wird, muss der „Bauernhof“ zum Wohnen ganz einmalig und landestypisch sein, vor allem aber triefend vor anheimelnder Rustikalität.
Massentierhaltung im amerikanischen Maßstab hat die Niederlande noch nicht erfasst – zumindest nicht bei der Milchviehhaltung. Im größten derartige Unternehmen, auf das wir stoßen, sind die Leute so stolz darüber, wie hier mit den Tieren umgegangen wird, dass sie es „Cow Hotel“ nennen. Annie und Henk Kregel, die Eigentümer, sind längst Profis im Umgang mit der Presse und deswegen von unserem Erscheinen nicht allzu überrascht. Ihre 150 „Gäste“ – allesamt Holstein-Frieslands, der Welt wirtschaftlichste Milchproduzenten, die heute überall hin exportiert werden, aber ursprünglich hier beheimatet waren – werden von Maschinen gefüttert, gemolken, gesäubert und sogar gekratzt. Und sie ruhen auf Wasserbetten. Ohne Witz. Die Kregels haben 500.000 Euro investiert, um ihre Anlage auf den neusten Stand zu bringen, mit eigenem Labor, Tierklinik, Kälberstall. Sie wollen es in dreißig Jahren wieder eingespielt haben.
Wohlüberlegt haben wir unseren Streifen Land an der Stad van de Zon (Sonnenstadt) enden lassen; ihrer verführerischen Gestalt ist uns bei Google Earth sofort ins Auge gesprungen: eine quadratische Insel, keck diagonal gegen die umgebenden Polder verdreht – wie ein New Yorker Hochhaus, das sich um das Blockraster nicht schert – dafür aber in perfekter Nord-Süd Ausrichtung, jedenfalls vom himmlischen Standpunkt betrachtet. Künstlich angelegt inmitten eines schon künstlichen Sees, markiert Stad van de Zon, vom Architekten und Stadtplaner Ashok Balohtra entworfen und 2009 vollendet, die jüngste Phase niederländischer Landschaftsmanipulation und (sub-)urbaner Planung. Auf der Website der Stadt erklärt sie sich selbst zur „größten energieneutralen Kommune der Welt“, der Versuch, Masdar in Abu Dhabi schon im Vorhinein die Krone zu entreißen. Die Straßen haben so schöne Namen wie Evanaar (Äquator), Zonnevlam und Zonenstraal (Sonnenflamme und Sonnenstrahl) und als gleichsam herausgebrülles Selbstlob der eigenen CO2-neutralen Zukunft auch: Dijk van Kyoto. Gleichförmige Gebäude, dominiert von Solarpaneelen, verlieren sich in der Ferne. Wir sehen nur einen Menschen, der sich auf die Straße hinaus gewagt hat, und uns beschleicht der Gedanke, auf das Anwesen einer besonders traurigen Sekte geraten zu sein. 

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