Bauwelt

Geht wirklich alles?

Materialschau in Gelsenkirchen

Text: Escher, Gudrun, Xanten

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Foto: Claudia Dreysse

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Geht wirklich alles?

Materialschau in Gelsenkirchen

Text: Escher, Gudrun, Xanten

Eine Materialbibliothek will die Ausstellung in Gelsenkirchen nicht sein. Obwohl der Titel „Anything goes!“ behauptet, dass alles machbar sei, beschränkt sie sich auf solche Materialentwicklungen, die bereits an Gebäuden realisiert und auch schon publiziert wurden.
Im stadtbauraum des Europäischen Hauses für Stadtbaukultur sind Materialproben, Modelle und Prototypen zum Anfassen in mehreren Themeninseln ausgebreitet, vom Beton über Fasern und reagierende Materie bis zum lebenden Baustoff. Die Ausstellungsarchitektur mit Tischen aus über 1000 kleberfrei gesteckten Pappelementen (Martin Sinken, Köln) macht daraus einen Parcours durch eine ehemalige Lüftermaschinenhalle der Zeche Consolidation.
Der Dialog zwischen Bau-Idee und Material bewegt Architekten seit zweihundert Jahren, darauf verweisen Zitate im Eingangsbereich und der Einleitungstext zum „Katalog“, der sinniger Weise als Sammlung von Musterkarten daher kommt: vorne die Materialbeschreibung, hinten die Anwendung. Es werden die Hersteller aufgeführt und eine Checkliste von Eigenschaften, z.B. leicht, porös, belastbar – und nachhaltig. Unbeantwortet bleibt, warum Infra­leichtbeton „nachhaltig“ ist, transluzenter Beton jedoch nicht, dafür aber petrochemische Ethylen-Verbindungen, deren Herstellung viel Energie verbraucht. Die Membran über dem Greenpoint Stadion von Kapstadt ist aus einem solchen Material. Magere 25 Jahre Haltbarkeit werden garantiert, Ziegel und Holz schaffen locker das Zehnfache. 
Die vom „Museum für Architektur und Ingenieurkunst NRW“ M:AI erarbeitete Ausstellung wirft eine Menge Fragen auf, öffnet aber vor allem einem breiten Publikum ein sonst verschlossenes Fenster in die Welt einer Architektur jenseits marktgängiger Allerweltsbauten. Die Auswahl ist eher zufällig. Auf die Frage an Planer und Produzenten, wer denn was in Arbeit habe und präsentieren wolle oder dürfe, fiel das Echo erstaunlich zurückhaltend aus. Das tut der Vielfalt des gezeigten Spektrums keinen Abbruch, hier war nicht Wissenschaftlichkeit, sondern Anschaulichkeit das Maß der Dinge – auch wenn man ausdrücklich auf Jean-François Lyotard und die Pariser Ausstellung „Les immatériaux“ von 1985 verweist, die die Komplexität der Beziehungen zwischen dem immateriellen Denken und der Materialisierung thematisierte.
Dass die Systematik der 30 Katalogkarten sich nicht ganz erschließt, lässt ahnen, wie diffus das Thema ist, wenn man sich zwischen alle Stühle setzen will: hier die Materialforschung für Luft- und Raumfahrt sowie Automobilindustrie, für die Carbonfasern und vieles mehr entwickelt wurden, da Hochschulen, die mit immer kühneren Projekten um Anerkennung buhlen, dort entwerfende Architekten, die sich immer kühneren Visionen ihrer Auftraggeber gegenübersehen und irgendwo findet sich dann auch der gesamtgesellschaftliche Anspruch an einen respektvollen Umgang mit Ressourcen. So verdienstvoll, die Fragen überhaupt in einer Ausstellung aufgeworfen zu ha­ben, so fragwürdig der Schlusssatz der Pressemitteilung, der fast wie ein zukunftsfreudiges Manifest aus der Zeit um 1910 klingt, als schon einmal alles Denkbare in greifbare Nähe gerückt schien – eine schöne Illusion: „Vielleicht ist es erstmals in der Architekturgeschichte möglich, dass Baukörper, tragendes Skelett und Oberfläche keiner Einschränkung mehr durch das Material unterliegen – Anything goes!?!“

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